Nicol Ljubić «Ein Mensch brennt», dtv

Am 16. November 1977 übergoss sich der Lehrer Hartmut Gründler in Hamburg mit Benzin und zündete sich an. Fünf Tage später erlag er in einem Krankenhaus seinen Verbrennungen. Der damals 47jährige protestierte damit während des SPD-Bundesparteitages gegen «Falschinformationen» der SPD-Bundesregierung in Sachen Atompolitik.

Hartmut Gründlers Selbstverbrennung war der finale Protest einer ganzen Reihe mehr oder weniger spektakulärer Aktionen. Wegen Meinungsverschiedenheiten vom «Bund für Umweltschutz» ausgeschlossen, gründete der Unbeugsame den «Arbeitskreis Lebensschutz – Gewaltfreie Aktion im Umweltschutz e. V.“ und verbiss sich vor allem in den Kampf gegen Atomkraft.

Journalist und Schriftsteller Nicol Ljubić erzählt in seinem neusten Roman «Ein Mensch brennt» nicht einfach die Biografie eines kompromisslosen Weltverbesserers. Nicol Ljubić interessiert, was Hartmut Gründler mit seinem Tun auslöste. Nicht so sehr die Auswirkungen auf die Politik, die sich weder durch Hungerstreik noch Selbstverbrennung beirren liess, sondern auf jener seiner unmittelbaren Umgebung. Und damit auf die Familie Kelstenberg, Vater, Mutter und Sohn Hanno. Hartmut Gründlers Feuertod in Hamburg ist Brandbeschleuniger im ehelichen Schwelbrand in Hannos Familie in Tübingen. Das Buch ist Hannos Rückschau nach 37 Jahren, Jahre nach dem Tod seiner Mutter und etlicher Kisten, Ordner und Dateien über den Kampf gegen die scheinbare Ignoranz der Regierenden. Kurz vor ihrem Tod war Marta, Hannos mittlerweile über 70 gewordene Mutter, wohl die einzige, die die Atomkatastrophe in Fukushima zufrieden machte. «Er hatte es gewusst! Hartmut hatte es gewusst!» Und weil seine Mutter im Spitalbett kurz vor ihrem Tod Hanno bat, alles zu tun, damit sich ein Journalist fände, der die Geschichte von Hartmut zu einem Buch macht, ihm, dem Kämpfer seinen Platz im Haus der Geschichte gibt, macht sich Hanno ans Schreiben.

Selbst nach drei Jahrzehnten schwebt noch immer der Alp dieses Mannes und seines Endes über der Familie der Kerstenbergers. Monate nach Hartmuts Selbstverbrennung starb Hannos Vater an einem Autounfall und Hannos Mutter Marta begann in Berlin nach der einen Katastrophe und der Trennung von ihrem Mann eine neue Existenz. Eine Existenz im Schweif des Kometen, noch immer erfüllt von Hartmuts Kampf gegen Windmühlen. Bei Familie Kerstenberg gibt es drei verschiedene Zeitrechnungen, jene vor und jene nach Hartmut und noch jene kurze Zeit, in der Hartmut Gründler, der unbeirrbare Politkämpfer, Mieter im Untergeschoss ihres Hauses war.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist nicht der Kampf und die Selbstzerstörung des heute vergessenen Kämpfers. Vielmehr die Zerstörung, die dieser in Hannos Familie anrichtet. Hartmut Gründler war nicht der Grund, dass die Familie auseinanderbrach, aber ein Katalysator. Marta, Hannos Mutter, spürte im umtriebigen, fast mönchischen Wesen ihres Mieters im Untergeschoss etwas von der Kraft und offensichtlichen Leidenschaft, die ihr bislang nicht nur im Umgang mit ihrem Mann fehlte. Mit Hartmut lehnte sie sich auf gegen die zementierten Strukturen ihres eigenen Lebens. Marta selbst war keine emanzipierte Frau, emanzipierte sich aber im Sog ihres Propheten. Hanno weiss über drei Jahrzehnte später, was Hartmut anrichtete, nicht bloss in der Ehe seiner Eltern, in der Hartmut unvereinbare Ein- und Ansichten aufeinanderprallen liess. Marta machte Hanno zu ihrem Verbündeten, schleppte ihn mit an Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen und schlussendlich gar ins Spital, wo Hartmut Gründler entstellt und schwarz verkohlt auf sein Ende wartete. Hanno war zehn, als man ihn ungefragt zu instrumentalisieren begann, als er zwischen die Fronten geriet, Dinge zu verstehen hatte, die ihm niemand verständlich machen konnte.

Wie so oft eine Geschichte «im Konjunktiv». Was wohl passiert wäre, was aus der Familie, aus ihm geworden wäre, hätte Hartmut Gründler damals nicht an der Tür ihres Hauses um eine Bleibe gefragt. Hätte er ein anderes Zuhause gefunden, bei einer anderen Familie. «Ein Mensch brennt» ist ungemein vielschichtig und thematisch hoch aktuell. Ein Roman über einen Radikalen, der als Sprachwissenschaftler den Kampf mit dem Wort führen will, gewaltfrei. Aber kaum jemand hört ihn. Und ausgerechnet er, der sich Gandhi zum Vorbild nahm, tötete sich selbst mit grösstmöglicher Gewalt. Ein Familien- und Gesellschaftsroman, der erzählt, wie sich in den 80ern eine Frau von ihrem Mann zu emanzipieren versucht, eine Frau die Überzeugung gewinnt, dass sich Kochen und Weltretten nicht vertragen. Über die 80er in Deutschland, als Othmar Hitzfeld noch selber Tore schoss, auch einmal sechs in einer Partie, die SPD noch unbeirrt an der Atomkraft festhielt und Autofahren ein Lebensgefühl war.

Nicol Ljubić erzählt genau, liess sich von Geschichten und Geschichte inspirieren. Vor allem von Hannos Zerrissenheit zwischen Vater und Mutter, einer bröckelnden Gegenwart und der Sehnsucht nach dem Damals, der Zeit v. Har., bevor Hartmut anklopfte. Ein Roman, der mir in die Knochen fuhr, bewusst machte, wie schnell Gegenwart Vergangenheit vergisst und Kampf Kollateralschäden verursacht, der der Kämpfer gar nicht beabsichtigt. Nichts ist verrückter als die Realität!

Nicol Ljubić, 1971 in Zagreb geboren, wuchs in Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland auf. Er studierte Politikwissenschaften und arbeitet als freier Journalist und Autor. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis. Für seinen zweiten Roman, «Meeresstille» (besprochen auf Literaturblatt XIII), erhielt er 2011 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis sowie den Ver.di-Literaturpreis, zudem stand der Roman auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien der Roman «Als wäre es Liebe». In den Jahren 2014 und 2016 war er Mitinitiator der Europäischen Schriftstellerkonferenz. Nicol Ljubić lebt in Berlin.

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Titelfoto: Sandra Kottonau