Das 32. Literaturblatt ist verschickt!

Es sind vier Titel, vier Bücher, zwei Autorinnen und zwei Autoren, denen ich mit grösstem Vergnügen jene Ganz spezielle Ehrerbietung entgegenbringe. Bücher, die es verdienen, hängen zu bleiben, nicht einfach in der Masse der Neuerscheinungen untergehen sollen. Bücher, die einen speziellen Platz in den Bücheregalen von Literaten verdienen.
Wenn ich dabei all jenen, die die Literaturblätter mit der Post zugeschickt bekommen, eine Freude bereite, freut mich das.

Philipp Blom «Bei Sturm am Meer», Zsolnay

«Marlene, meine Mutter, deine Grossmutter, ist in der Post verlorengegangen. Nicht, weil sie sich in einem riesigen Bürogebäude verlaufen hätte, nicht, weil sie alt und verwirrt war. Sie wurde nicht alt, und sie war ganz klar bis kurz vor ihrem Ende, als das Morphium ihr waches Bewusstsein trübte. Nein, als ordentliche und versicherte Postsendung ging sie verloren, ging die Urne mit der Asche verloren, die von ihr übrig geblieben war.»

Ben sitzt in einem Hotelzimmer in Amsterdam und schreibt einen Brief an seinen Sohn, der ihn aber erst in 44 Jahren öffnen und lesen soll, dann so alt wie er jetzt und vielleicht fähig, die Geschichte zu verstehen, in der Ben seinem Sohn sein Leben zu erklären versucht. Während Ben auf die Urne seiner Mutter wartet, blickt er zum einen zurück und zum andern katapultieren ihn ein Plakat eines nackten Mannes und die Treffen mit einer alten Frau, die ihm verschlossene Türen zu seiner Familie öffnen, aus der so vermeintlich fixen Umlaufbahn. Schon das, was er von seiner Familie wusste, war genug, um damit zu hadern: Grossmutter Elly, die nach dem Krieg als Deutsche nach Holland kam und dort als Deutsche nie heimisch, dafür geschnitten und belächelt wurde und sich mit Tio Pepe einen lebenslangen flüssigen Hausfreund zulegte, Blom_Bei Sturm am Meer 060416.inddden sie schon morgens in die Arme nahm. Seine Mutter Marlene, die ihren Namen hasste, weil er ein Programm sein sollte, der Beginn einer Karriere wie die der Dietrich. Mutter Marlene, die dann ausbrach und sich in der linken Szene Hamburgs Henk angelte, der dort in langen Nächten mit allerlei Wilden, darunter auch Ulrike Meinhof, sich in neue Sphären diskutierte und daraus irgendwann Nachwuchs wurde, er, Benedict, mittendrin. Bis sein Vater als Journalist während eines Auftrags für ein deutsches Nachrichtenmagazin im kolumbianischen Rebellengebiet verschwand und als entführt und umgekommen erklärt wurde. Seine Mutter entfloh damals der Welt, nahm ihren Sohn Ben mit und gab ihrem einzigen Kind jene Vergangenheit, von der sie meinte, es wäre die einzig richtige.
Aber in den Tagen in Amsterdam, wo er sich auch über die Zukunft mit seiner Frau klar werden will, überstürzen sich die Ereignisse. Während er schreibt, taumelt er durch die Stadt und seine eigene Geschichte. «Ich habe versprochen, ehrlich zu sein in diesem Brief, dir die Dinge zu erzählen, während sie sich noch entwickeln, während sie mir noch spitz im Fleisch stecken, bevor sie zu dem Geröll abgeschliffen werden, das alle Flüsse mit sich herumtragen, rundgewaschene Steine der Erinnerung.» Es ist nach dem letzten Kampf mit der Mutter, die sich bis zum letzten Atemzug nicht der Realität stellen wollte, dem unausweichlichen Tod, einer Mutter, die er mit dem Sterben doppelt verlor, endgültig als Mutter und mit ihr die Hoffnung auf eine Vertraute, auch als Schlüssel zum eigenen Leben, der Kampf mit der eigenen Geschichte.

Philipp Blom erzählt nicht linear. Er erzählt, wie diese wenigen Tage in Amsterdam verlaufen, flirrend, voll mit Träumen in der Nacht und jenen die den Taumel sonst vervielfachen, scheinbar zementierten Gewissheiten, die zerbrechen und eine Vergangenheit zerbröseln wie unendlich viele Hölzwürmer die Einrichtung der Gewissheiten. Ich als Leser werde Zeuge, wie sich ein Leben aus Lügen verliert, wie der Sturm alle Fundamente unterspült und nichts bleibt ausser der Wunsch von jetzt an wahrhaftig zu sein.

Blom_Philipp_H7_2012 «Bei Sturm am Meer» ist Philipp Bloms erster Roman. Bisher veröffentlichte er hauptsächlich geschichtliche Werke wie bei Hanser «Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914 (2009) oder «Die zerrissenen Jahre. 1918 – 1938 (2014). Als Journalist hat Blom in Zeitungen und Zeitschriften in Grossbritanien (The Guardian, The Independent, Financial Times, Times Literary Supplement) und im deutschsprachigen Raum (Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Der Standard) publiziert. Im österreichischen Kultursender Ö1 moderiert Blom regelmäßig die Diskussionssendung «Von Tag zu Tag».

Webseite des Autors

Am 25. Oktober und 12. November liest Philipp Blom aus «Bei Sturm am Meer» in Wien!

(Titelbild: Sandra Kottonau)

literaturblatt.ch fragt, Teil 5, Dominique Anne Schuetz antwortet

Dominique Anne Schuetz, ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen, ist mehr als «nur» Schriftstellerin. Das sieht man, wenn man ihre Webseite besucht und wenn man ihr bei einer Lesung zuhört. Sie bewegt!

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich möchte ungewöhnliche Geschichten erzählen, die nachwirken. Die Sprache ist mir wichtig, aber nicht als Selbstläufer. Durch mein Studium und meine Tätigkeit als Künstlerin bin ich auch stark optisch geprägt und mag das «bildliche» Schreiben, nicht nur die Figuren sollen ein Gesicht erhalten, auch die Orte sollen erlebbar werden. Deshalb fällt z. B. auch mein Aufwand für Recherchen stets sehr umfangreich aus.image[1]

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Schwierig ist eigentlich nur, dass es so lange dauert, bis ein Roman geschrieben ist und in gedruckter Form vorliegt. Das Schöne an der Schriftstellerei ist die Freiheit während des Schreibprozesses. Ein bekannter Filmregisseur sagte einmal: Er habe aufgehört, während des Drehs Ideen zu entwickeln, weil jede dieser Ideen mindestens 50’000 Dollar koste. Da haben es die Literaten entschieden einfacher.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Mit meinem ausgedehnten Fitnessprogramm bereite ich mich auf die Arbeit vor. Das leert den Kopf und bringt mich auf neue Ideen.
Ohne Musik kann ich nicht schreiben. Ich brauche jedoch einen speziellen Sound: Soul, Neo Soul, Nu Jazz, Acid Jazz, Latin mit Soul- und Jazzeinflüssen, Louisiana Blues, Funk.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Kunst hat immer eine Verantwortung, sonst ist es keine Kunst. Ich mag das Zitat des finnischen Architekten Alvar Aalto, der sagte: »Es gibt nur zwei Dinge in der Architektur: Menschlichkeit oder keine.»
Dass man von den Autoren mehr erwartet, hat mit der Macht des Wortes zu tun. Meines Wissens wurde noch kein Krieg mit einem Gemälde oder einer Oper entfacht bzw. beendet, sondern stets mit Worten.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
In meinen letzten vier Romanen ging es um Rassismus, um den Umgang mit Andersartigen, um Ideologien oder auch um die Schuldenwirtschaft. Jedoch verpacke ich solche Inhalte stets in einen Roman, der stark von den Figuren und ihren Entwicklungen geprägt ist. Ich will nicht meine Meinung zwischen den Buchdeckeln lesen, sondern indirekt Denkanstösse geben. Wie die vielfältigen Reaktionen zeigen, findet eine Auseinandersetzung mit meinen Stoffen sehr wohl statt, auch wenn ich die Themen nicht laut in den Vordergrund stelle.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Die Einsamkeit ist kein Problem, weil ich mich während des Schreibprozesses in einer völlig anderen Welt befinde.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
image[1] (2)Obwohl persönliche Erfahrungen Eingang in meine Bücher finden, würde ich nie eine Autobiografie schreiben. Das ist mir zu sehr Seelenstriptease. Auch würde ich keinen Roman schreiben, bei dem man mir ein Thema vorgibt, und als Coautorin für Prominente wäre ich ebenfalls eine Fehlbesetzung.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
«Dreamland» von Kevin Baker. Habe den Roman gerade zum zweiten Mal gelesen. (OKay, vielleicht nur ein halber Geheimtipp.)

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Als Kind: «Hauffs Märchen». Ich mochte keine Hanni-und-Nanni- oder ähnliche Bücher, sondern hatte eine Schwäche für Märchen. Hauff war mein Liebling, da seine Geschichten oft exotisch und auch etwas gruselig waren.
Als junger Teenager: «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Das Buch hat mir die Tür zur Literatur geöffnet.
Später: «Wassermusik» von T. C. Boyle. Kreativ, bildstark, atemlos, sprachlich einzigartig.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Ich bekomme selten Bücher geschenkt, weil die Leute da eine gewisse Scheu haben und mir lieber eine Flasche Wein bringen (was auch ganz gut ist). In mein Regal kommen nur absolute Lieblingsbücher. Ich gebe viel weg, da ich lieber mit leichtem Gepäck lebe.

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
(Das Foto ziert den Anfang des Interviews.) Mehr Unordnung kann ich leider nicht bieten. Im Hintergrund läuft übrigens grad Leela James ☺.

dominique-anne-schuetz[1]Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur, aufgewachsen in St. Gallen, ist Mutter von zwei Söhnen und lebt in der Nähe von Zürich. Sie war Creative Director und hat zahlreiche Preise erhalten. Heute ist sie erfolgreich als Künstlerin und Autorin tätig und wurde für ihr literarisches Schaffen ausgezeichnet.

Vielen Dank an Dominique Anne Schuetz!

Mitte September folgt ein Interview mit Daniela Danz. Ich freue mich!

Am 22. Oktober, 2016, von 11 Uhr bis ca. 13 Uhr liest die Autorin bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic, St. Gallerstrasse 21, 8580 Amriswil
(unbedingte Anmeldung unter gallus.frei-tomic@gmx.ch) oder übers Kontaktformular dieser Webseite!

Anja Geburi 2

Das 32. Literaturblatt ist fertig!

Klar, ich könnte auch am See liegen, meine Spur durchs Wasser ziehen. Aber über mehrere Tage verteilt werkelte und experimentierte ich an meinem 32. Literaturblatt herum. Nun ist es geboren, liegt fertig auf meinem kleinen Schreibtisch in der Bibliothek. Heute Abend wird es meine Frau als erste lesen und hoffentlich nicht allzu viele Fehler finden, denn die sind nur schwer zu korrigieren; Kugelschreiber auf glattes, weisses Papier. Am Wochenende Couverts beschriften, Briefmarken kleben und in der kommenden Woche mit der Post verschicken. Ich freue mich und hoffe, möglichst viele zur Lektüre von vier wirklich guten Büchern zu verleiten.

In der Rubrik «Literaturblätter Übersicht» sind alle bisher erschienen Literaturblätter sichtbar. Wer das 32. Literaturblatt mit der Post «old school» zugesandt bekommen möchte, kann dieses bestellen über das Kontaktformular der Webseite,

über gallus.frei-tomic@gmx.ch

oder «old school» per Post:
Gallus Frei-Tonic
Literaturport Amriswil
St. Gallenstrasse 21
8580 Amriswil

Reinhard Kaiser-Mühlecker «Fremde Seele, dunkler Wald», S. Fischer

«Der Glanz des Neuen fiel ab, und ihm war auf einmal, als sei alles, was ihn umgab, nur der Schein von dem, wofür er es gehalten hatte.» – Wenn es noch ein wirklich gutes Buch für den Spätsommer braucht, dann dieses!

Reinhard Kaiser-Mühlecker hat grosse Literatur geschrieben! Ein Buch, dass sich «artverwandt» vor Juli Zehs neustem Roman «Unterleuten» nicht zu verstecken braucht; ein Roman über das Auseinanderbrechen von Leben, das Einbrechen von Sehnsüchten, das Ausbrechen von selbstzerstörerischer Wut nach innen. Ein Buch über drei Generationen in einem Bauernhaus, vor allem über die Brüder Jakob und Alexander. Der grosse Bruder Alexander, der sich in seiner Jugend durch fast nichts beirren lässt, zuerst den Weg eines Kirchenmanns so deutlich und entschlossen einschlägt und wieder verwirft, wie zwischendurch den eines Mediziners und schlussendlich eines Militärs, getrieben von Sinnsuche, dem jüngeren Bruder Jakob zuerst ein Vorbild, dann entlarvt von seiner Distanz zum Leben, von Jakob abgestossen. Jakob, viel zu früh dem «bäuerlichen Trott» verfallen, schmeisst im Alleingang den Hof, einen Hof, der durch die undurchsichtigen Geschäfte des Vaters zum Sterben verurteilt ist. Der Vater ist nie da, dauernd auf der Jagd nach dem todsicheren Geschäft, das endlich das grosse Geld, die grosse Rendite abwerfen soll, dafür aber nach und nach alles verkauft, was sich auf dem Hof zu Geld machen lässt. Niemand traut sich; nicht die letzte Generation aufzubegehren, die älteren Generationen ehrlich zu sein, Misserfolg und Verschwiegenes einzugestehen. Jeder verschanzt sich hinter seinem Schmerz, seinen Verletzungen, dem grossen Fehlen. Selbst über das Sterben des Grossvaters hinaus, der mit seinem Erbe aus undurchsichtiger Vergangenheit manch einem in der Familie eine Wende verspricht, die dann aber auf sich warten lässt.
u1_978-3-10-002428-2Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt in grossen Bögen, aus der Sicht der beiden scheinbar ungleichen Brüder, die sich bloss noch durch Zufälle näher kommen, und dann viel näher, als sie erahnen.
Ein starker Roman, der nicht bis an die Ränder zeichnet, vieles offen lässt, ohne mich als Leser alleine zu lassen. Ein Roman, der wie das Leben in keiner Weise zu erklären versucht und trotzdem ganz nah am Geschehen und den Personen bleibt. Ein Roman, dessen kunstvoller Plan glänzend schimmert und viel mehr dem Leben nach schildert als bloss Geschichte sein will. Ein Roman, der einen Lesesommer zu einem guten Sommer werden lässt. Unbedingt lesen!

Reinhard Kaiser-Muehlecker, oesterreichischer Schriftsteller, geb. 1982 | Reinhard Kaiser-Muehlecker, Austrian author, born in 1982

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien.
Sein Debütroman «Der lange Gang über die Stationen» erschien 2008, es folgten die Romane «Magdalenaberg» (2009), «Wiedersehen in Fiumicino» (2011), «Roter Flieder» (2012) und «Schwarzer Flieder» (2014), alle bei Hoffmann & Campe. 2015 erschien erstmals bei S. Fischer «Zeichnungen. Drei Erzählungen». Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Kunstpreis Berlin, dem Österreichischen Staatspreis und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.

Der Roman findet sich zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises!

Literaturfest mit Christoph Keller and friends

«Drachenschuppen, Wolfsgebeiss, Hexengift und Vollgeschiss aus dem Bauch des Salzmeerhais, Schierlingswurzel dunkelweiss, von dem Lästerjud die Leber; Ziegengalle; Blütengeber, die man von den Bäumen riss, als der Mond in Finsternis, Türkennas, Tartarengrind und den Finger von dem Kind, das erwürgt wird bei Geburt von ner Frau, die strassenhurt – all das macht den Kessel fein, und mit Tiger-Innerein wird die Suppe bald fertig sein.»

Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen
Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen

Zwar war nicht Mitternacht und man traf sich auch nicht im Pilzkreis im Hätterenwald. Aber was am späten Nachmittag in der Militärkantine St. Gallen rund um den Schriftsteller Christoph Keller und seinen neuen Roman «Das Steinauge & Galapagos»  (Sammlung Isele) über die Bühne ging, war derart gestopft mit künstlerischen Leckerbissen von unterschiedlichem Giftgehalt, dass das Gemisch durchaus an einen wilden Tanz um die Kunst erinnerte. Christoph Kellers Gäste waren die Musiker Zelda Umur und Daniel Schnyder, die Schriftsteller Jan Heller Levi, Rebecca C. Schnyder, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch und Peter Weber, der Verleger Parantrap Chakraborty und die Künstler Marlies Pekarek und Roman Signer.

Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers "Mugwumps are what they seem."
Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers «Mugwumps are what they seem.»

In Christoph Kellers Roman kämpft Philip Gundolf mit der latenten Mitschuld am frühen Tod seines Schulfreundes Stieglitz. Gundolf, der erfolglose Schauspieler, quartiert sich einen Sommer lang im Elternhaus seines Freundes ein, um der Frage nachzugehen, ob er am Ende gar nicht sein eigens Leben, sondern das seines verstorbenen Freundes gelebt hat.
Die Tatsache, dass der Roman aus dem Erinnerungsbuch «Der beste Tänzer» nicht mehr bei S. Fischer Platz fand, mag darin begründet sein, dass Christoph Keller nicht daran interessiert ist, einfache Bücher zu schreiben. Wem Christoph Kellers Roman gefallen soll, muss sich einlassen, muss bereit sein, von der wilden Suppe zu kosten!

Rebecca C. Schnyder mit "Alles ist besser in der Nacht" (Dörlemann)
Rebecca C. Schnyder mit «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann)

Ein herrlicher Vorabend. Während draussen der Regen trommelte, der Wind die Fenster quietschen liess, führte Eva Bachmann gekonnt und überaus freundschaftlich durch den Kulturmix: Rebecca C. Schnyder, junge St. Galler Schriftstellerin las aus ihrem ersten Roman «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann), böse Stücke, Texte wie schwere Motorräder mit Auspuffen, die knallen, Stücke aus ihrem Roman über eine junge Frau, die mit allem Tun schmerzen will, selbst mit ihren verkorksten Liebeserklärungen.

Heinrich Kuhn "Alles Übrige ergibt sich von selbst" (VGS Verlagsgenossenschaft)
Heinrich Kuhn «Alles Übrige ergibt sich von selbst» (VGS Verlagsgenossenschaft)

Heinrich Kuhn, ein St. Galler Literatur-Urgestein, der zusammen mit Christoph Keller etliche Romane schrieb, las Geschichten aus seinem wieder mit Christoph Keller veröffentlichten Erzählband «Alles Übrige ergibt sich von selbst» um die beiden Stadtflanierer Maag und Minetti. Witzige, hintersinnige Texte, die mit Sprache und Möglichkeiten spielen; über den Arzt Dr. Guillotine, ein Taubenexperiment und die Möglichkeit, dass Dr. Röntgen auch Dr. Wolgensinger hätte heissen können.

Florian Vetsch "Steinwürfe ins Lichtaug" (Moloko Print)
Florian Vetsch «Steinwürfe ins Lichtaug» (Moloko Print)

Florian Vetsch, Lyriker, Herausgeber und Übersetzer rezitierte messerscharfe Gedichte, Lyrik, die weh tun kann, weil sie trifft und betroffen macht, die Weltgeschehen spiegelt, Zeuge ist für Literatur, die sich einmischt, unbequem, mit der scharf geschossen wird, weit weg vom lieblichen Schmeicheln.

Peter Weber "Gotthardfantasien" Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)
Peter Weber «Gotthardfantasien» Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)

Und Peter Weber, nicht vergessen, auch wenn schon lange nichts mehr auf der grossen Bühne erschien, bewies mit seinen Texten, warum es sich weiterhin lohnt, geduldig auf ein neues Buch von ihm zu warten, auf Sprache, die sich mit Peter Webers Wucht hoffentlich nicht in allzu ferner Zukunft auf mich Neugierigen wartet. Peter Weber ist nicht nur Textschöpfer, sondern Wortbildner. Da wabbert Hochliteratur! Und dabei waren seine Kostproben in Maultrommelkunst wie Telegramme, Signalreihen aus jener fernen, fremden Welt, in der Weber zum Medium wird.

Man möge mir verzeihen, wenn ich nicht allen in Aktion Getretenen gerecht werde. Aber ich war Zeuge eines Kunst-Sommerfests der Superlative.

Molly Brodak «Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank», Nagel & Kimche

Molly Brodaks Buch ist kein Roman, aber ein gut geschriebener Bericht über eine junge Frau, die die Tochter eines Bankräubers ist, darüber, was Eltern mit ihrem Leben bei ihren Kindern anrichten. Lesbar macht das Buch die Distanz, mit der die junge Amerikanerin schreibt und sich dabei weit mehr als nur Gedanken über ihr schwieriges Band zu einem fremden Vater macht.

«Ich weiss nicht, ob er ein Soziopath ist. Ich weiss nur, dass er in allem betrogen hat. Er log jeden an, hielt uns immer fern und widersetzte sich jeder normalen zivilisatorischen Struktur: Arbeit, Familie, Unterhaltung, Ökonomie, Liebe. Wenn er wirklich dachte, er käme mit seinen ganzen Betrügereien, seinem lebenslangen Lügen durch – und anfangs sah es ja durchaus danach aus – , dann ja, dann hat sein Denken etwas beharrlich Verrücktes. Aber wenn er alles im Wissen um die Konsequenzen tat und sich bewusst war, wen und was er alles verlieren würde, und dennoch weitermachte – dann sieht das nach etwas anderem aus – nach echtem Unheil.»
Ein Stück «american history», von Menschen, die nie ankommen, dauernd getrieben sind, der amerikanischen Seele, die trotz Therapeuten im Wohnzimmer und dem Gefühl, am Nabel der Welt zu leben, kein Zuhause finden. Molly Brodak schildert den Schrei, ihren langen Schrei aus ihrem Innern: «Nichts kann mir etwas anhaben, weder die Ignoranz des Vaters noch die tiefen Stürze der Mutter.»
Warum soll man dieses Buch lesen? Weil es der Autorin gelingt mit ungewohnter Distanz auf das zu sehen, was ihr in ihrer Familie, ihrer Einsamkeit widerfuhr. Wenn ein Vater nicht nur das Geld aus der Sparbüchse seiner Kinder klaut, sondern damit auch das Urvertrauen in eine Welt, die auf gegenseitigem Respekt ruhen sollte. Eine Tochter, die sich an einen verlorenen Vater herantastet.

brodak_molly_hf_iMolly Brodak, wurde 1980 in Michigan geboren und lebt heute in Georgia, wo sie an der Augusta University Englische Literatur unterrichtet. Bislang veröffentliche sie Gedichte in literarischen Periodika und in der Presse. 2009 erhielt sie für ihren Lyrikband A Little Middle of the Night den Iowa Poetry Price.

Literatur am Tisch mit Bettina Spoerri

«Literatur am Tisch» soll Leser*innen und Autor*innen an einen Tisch bringen, die Möglichkeit bieten, sich in ein echtes Gespräch, einen für beide Seiten zum Gewinn werdenden Austausch einzulassen. Traditionelle Lesungen oder Gespräche lassen Leser*innen auf Distanz, bieten kaum die Gelegenheit, eigene Lesarten, Gedanken miteinzubringen.

IMG_0966Am vergangenen Mittwoch beehrten uns die Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses Bettina Spoerri mit  ihrem neusten Roman «Herzvirus» (Braumüller Verlag) und ihr Mann, der Filmregisseur, Produzent und Drehbuchautor Matthias von Gunten. Zuerst draussen im Garten bei einem Glas Weisswein und später in der Stube am grossen, reichlich gedeckten Tisch entwickelte sich schnell ein sehr angeregtes, offenes Gespräch, bei dem die Schriftstellerin Bettina Spoerri sehr schnell spürte, wie sehr undIMG_0962 unterschiedlich ihre literarische «Liebeserklärung» und Spurensuche an eine verlorene Mutter die Gäste rundum bewegte. So nah man im Gespräch der Autorin und ihrem Buch kam, so sehr schien es Bettina Spoerrri zu gefallen, ihr Buch, ihr Schreiben und ihre Sprache zum Gegenstand einer wirklichen Auseinandersetzung werden zu lassen. Vielen Dank an Bettina Spoerri!

IMG_0964«Wenn ein Buch einen anspricht, beim Lesen unzählige Bilder entstehen, die sich unauslöschlich im Kopf festsetzen, und die Sprache immer wieder die Seele berührt, sind das Glücksmomente. Bei „Herzvirus“ und der Begegnung mit Bettina Spoerri ist noch eine Dimension dazugekommen: Das ungezwungene Gespräch an der Verwöhntafel bei Irmgard und Gallus hat aufgezeigt, welch ein vielschichtiger und begabter Mensch mit viel literarischem Können hinter diesen Zeilen steckt. Das hat mich beeindruckt und bereichert. Vielen herzlichen Dank für diesen wunderbaren kulinarisch-kulturellen Abend!» Friedericke Züllig

«Die Begegnungen mit allen in dieser Runde war ein sehr schöner Abend. So richtig losdiskutieren, auch über einige schwere Themen, sich wohlfühlen mit Menschen, die gerne auch mal den Kopf über Wasser halten und den weiten Horizont sehen, den es noch gibt, hat gut getan. Bettina und Matthias waren unkompliziert und doch so interessiert. Gallus und Irmgard die liebenswürdigen Gastgeber und Organisatoren. Vielen Dank für diese einmaligen, lebendigen Erlebnisse, die man in keiner Buchhandlung kaufen kann und die Autorin viel näher brachte.» Werner

Und Bettina Spoerri selbst schreibt: «So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen. Der Runde am 17. August war die bei vielen vorhandene jahrelange Erfahrung mit Diskussionen und Reflexion über Texte anzumerken. Mit Sorgfalt bitten die Gastgeber Gallus und Irmgard zu Tisch, und schon ganz bald ist man mitten in publizistischen und literarischen Fragen: Wer bestimmt das Cover eines Buches? Warum trägt es genau den Titel? Wie viel hatte die Autorin dazu zu sagen? Wie ist die Idee zum Text entstanden, wie erlebte ich die Schreibarbeit an einem Thema, das einem wohl nicht anders als unter die Haut gehen muss. Warum diese Erzählperspektive? Und wie spiegeln sich die Leser/innen im Text, den sie lesen? Diese und viele andere Fragen haben wir diskutiert. Dabei war es für mich immer wieder auch spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren. Danke!

Ganz herzlich,
Bettina»

Vielen Dank.

 

Delphine de Vigan «Nach einer wahren Geschichte», Dumont

«Schreiben ist eine Waffe, Delphine, eine verdammte Massenvernichtungswaffe. Das Schreiben ist sogar viel stärker als alles, was du dir vorstellen kannst. Das Schreiben ist eine Verteidigungs-, eine Schuss-, eine Schreckschusswaffe, das Schreibens eine Granate, eine Rakete, ein Flammenwerfer, eine Kriegswaffe. Es kann alles zerstören, aber es kann genauso gut alles wieder aufbauen.»

Bis buchstäblich zum allerletzten Wort versetzt mich die Autorin in ihrem neuen Roman in ein überaus gekonnt konstruiertes Verwirrspiel zwischen Realität, oder zumindest als solche empfundene Realität und Fiktion. Wo wird Fiktion zur Realität und wo kippt eingebildete Realität in Fiktion. Kein Wunder setzt die Autorin den Kapiteln Zitate aus Büchern von Stephan King voraus. Mag sein, dass die Autorin von vielerlei immergleichen Diskussionen genug hat, darüber, was sie darf und was nicht, ob das Geschriebene autobiographisch, erlebt, wahr sein muss. Ausgerechnet in einer Zeit, in der man ohne weiteres die Realität ausblenden kann, wo die Grenzen zwischen Realität und Fiktion für gewisse Menschen selbst in der «realen» Welt fliessend geworden sind, denke man nur an «Reality-TV» und «Cyberworld».
Delphine de Vigan erzählt in «Nach einer wahren Geschichte» von sich selbst, von Delphine de Vigan, die in einer Lebens- und Schreibkrise steckt, konstruiert ein literarisches Kippbild, das mich weniger an der Nase herumführt als bewusst macht, wie und was mit scheinbarer Wahrnehmung zu manipulieren ist. Delphin de Vigan schildert Delphine de Vigan, die nach der Veröffentlichung ihres letzten Romans «Das Lächeln meiner Mutter» (tatsächlich 2013 bei Kroemer Knaur erschienen), in dem sie über den Suizid ihrer Mutter schreibt, der sie nicht loslässt, eine Frau kennenlernt. Eine Frau, die von der nicht sicher zufälligen Begegnung zur omnipräsenten Begleitung wird, die sich unerwartet schnell und heftig in das müde Leben der Autorin einschleicht und einnistet. Fasziniert von einer Freundin, die wirklich versteht, alles erspürt, beginnt sich die Autorin, die Protagonistin immer mehr zu verlieren, nicht nur als Person und Individuum, sondern auch als Schriftstellerin. So sehr, dass es ihr irgendwann unmöglich ist, mehr als drei Worte zu einem Satz zusammenzufügen oder eine Datei in ihrem Computer zu öffnen, ohne den Beistand ihrer Freundin. Delphine de Vigan verliert sich. csm_9783832198305_9eda36fc13Und ich als Leser bin mit gebundenen Händen Zeuge eines Zerfalls, eines Abfalls in die Tiefen von Persönlichkeitsverlust, Wahnvorstellung, Paranoia. Was zu Beginn des Buches wie der Bericht über eine «einfache», für die Betroffene aber katastrophale Schreibkrise beginnt, entpuppt sich immer deutlicher als Psychothriller im Kopf des Lesers, den genau jener Zwiespalt zwischen Realität und Fiktion in die Tiefe zieht, der dem Buch das Thema gibt. Schon erstaunlich, welcher Sog sich da entwickelt und wie meisterhaft die Autorin mit mir als Leser spielt, ohne das ich mich «verschaukelt» fühle. Eine raffinierte Berg- und Talfahrt durch die Psyche des Menschen!

vigan_cop_delphine_jouandeauDelphine de Vegan (1966) lebt mit ihren beiden Kindern in Paris. Während sie tagsüber in einem Meinungsforschungsinstitut arbeitete und ihre Mutterrolle erfüllte, schrieb sie spät abends und nachts an ihren ersten Romanen. Seit 2007, nach dem großen Erfolg ihres Romans «No & ich», lebt sie vom Schreiben. In «No & ich» schildert sie das Leben einer jungen Obdachlosen aus Sicht eines hochbegabten dreizehnjährigen Mädchens. Der Roman wurde vielfach ausgezeichnet, in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und verfilmt.

Delphine de Vigan auf Lesereise:
12.9. internationales literaturfestival berlin
13.9. Hartliebs Bücher Wien
14.9. Literaturhaus Köln
15.9. Harbour Front Literaturfestival Hamburg