Das 31. Literaturblatt ist gezeichnet und geschrieben!

Sechs Mal jedes Jahr zeichne und schreibe ich mit Kugelschreiber auf A4 ein Literaturblatt, auf dem ich vier besondere Bücher vorstelle, Bücher und Schreibende, die es mir angetan haben, deren Bücher es wert sind, noch viel öfter Leserinnen und Leser zu finden.
Ich bin kein Kritiker, sondern Bücherfreund. Über Bücher, die mir nicht gefallen, zu denen ich keinen Zugang finde, schweige ich. Aber Bücher, die es mir antun, die es verdienen, im Nirwana der Neuerscheinungen einen Ehrenplatz zu bekommen, die stelle ich vor, nicht zuletzt in der Hoffnung, damit Reaktionen auszulösen.
Ich verschicke die kopierten Literaturblätter an ca. 250 Leseinteressierte im deutschsprachigen Raum, mit Umschlag und Briefmarke und einem persönlichen Gruss. Dafür, dass dies nicht ohne Aufwand geht, werden ich von den «Freunden der Literaturblätter» belohnt, mit Geld, das wiederum der Literatur zu Gute kommt. Den «Freunden der Literaturblätter» sei dies gedankt. Und allen anderen, die es werden wollen; man kann die Literaturblätter abonnieren.

Roland Schimmelpfennig «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», S. Fischer

Es ist eiskalt und von Osten kommend streift ein einsamer Wolf durch das verschneite Berlin. Was beinahe wie eine postapokalyptische Kulisse erscheint, ist in Roland Schimmelpfennigs erstem Roman die Spur durch seine Geschichten, vorbei an Einsamen in einer kalten Stadt, Verlorenen, die genauso wie der Wolf orientierungs- und ziellos durch die Stadt mäandern.
Tomasz, ein junger Pole, der in Baugruppen Häuser aushöhlt, zerfressen von Panikattacken und einer wilden Angst vor Einsamkeit. Seine Freundin Agnieszka, die täglich zwölf Stunden in fremden Häusern putzt und an den Wochenenden in Parties abtaucht. Ein greises Ehepaar, das sich weigert aus einem der Abbruchhäuser zu ziehen und ohne richtige Heizung, Strom und fliessendes Wasser mitten in der Stadt vom Puls abgeschnitten ist. Elisabeth, ein Mädchen, das geschlagen mit ihrem Freund Micha abhaut, beide mit nichts ausser ihrer schwarzen Kluft, die sie beinahe unsichtbar macht. CharlyIMG_0048 und Jacky, die am Prenzlauer Berg aus einer ehemaligen Bäckerei einen Spätkauf machten. Jacky sieht in Charlys Augen diesen sonderbaren Blick, seit der Wolf seine Spuren im Schnee und in den Schlagzeilen lässt, dutzendfach getroffen, mit Blicken und Objektiven. Die Mutter des Mädchens, verzweifelt und unentschlossen, einmal eine gefeierte Künstlerin, jetzt bloss noch ein Schatten ihrer selbst. Ein alter Jäger, ein betrunkener Vater und die Volontärin bei der Zeitung, die von nichts weiss und über den Wolf schreiben soll… ein ganzer Reigen Alleine-Gelassener.

Roland Schimmelpfennig macht in seinem ersten Roman, nach unzähligen Theaterstücken, die frostige Hauptstadt zur grossen Bühne. So einsam der Wolf, doch eigentlich ein Rudeltier, verloren die Nähe der Menschen sucht, schwärmt das Personal in seinem Roman auseinander. Der Autor beschreibt in seinem Roman Wirkungen und erzeugt suggestive Bilder. Roland Schimmelpfennig erklärt nicht, nimmt eine Spur auf und lässt sie wieder los.
Ein grossartiger Roman, eine ganz eigene Art des Erzählens. Und man darf den Titel, der auch der Beginn des erstens Satzes seines Romans ist, durchaus als Metapher verstehen. Der Wolf, ein Angsttier, schleicht durch die Stadt.

schimmelpfennigRoland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt.

Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», dtv

«Hatte man sich einmal entschieden, war es einfach. Isa würde weitergehen, allein. Sie würde gehen, bis jemand sie aufhielte. Aber niemand würde sie aufhalten, weil niemand glauben konnte, dass ihr kein Gesetz noch etwas galt, keine Ordnung, keine Moral, keine Liebe.»

Ist Lüge das Gegenteil von Wahrheit?
Um drei Personen spielt der neue Roman von Ursula Fricker. Zum einen Isa, die aus ihrem Leben kippt, mit den Eltern bricht und einer wohlgefügten Vergangenheit, in der sie strebsam in die Zukunft zielte. Sie lässt ihr Studium sausen und taucht ab in eine parolenverseuchte Anarchie, eine Welt, die in allem und jedem den Feind wittert. Alles ist Lüge, die Welt aus den Fugen geraten. Isa radikalisiert sich immer mehr, igelt sich ein und steuert wie ein Komet unaufhaltsam der Katastrophe zu. Nichts und niemand erreicht sie noch. Kompromisslos, von einer Idee paralysiert, deutet sie hinter jeder Geste Ablasshändel und Kapitulation.
Zweiter Protagonist ist Innensenator Otten, alleine gelassen von Politik und seiner Berufung, verunsichert im Leben mit seiner Frau, die mit den radikalen Angriffen auf ihren Mann den Boden unter den Füssen verliert, erst recht, nachdem ein Bombenanschlag, der wohl unblutig hätte enden sollen, einer Unbeteiligten die Hand zerfetzt. Ottens Selbstverständnis schmilzt genauso wie seine Selbstsicherheit, die ihn nicht mehr zu schützen vermag vor dem um sich greifenden Chaos. Ein Chaos, das sich in einem besetzten Fabriksgelände zuspitzt, dem Ort wo sich die Radikalen hinter Flüchtlingen verstecken.
Dritte ist Beba, die der Armut und Aussichtslosigkeit ihrer Heimat entfloh und im Paradies vergessen als Prostituierte weiter träumt. Verfolgt von schlimmen Träumen aus der Kindheit und der Unmöglichkeit anzukommen oder zurückzukehren, sind Klavierstunden das einzige, das einen Weg aus dem Elend verspricht, denn dort ist sie zuhause, beschenkt mit einem besonderen Talent, erst recht, als sie mit ihrem Spiel auch Publikum findet. Ein Publikum, das nicht nur die Hure sieht. Sie, die alles verlor, auch ihren Onkel Koni, den einzigen, der ihrer Verwirrung Sicherheit gab und eines Tages im Stall an einem Balken hing, lernt Elias kennen, einen Trompeter. Plötzlich ist da ein Mann, der ihre Sprache versteht, mit dem Zukunft möglich wäre.
Aber überall, gestern und heute, wirkt das Gift der Lüge. Ursula Fricker erzählt, wie sich über Innensenator Otten die Schwere der Gegenwart zutut und ihn zu erdrücken beginnt. Die Begegnung mit der aufstrebenden Pianistin Beba wird das einzige, dass zu leuchten vermag, nicht mit Schwere verklebt ist. Alle drei, Isa, Otten und Beba verlieren den Halt in der Welt, kämpfen um ihren Schwerpunkt, wie ein Planetensystem, dessen Gravitation durcheinander geraten ist und alles zu trudeln beginnt. Die Autorin spinnt ein dichtes Netz, gräbt Schichten frei, die mich immer tiefer blicken lassen, eine Geschichte, die nicht kalt lässt und mit keinem Satz verklärt. Ursula Fricker meisselt mit Sätzen. Und was bleibt, gräbt sich tief. Die Autorin gewinnt erstaunliche Nähe zu Geschichten, Stimmungen und Gedanken ihrer Protagonisten, ohne den Respekt vor ihnen zu verlieren. Intelligent und engagiert erzählt, packend und spannend.

236_320_Ursula_Fricker_2053Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Neben journalistischen Texten veröffentlichte sie bislang drei Romane. Ihr Debütroman «Fliehende Wasser» erschien 2004 und wurde mit dem Einzelwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung und mit einem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Es folgten beim Rotpunktverlag 2009 ‹Das letzte Bild» und 2012 ‹Außer sich›, nominiert für den Schweizer Buchpreis im selben Jahr.

Ursula Fricker unterhält sich an den Solothurner Literaturtagen 2016 mit der DRS-Bücherfrau Luzia Stettler. Zum Nachhören!

Ursula Fricker liest am 17. September anlässlich der Brugger Literaturtage um 16.15 Uhr im Rathaussaal Brugg. Zum Programm!

 

Monika Maron «Krähengekrächz», S. Fischer

«Inzwischen sehe ich den Menschen als Sonderfall der grossen Tierfamilie und kann mich nicht einmal entscheiden, ob die menschliche Besonderheit eher ein Glück oder ein Unglück ist.»

Durch die Arbeit an einem Roman macht sich Monika Maron daran, der Krähe näherzukommen, dem Tier, dem der Mensch mit einer ganz speziellen Mischung aus Faszination und Aberglaube gegenübertritt. Wie kein anderes Tier war der Rabe Orakel, Götterbote, Gott und Weltenschöpfer, Begleiter des Bösen, Inbegriff dafür, wie sehr sich der Mensch in seiner Unkenntnis mit Angst zu schützen versucht. Aber je näher sich die Autorin mit dem Wesen der Tiere vertraut macht, ihre Nähe sucht, umso mehr spricht Achtung aus ihrem Text, wie stets, wenn Erkenntnis die Beobachtung krönt. So auch, wenn sich die Autorin jener mehr als zwielichtigen Furcht vor einem Tier nähert, die den Menschen selber entblösst: «Ich sehe den Krähen zu, wie sie friedlich aufpicken, was ich ihnen hinwerfe, sich manchmal auch streiten und einander verjagen, und denke, dass sie einem klügeren Gesetz folgen als wir. Wenn wir unmenschlich sagen, meinen wir das Tierhafte, als wären nicht wir die Mörder, Krieger und Folterer. Das Böse ist menschlich. Nicht das Tier in uns mordet, es ist der Mensch.»
In dem schmalen Büchlein, mit dem man sich an einem Abend vertiefen kann, ohne dass der schwarze Vogel einem in den Schlaf begleitet, schildert die Autorin den Weg zu einem Tier, dessen Augen einem nicht betören und kein Fell zum Kraulen lockt, dass den Menschen aber ganz offensichtlich nicht in Ruhe lässt, in einer Gegenwart, in der man Krähen noch immer abschiesst und gleichzeitig ebenso viel Scharfsinn zuspricht wie den Primaten.

«Vielleicht liegt es am Alter, am allmählichen Verfall und dem nahenden Sterben, das mich das Tier im Menschen so deutlich erkennen lässt.»
Leale 2Und wer noch mehr über Krähen lesen will:
Von Cord Riechelmann «Krähen», Matthes & Seitz, Naturkunden

Literatur im Bienenhaus

So schön kann ein Gespräch über Literatur werden! An einem lauschigen Sommerabend in einem ehemaligen Bienenhäuschen mitten in den sanften Hügeln des Thurgaus, auch wenn das Gespräch über ein Buch zuweilen etwas schärfer werden kann. Meinungen über Qualitäten können weit auseinander driften!2016-05-28-PHOTO-00000153

IMG_0393

Wer aber auch einmal ein paar Stunden an diesem überaus friedlichen Ort verbringen möchte, werfe einen Blick auf die Webseite der Familie Langenegger, die diesen paradiesischen Ort bewirtschaftet.

Ein Rückblick in 3 Teilen: Sonntag, Teil 3

Vor einem Jahr an den 37. Literaturtagen in Solothurn wurde einer meiner Literaturzirkel zu «Lesezirkel zu Gast» eingeladen. Zusammen mit Martin R. Dean sprachen wir im Palais Besenval über sein Buch «Verbeugung vor Spiesa_palais_lesezirkel_martindean-1_10x15_lightboxgeln». Eine denkwürdige Veranstaltung, ein Gefäss aber, dass trotz Bedauern keinen Platz mehr im neuen Programm fand. Obwohl ich Lesungen schätze, verraten Gespräche viel mehr, sowohl über das Buch wie über Autorinnen und Autoren, erst recht dann, wenn die Beteiligten zur Konfrontation bereit sind.

Im Programm stand; ‹Lukas Bärfuss SRF Live Sendung 52 Beste Bücher›. Aber weil der Wallstein Verlag mich mit Lukas Bärfuss neustem Buch «Hagard» auf  «Später» vertrösten musste, liess ich mich gerne von Charles Lewinsky verführen. Charles Lewinsky ist zwar kein Enfant terrible der Schweizer Literatur, aber wie in der Cantino del vino bewiesen durchaus bissig.

Charles Lewinsky lernte sein Schreiben durchs Schreiben. Er mache keinen Unterschied zwischen E und U, ernster und unterhaltender Literatur. Ein Text müsse bloss gut geschrieben sein, seine ganz eigene Form gefunden haben. Lewinsky mag es nicht, wenn Bücher «schwitzen», wenn man ihnen anmerkt, wie schwierig es sein muss, über schwierige Themen zu schreiben. Und seine Geschichte ist «schwierig». Charles Lewinskys neuster Roman «Andersen» Lewinsky_IchbinAndersen_P06DEF.indderzählt die Geschichte eines Folterchefs, dem die Fähigkeit zur Empathie gänzlich fehlt. Ein Fehlen, dass diesen zum Meister macht. Andersen ist Geburtshelfer der Wahrheit, weil die Wahrheit stets Last ist, die man mit sich herumträgt und doch viel lieber los sein will. Es sei viel interessanter, eine Figur zu erfinden, die weit von ihm entfernt sei. Der Roman wurde zu einer Versuchsanordnung mit der Frage: Wenn es frühere Leben gibt, was wäre, wenn man sich an sie erinnern würde? Das Böse aus der Geisterbahnperspektive ist interessanter als das Gute. (Der verschmitzt, verschwörerische Blick zu seiner Frau, während der Schauspieler Michael Neuenschwander Passagen aus seinem Roman liest.) Lewinsky spielt mit Bildern, mit dem Schauer des Bösen. «Ganz im Gegensatz zu allen anderen Büchern, die ich schrieb, war die  Figur dieses Romans mit einem Mal da und zwang mich zu schreiben. Und mit dem Schreiben entwickelte sich die Geschichte, die keine Botschaft haben muss, beim Leser aber etwas auslösen soll. Was, das kann ich nicht bestimmen, nur hoffen, das es passiert.»
Eine Live Sendung – ein spannendes Gefäss. Ein reibendes Gespräch mit Charles Lewinsky, der der Bücher- und Radiofrau Luzia Stettler unter allen Umständen das Gesprächsruder entreissen will, um nicht zu viel von der Geschichte zu verraten. Für mich als Zuhörer Hochgenuss. (Zur Sendung)

Fazit der Literaturtage in Solothurn: Literatur im besten Licht, nicht nur wegen der Wetterlage. Ganz langsam verabschiedet sich der Traditionsanlass von seinem etwas antiquierten Äusseren.  Noch mehr Mut täte gut. Das Lifting bewirkte einiges, wenn auch die eine oder andere Moderatorin sich in ihrem Erscheinen davon zu distanzieren schien. Solothurn war eine gute Mischung zwischen Festival der jungen Frauen und Huldigung grosser Namen. Ich  freue mich auf die 39!

Hans-Ulrich Treichel «Tagesanbruch», Suhrkamp

«Wir haben es beide gespürt und nie darüber gesprochen. Weder damals noch später. Man kann nicht alles aussprechen. Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.»

Die Pietà – eine Mutter hält ihren sterbenden oder toten Sohn in ihren Armen, Sinnbild dafür, dass Muttersein auch mit dem Tod von Töchtern und Söhnen nicht endet. Die latente Angst und Sorge aller Eltern, dass die Nachgeborenen zuerst sterben könnten. Die Mutter entlässt ihren toten Sohn aus ihren Armen, bettet ihn in seinem Zimmer, das er krank geworden wieder zu dem seinigen machte. Die Mutter entlässt aber nicht nur ihren Sohn, sondern mit ihm eine Geschichte und den letzten Rest Familie, jene Geschichte, über die man nicht spricht, nicht mit dem Mann, schon gar nicht mit dem Sohn. Während die Mutter neben ihrem toten Sohn auf den Morgen wartet, schreibt sie auf, was nie ausgesprochen werden konnte, was sie über Jahrzehnte verborgen als Urschmerz mit sich herumtrug. Ihr Mann, als er noch lebte ein Versehrter ohne rechten Arm, der mit Hilfe seine Frau der Behinderung trotzte und sie, die ihre Versehrtheit aus dem grossen Krieg verschlossen mit sich herumtrug, sprachen niemals aus, was sie wohl zusammenschweisste aber füreinander verloren und fremd werden liess. Hans-Ulrich Treichels Erzählung sind Bilder aus dem Leben einer Frau, die mit einer ganzen Kette von «wäre» und «hätte» an ein unfreiwillig gelebtes Leben gebunden war. Da blickt eine Generation auf die nächste, eine Mutter auf das Leben ihres Sohnes, um festzustellen, dass sich die Welt unbemerkt weiterdrehte.
«Zwei Beschämte, die nicht mehr zueinanderfanden und auch durch das gemeinsame Kind nicht erlöst werden sollten, weil es vielleicht gar kein gemeinsames war.»

Treichel_Hans_Ulrich_2013sw187_c_HeikeSteinweg_SVHans-Ulrich Treichels Romane und Erzählungen beschäftigen sich alle unspektakulär mit Verlust und Verlorenheit. Nichts desto trotz sind sie ein Weckruf zur Offenheit, ein Mahnmal für Ehrlichkeit und Offenheit, genau jene Eigenschaften, die unsere Gesellschaft in Zukunft noch viel dringender brauchen wird.
Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Seit 1995 ist Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt und erschienen fast alle bei Suhrkamp.

Ein Rückblick in 3 Teilen: Samstag, Teil 2

Mit Sicherheit lockte das Wetter, aber auch das Programm, dass mit grossen Namen warb. Einer kam nicht, der Norweger Tomas Espedal. «So einen wunderbar unaufgeregten Liebesroman wie Tomas Espedals Wider die Natur hat es noch nie gegeben», meinte Iris Radisch. Dafür verzauberten Judith Kuckart, Urs Jeggi, Adolf Muschg und Feridun Zaimoglu.

Judith Kuckarts aktuelles Buch «Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück» ist weniger ein Roman als ein Netz aus Geschichten, dass sich mit dem Lesen zu einem Ganzen zusammenfügt, vielleicht ein Episodenroman. Das Glück ist gläsern, nicht zu halten, das Buch witzig und luftig geschrieben, nie verkrampft um Literatur bemüht, scheinbar locker erzählt. Die Geschichten sind ganz nah am Leben, an hell ausgeleuchteten Schauplätzen. Beim Schreiben sei ihr stets ein Zitat von Max Frisch vor Augen: «Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung.» Silvester verbringt der achtzeh5105dWTh2EL._SX326_BO1,204,203,200_njährige Leonhard allein im Haus seiner Eltern. Am Neujahrsmorgen kommt das Leben dann einfach zu ihm: Eine fremde Frau schläft auf dem Boden in der Diele. In der nächsten Nacht schläft Leonhard mit ihr im Gästezimmer. Emilie und Maria hingegen, beide über siebzig, sind unternehmungslustig, wenn auch den Ereignissen auf ihrer Reise in ein tschechisches Kurhotel nicht mehr ganz gewachsen. War es wirklich ein Klavierlehrer, der sie dorthin fuhr, und hat er tatsächlich betrunken die Nacht im Bett zwischen den alten Damen verbracht?

Am Nachmittag grosse Bühne für einen Grossen der Schweizer Literatur. Im Stadttheater von Solothurn sprach der Schriftsteller Christoph Keller mit dem 85 jährigen Schriftsteller, bildenden Künstler und Soziologen Urs Jaeggi, der in Solothurn aufgewachsen heute in Berlin und Mexiko-Stadt lebt. Die grosse Erwartung im Saal. Schon Minuten vor Beginn des Gesprächs herrschte andächtiges Geflüster. Furios und wild, geschrieben wie von  einem jungen Mann; Erinnerungen, Erfahrungen, Einsichten aus einer aus den Fugen geratenen Welt. Urs Jaeggi kehrt zurück nach Solothurn und erzählt vom Fremdsein. Es sind Versuche, Ordnung in eine «Durcheinandergesellschaft» zu bringen, auch wenn er selbst nicht wenig Freude an der Unordnung zugibt.

Und am Abend im grossen Saal «Autoren im Dialog». Adolf Muschg, auch einer der Grossen der Literatur, traf sich mit Feridun Zaimoglu, dem 52jährigen deutschen Schriftsteller, der ganz klein mit seinen Eltern von der Türkei nach Deutschland kam. Sie sassen sich zum ersten Mal face to face gegenüber, jeder hatte ein Buch des anderen gelesen. Doch der Dialog war nicht wirklich einer, denn Muschg dachte, Zaimoglu hätte sein aktuelles Buch gelesen. Dieser las aber den 2008 erschienenen Roman «Kinderhochzeit». Während die beiden nebeneinander sassen, blieb es ein Nebeneinander, auch wenn man erfuhr, dass beide Autoren ihre Bücher «wie eine alte Haut» ablegen, wenn sie einmal geschrieben sind. Trotzdem blieb ich als Zuhörer beeindruckt, sowohl vom Geist Adolf Muschgs wie auch vom Roman «Siebentürmeviertel» von Feridun Zaimoglu. Wolf weiß nicht, wie ihm geschieht. Nach dem Tod seiner Mutter hat er bei seinem Vater gelebt, muss mit ihm aber nach einer Warnung vor der Gestapo plötzlich Deutschland verlassen. Es ist das Jahr 1939, und Wolf findet sich in Istanbul wieder, in der Familie von Abdullah Bey, eines ehemaligen Arbeitskollegen seines Vaters. Das Siebentürmeviertel ist einer der schillerndsten Stadtteile der Metropole, in der Religionen und Ethnien in einem spannungsreichen Nebeneinander leben. Was als vorübergehende Maßnahme gedacht war, wird zu einer Dauerlösung, und Wolf muss sich zurechtfinden in diesem überwältigenden Kosmos. Er wird von Abdullah Bey an Sohnes statt angenommen, besucht die Schule und erobert sich seine Stellung unter den Jugendlichen des Viertels. Als er langsam zu begreifen beginnt, welche Rolle Abdullah Bey wirklich spielt, gerät er in große Gefahr.

Judith Kuckart «Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück»
Feridun Zaimoglu «Siebentürmeviertel»

 

Juli Zeh «Unterleuten», Lesung im Kaufleuten Zürich

Juli Zeh, in der Presse und von den LeserInnen gefeierte Autorin, las im Kaufleuten, wohl dem einzigen Ort in der Schweiz, der mit grossen Namen viele hundert Besucherinnen und Besucher zu einer einzigen Lesung locken kann. Ein Abend, an dem Buch und Autorin überzeugten und der Saal die Schriftstellerin mit langem Applaus belohnte.

Mag sein, dass gewisse Schriftstellerinnen oder Schriftsteller das Image der antiquierten Veranstaltung, mit Besserwisserei, divenhaftem Getue und schwer kultiviertem Feingeist noch immer zementieren. Aber es gibt auch die anderen, Autoren wie Wolf Haas, der mit Witz einen ganzen Saal durch 90 Minuten reissen kann, Catalin Dorian Flurescu, der als Geschichtenerzähler fabuliert und fasziniert oder eben Juli Zeh, die mit scharfer Zunge, klarem Blick und grosser Erzählgeste beeindrucken kann. Eine Lesung, die mir genau das bot, was ich mir wünsche; Einsichten, Unterhaltung, Gesprächsstoff, Zunder und Genuss.
Juli Zeh hat in ihrem neuen Roman «Unterleuten» ein Dorf erfunden, obwohl damit die Gefahr bestand, Leser und Leserinnen könnten sich erkennen, sowohl die Leser in dem Dorf, das ihr Anschauung lieferte und in dem sie seit ein paar Jahren unweit von Berlin wohnt, wie jenen hinter den Büchern, die sie als moderne Menschen entlarvt. Ein Dorf in Deutschland, in dem dieselbe Sprache gesprochen wird, in dem sich Nachbarn aber unendlich fern sind. Ein Dorf, dass zerrissen wird von Gegensätzen, Gegenteilen. Juli Zeh erzählt nicht nur eine Geschichte. Sie schreibt darüber, wie grundsätzlich verschieden Wahrheiten sein können. Gibt es etwas Objektives, etwas Wahres, das sich nicht teilen lässt? Juli Zeh vermied es gekonnt, eine Welt in Gut und Böse zu teilen. Nichts und niemand im Buch ist gut oder schlecht. So sind auch die Windräder, 610855_original_R_by_Erich_Westendarp_pixelio.dedie in diesem Roman gebaut werden sollen, für die einen Rettung, für die andern Mahnmale der Sinnlosigkeit in Beton, in den Städten geplant und in den Dörfern gebaut. Alle im Dorf geraten sich in die Haare, weil alle das Beste wollen, um jeden Preis. Der Mensch des 21. Jahrhunderts betrachte sich selbst als grenzenlos optimierbare Leistungsmasse. Man betrete nur eine Buchhandlung und betrachte, was verkauft werde. Entweder aus Angst auf der Flucht oder desillusioniert auf einen Punkt hinstolpernd. Dabei sei jeder Realist genug, dass es schnell an Hoffnung in die Zukunft fehlen müsste, weil Perspektiven verloren gegangen sind. Der Optimierungswahn mache verletzlich, weil er erschöpft, letztlich nicht von Erfolg gekrönt sein kann. «Burnout», Erschöpfung ist keine Krankheit, sondern eine Massenerscheinung, ein beinahe kollektives Phänomen, weil Gottesfurcht und Schicksalsglaube nicht mehr entlasten.
Juli Zeh las mit einem Lächeln auf den Lippen, lustvoll, in einer Geschichte, die 10 Jahre reifte, immer wieder liegen blieb, mit der sichtlichen Freude am «Herumfingern an fremder Unterwäsche».

Lesen und geniessen!

Organisiert und durchgeführt von Kaufleuten und Literaturhaus Zürich, moderiert von Gesa Schneider

Ich schenke dir ein signiertes Buch!

Die 4 Bücher, die auf dem 31. Literaturblatt besprochen werden, sind ausgesucht. Im Juni wird es den Abonnenten zugeschickt! 4 Frauen, 4 Schweizerinnen, 4 starke Geschichten. Wer Titel und Namen der 4 herausfindet, bekommt ein signiertes Buch per Post zugeschickt.

Erstaunlich, wie viele starke Frauen mit starken Geschichten! Nicht dass die schreibenden Männer nicht auch laut wären. Aber irgendwie drängte sich diese geballte Ladung Frauenpower auf.

Tipps zum Mitraten: Ein Buch lotet in die Tiefe, eines greift bis Afrika, eins hebt ganz ab und eines hat Heu zwischen den Seiten. Vier Bücher aus vier Schweizer Verlagen, vier Bücher, die es wert sind, auch über den Grenzen gelesen zu werden!

Wie heissen die vier Titel und die vier Autorinnen? Machen Sie mit und schreiben Sie mir! (Kontaktformular)
30. Blatt hochaufge.
das 30. Literaturblatt, wie immer von Hand auf A4 gezeichnet und geschrieben