Petra Ahne & Judith Schalansky «Wölfe», Matthes & Seitz

Wieder hat sich der Wolf in meine Bibliothek geschlichen. Vor ein paar Monaten war es der Wolf von Roland Schimmelpfennig in seinem Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts». Nun «Wölfe», ein spannendes Porträt einer falsch verstandenenen Kreatur.

So wie einst der Wolf vom Menschen als Feind, Bösewicht und Untier, als Verbündeter des Teufels und Nachtgestalt des Hexers vertrieben, getötet und ausgerottet wurde, findet er zurück in die Nachbarschaft des Menschen. Gab es schon um 1500 auf den Britischen Inseln keinen einzigen Wolf mehr und im restlichen Europa im Lauf des 19. Jahrhunderts fast keine mehr, traut sich das scheue Tier zurück, nach Deutschland, Österreich, bis in die dicht besiedelte Schweiz. Ein Tier, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts systematisch selbst von der Wissenschaft «verraten» wurde. 1875 schrieb der Naturforscher Friedrich von Tschudi: «Selbst unter den Raubthieren ist er eins der widerwärtigsten. Mit dem reissendsten img_0098wetteifert er an Heisshunger, der selbst dem schlechtesten Hasen gierig nachstellt, an Tücke, Perfidie, während er dabei keine Spur vom Edelmuth des Löwen, von der frischen Tapferkeit des Eisbärs, vom Humor des Landbärs, von der Anhänglichkeit des Hundes hat.» Aber so sehr man den Wolf damals mit den Charakterzügen des Menschen beschreibt, so sehr ist der Wolf auch heute Sinnbild einer menschlichen Sehnsucht. Einst die Angst verkörpernd, die Angst vor der Unberechenbarkeit der Natur, ist der Wolf heute «personifizierte» Sehnsucht nach unmittelbarer Nähe zur Natur. Der Wolf als Medium.

Petra Ahne zeichnet ein feines Portrait eines Tieres, das in vielem dem Menschen näher scheint als die Primaten. Umfangreich bebildert und im letzten Teil des Buches mit Portraits aller Wolfarten ergänzt, ist dieses Büchlein vieles, Reportage und Mahnmal zugleich.

Petra Ahne, geboren 1971 in München, studierte Komparatistik, Kunstgeschichte und Publizistik in Berlin und London. Sie ist Redakteurin der Seite 3 bei der Berliner Zeitung.

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Unbedingt lesen: «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» von Roland Schimmelpfennig, S. Fischer!

Roland Schimmelpfennig «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», S. Fischer

Es ist eiskalt und von Osten kommend streift ein einsamer Wolf durch das verschneite Berlin. Was beinahe wie eine postapokalyptische Kulisse erscheint, ist in Roland Schimmelpfennigs erstem Roman die Spur durch seine Geschichten, vorbei an Einsamen in einer kalten Stadt, Verlorenen, die genauso wie der Wolf orientierungs- und ziellos durch die Stadt mäandern.
Tomasz, ein junger Pole, der in Baugruppen Häuser aushöhlt, zerfressen von Panikattacken und einer wilden Angst vor Einsamkeit. Seine Freundin Agnieszka, die täglich zwölf Stunden in fremden Häusern putzt und an den Wochenenden in Parties abtaucht. Ein greises Ehepaar, das sich weigert aus einem der Abbruchhäuser zu ziehen und ohne richtige Heizung, Strom und fliessendes Wasser mitten in der Stadt vom Puls abgeschnitten ist. Elisabeth, ein Mädchen, das geschlagen mit ihrem Freund Micha abhaut, beide mit nichts ausser ihrer schwarzen Kluft, die sie beinahe unsichtbar macht. CharlyIMG_0048 und Jacky, die am Prenzlauer Berg aus einer ehemaligen Bäckerei einen Spätkauf machten. Jacky sieht in Charlys Augen diesen sonderbaren Blick, seit der Wolf seine Spuren im Schnee und in den Schlagzeilen lässt, dutzendfach getroffen, mit Blicken und Objektiven. Die Mutter des Mädchens, verzweifelt und unentschlossen, einmal eine gefeierte Künstlerin, jetzt bloss noch ein Schatten ihrer selbst. Ein alter Jäger, ein betrunkener Vater und die Volontärin bei der Zeitung, die von nichts weiss und über den Wolf schreiben soll… ein ganzer Reigen Alleine-Gelassener.

Roland Schimmelpfennig macht in seinem ersten Roman, nach unzähligen Theaterstücken, die frostige Hauptstadt zur grossen Bühne. So einsam der Wolf, doch eigentlich ein Rudeltier, verloren die Nähe der Menschen sucht, schwärmt das Personal in seinem Roman auseinander. Der Autor beschreibt in seinem Roman Wirkungen und erzeugt suggestive Bilder. Roland Schimmelpfennig erklärt nicht, nimmt eine Spur auf und lässt sie wieder los.
Ein grossartiger Roman, eine ganz eigene Art des Erzählens. Und man darf den Titel, der auch der Beginn des erstens Satzes seines Romans ist, durchaus als Metapher verstehen. Der Wolf, ein Angsttier, schleicht durch die Stadt.

schimmelpfennigRoland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt.