Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge

Die einen tun alles, um einmal aus der Masse der Anonymität aufzutauchen, vergessen alle Scham, um ein Stück Berühmtheit zu gewinnen, koste es, was es wolle. Andere leben ein Leben lang in den Mühlen der Pflichterfüllung und Selbstvergessenheit, um resümierend festzustellen, dass da nichts geblieben ist.

Iris ist seit kurzem pensioniert und hat genügend Zeit zu resümieren, auf das Vergangene zurückzuschauen. Iris ist nicht unzufrieden mit ihrem Leben, war eingebettet in einen Beruf, eine Aufgabe, auch wenn das mit der Liebe, mit einer Familie nicht reichte. Sie geniesst den Ruhestand, weil er ihr endlich die Möglichkeit gibt auszubrechen, zaghaft andere Wege zu gehen. Gleichzeitig merkt sie, dass der leichte Weg, Kontakte zu knüpfen mit dem Ausscheiden aus einem Arbeitsprozess, einem Arbeitsumfeld schwieriger geworden ist. Eine Zeit der Neuorientierung.

Bei einem spontanen Besuch der örtlichen Buchhandlung findet sie im Regal der einheimischen AutorInnen ein Buch mit dem Titel „Auf Umwegen zum Erfolg“ von Silvan J. Mueller. Wäre der Name des Autors nicht gewesen, hätte der Titel sie nicht zum Kauf animiert. Aber Silvan J. Mueller. Sie hatte den Mann gekannt. Er war über viele Jahre ihr Geliebter gewesen. Er, verheiratet, Vater einer Familie, mitterweile ein alter Mann, über achtzig, weit weg von ihrer Gegenwart. Trotzdem war er damals ihre Hoffnung, eine Tür, ein Versprechen, dem er aber eines Tages mit einem Brief ein Ende setzte, er habe sich „das mit uns“ lange überlegt und sei zum Schluss gekommen, die Beziehung habe keine Zukunft.

Iris trägt das Buch mit nach Hause, obwohl sie schon in der Buchhandlung am liebsten zu lesen begonnen hätte. Silvan, damals noch Silvan Müller, war ihr Liebesglück, ein grosses Stück ihres Lebens. Trotzdem blieb sie der Seitensprung, die zweite Wahl, jenes Glück, das man einfach abstreifen konnte. Gleichzeitig weiss Iris, dass vieles in Silvans Leben nicht so gelaufen wäre, wie es lief, wäre sie nicht Teil seines Lebens gewesen. Umso schockierender die Feststellung, dass sie mit keinem Wort in der Biographie dieses Mannes vorkommt, nicht einmal die Auswirkungen ihrer Liebe. Iris muss feststellen, dass sie eine Leerstelle ist, jemand, auf den man ganz leicht verzichten kann, der es nicht wert ist, erwähnt zu werden, nicht einmal verschlüsselt.

Alexandra von Arx «Das mit uns», Zytglogge, 2025, 152 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5181-4

Mit einem Mal wird Iris in die Vergangenheit zurückkatapultiert, in ein grosses Stück Leben, das sie längst abgeschlossen und verdaut glaubte. So nichtig ihre Rolle im niedergeschriebenen Leben ihrer einstmaligen grossen Liebe, so gross der Schmerz darüber, dass sie scheinbar spurlos an jenem Leben vorbeigegangen ist, obwohl sie weiss, dass dem nicht so ist.
Sie liest das Buch ein zweites Mal mit der Absicht, das Geschriebene zu korrigieren, zu ergänzen, bis mehr und mehr klar wird, dass Iris es bei den schriftlichen Korrekturen nicht sein lassen kann. Aber nicht nur mit den Korrekturen in diesem Buch, in der Sicht auf die Vergangenheit. Auch Korrekturen in ihrem Leben jetzt. Einst hatte sie den Wunsch zu studieren, stand „Studium“ ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber das Leben korrigierte diese Liste, schob ihre Wünsche immer weiter nach hinten.

Mit einem Mal beginnt sich Iris Fragen zu stellen, die sie sich nie zu stellen traute oder sie ihr schon vor der Antwort irrelevant schienen. Fragen, die mit einem Mal ihr Selbstverständnios erschüttern. Silvan pulverisierte Pläne. Und irgendwann schien sie bloss noch zu funktionieren, erst recht, als sich Silvan “für die Familie“, gegen sie entschied.

Wir alle frisieren unsere Vergangenheit, korrigieren und beschönigen, dramatisieren und verharmlosen. Jede Sicht auf die Vergangenheit ist eine Zensur. Das eine wird zum Leuchten gebracht, anderes deckt man mit einer schweren, lichtundurchlässigen Decke zu. Iris macht die Missachtung, das Leugnen des einen zum Motor ihrer selbst. Iris blättert in ihrem eigenen Leben zurück und macht das Erinnern zu einer Selbstvergewisserung.

Alexandra von Arx beschreibt sechs Tage. Eine Woche des Um- und Aufbruchs. Eine Neuschöpfungsgeschichte. Alexandra von Arx ist eine Meisterin der feinen Töne, «Das mit uns“ die Kampfschrift einer Auferstehung.

Interview

Ein erstaunliches Buch, nur schon die Ausgangslage. War es doch über Jahrhunderte klar, dass die Frau kaum je aus dem Schatten des Gatten, geschweige denn eine Schattenfrau aus jenem des Geliebten heraustreten konnte. Wie bist du zum Stoff, zur Idee gekommen?
Die Idee entstand beim Lektorieren einer Biografie. Darin ging es um zwei Brüder, die vor allem von ihrem beruflichen Werdegang erzählten. Frauen kamen praktisch nicht vor, auch die Ehefrauen kaum. Das beschäftigte mich sehr. Ich stellte mir die Empörung von Frauen vor, die in einer Männerbiografie eine wichtige Rolle zu spielen glauben, aber letztlich kaum Erwähnung finden. Diese Empörung wollte ich literarisch verarbeiten. Mit der Wahl einer Protagonistin, die in einer Biografie aus naheliegenden Gründen nicht erwähnt werden kann, trieb ich die Thematik auf die Spitze.

Iris ist pensioniert, im Unruhestand. Wie so viele, die in einen Alltag eingespannt sind, die erste richtige Chance der Besinnung, der Neuorientierung. Das Buch, das sie zuerst in eine tiefe Krise stürzen lässt, wird zu einem Türöffner. Viel mehr als eine Kreuzfahrt in der Karibik oder ein Survivalkurs in den Wäldern des Mittellandes. Ent-Täuschung wörtlich genommen?
Die Autobiografie von Silvan hat tatsächlich eine gewisse Kraft. Sie wirft Iris zurück in die Vergangenheit, an einen wunden Punkt in ihrer eigenen Biografie. Vielleicht ist der Ruhestand der richtige Moment, um sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das man im Berufsalltag erfolgreich verdrängt hatte. Dazu braucht es weder eine Kreuzfahrt noch einen Survivalkurs. Bücher sind kraftvoll genug.

Silvan ist über 80 und schreibt ein Buch über sein Leben, zumindest über den Teil, den er als sein Leben sehen will. Ist das nicht ein ganz natürlicher Vorgang? Beschönigen nicht alle ihre Vergangenheit, permanent, selbst dann, wenn wir vorgeben, ehrlich zu sein?
Der Rückblick auf das eigene Leben ist nie objektiv, sondern sagt viel darüber aus, wie wir uns wahrnehmen oder wie wir wahrgenommen werden möchten. Die Auswahl der Ereignisse, die man erwähnt, und die Art, wie sie miteinander verknüpft werden, enthalten eine Wertung. Diese muss nicht unbedingt beschönigend sein.

Iris versucht zuerst die Geschichte, das Buch zu korrigieren, ihre Sicht zu rechtfertigen. Aber das Buch ist geschrieben, die Markierung gesetzt. Ist dein Buch die Geschichte einer Emanzipation, nicht zuletzt die Aufforderung zur Emanzipation, unabhängig vom Geschlecht?
Iris tritt aus der jahrzehntelangen Unsichtbarkeit heraus. Das ist ein grosser Schritt. Ob er als Emanzipation zu bezeichnen ist, weiss ich nicht.

„Alles ist eine Frage der Perspektive“, könnte man lakonisch kommentieren. Silvans Wahrheit ist nicht jene von Iris. Wir leben unter dem Zwang, stets alles in Schubladen zu ordnen. In gut und böse, in richtig und falsch, wahr und verdreht. Iris wird erst frei, als sie den Zwang ablegen kann und ihren Blick in eine offene Perspektive richten kann. Ist Schreiben nicht genau diese Befreiung?
Beim Schreiben kann ich in die Rolle einer anderen Person schlüpfen und dadurch die Perspektive wechseln. Das fasziniert mich. In der Konstellation von «Das mit uns» wäre vielleicht auch die Figur von Verena interessant. Denkbar ist, dass sie im bisherigen Narrativ unterschätzt wurde.

Alexandra von Arx, geboren 1972 in Olten, ist Juristin, Übersetzerin und internationale Wahlbeobachterin. Sie wurde mit zwei Förderpreisen für Literatur und mehreren Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet. Ihre beiden ersten Romane sind 2020 und 2021 im Knapp Verlag erschienen, ihre Aufzeichnungen als Hüttenmitarbeiterin 2020 im orte Verlag.

«Ein Hauch Pink», Rezension mit Interview

«Im Dorthier», Gasttext auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Alexandra von Arx

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge

Man kennt sie, jene, die in verlassene Häuser steigen, mit Taschenlampe und Rucksack, Fotos von Lost Places machen, Spuren suchen nach verlorenem, vergessenem Leben. In einem kleinen Haus, kurz vor der Räumung, treffen zwei junge Menschen aufeinander, Letta, die ungefragt eingestiegen ist und Paul, der im Haus seiner Grossmutter Ordnung machen will.

Wer ein Leben lang ein Haus bewohnt, hinterlässt einen kleinen Kosmos voller Spuren, Signale, Markierungen, dinggewordener Erinnerungen. Ich erinnere mich gut an die Besichtigung jenes Hauses, in dem wir zehn gute Jahre mit unserer Familie verbringen konnten. Die Frau, die mit ihrem Hund Jahrzehnte in dem Haus wohnte, am Schluss nur noch im Untergeschoss, musste wegen eines Unfalls ins Pflegeheim. Als man uns das Haus zeigte, sah man auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer noch einen Notizzettel und in der Küche auf der Anrichte eine Schale mit Früchten.

Agnes Siegenthaler «So nah, so hell», Zytglogge, 2025, 160 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-7296-5182-1

Lore führte vor ihrem Tod ein ruhiges und zurückgezogenes Leben. Nicht einmal ihre nächsten Nachbarn wussten etwas von der stillen Frau. Agnes Siegenthaler verrät nur Verschlüsseltes aus dem Leben der stillen Frau. Das wird auch sichtbar im Aufbau des eigenwilligen Romans. Wenn Agnes Siegenthaler von Lore erzählt, dann sprechen die Dinge im Haus von der Frau und den Menschen, die mit Lore Zeit in diesem Haus teilten. Textpassagen, die sich eindeutig vom Erzählstrang nach ihrem Tod absetzen, lyrische Prosa, gesetzt wie Gedichte. Für mich als Leser sind es Atempausen, Einladungen, meinen Lesefluss zu verlangsamen, dem Text Zeit zu lassen, auf die Stimmen der Dinge einzugehen, auf das Hasenauge, die Porzellanfigur, den Hygrometer, die Kaffeetasse, den Elefanten aus Glas. Agnes Siegenthaler gibt den stumm gewordenen Dingen in Lores Haus ihre Stimme zurück, den eingelagerten Erinnerungen, die sich sonst spurlos verflüchtigen. Jeder, der schon einmal die Pflicht hatte, ein Haus Räumen zu müssen, weiss, wie wertlos mit einem Mal Dinge geworden sind, die in einem anderen Leben unentbehrlichen Wert besassen.

Paul ist Lores Enkel. Als er das Haus seiner Grossmutter aufschliesst, merkt er, dass Spuren zu finden sind, die nicht von seiner Groossmutter stammen. Und irgendwann findet er im grossen Bett der Grossmutter eine junge Frau liegen, jemanden, den er nicht kennt, von dem er aber spürt, das keine schlechten Absichten der Grund dafür sind, dass sich jemand unerlaubt Zutritt in das Haus seiner Grossmutter verschaffte. Letta wacht auf. Vielleicht wacht sie aber nicht nur aus dem Schlaf auf, sondern auch aus deinem Rauschzustand, der sich jedes Mal einstellt, wenn Letta in ein nicht mehr bewohntes Haus einsteigt.

Letta ist keine Einbrecherin. Sie ist nicht an dem interessiert, was Einbrecher interessieren würden. Sie hat sich in ihrer Passion ein eigentliches Protokoll zurechtgelegt, das sie genau befolgt. Sie sucht nach einem Andenken. Aber nach einem Andencken, das nicht sie aussucht, sondern von dem sie ausgesucht wird. Ein Taschentuch mit gehäkeltem Rand und den eingestickten Worten „Mensch nütze den Tag, denn er ist kurz“, eine zerkratzte Schallplatte von Miles Davis, ein einzelner Kinderschuh mit vergilbten Maikäfern als Muster. Letta sucht nach dem Andenken in diesem Haus, sucht viel länger als erwartet, erst recht mit Verzögerung, weil da dieser Mann auftaucht und erklärt, er wäre der Enkel. Letta und Paul sind Suchende; Letta nach dem Andenken, Paul mit der Aufgabe, die Asche an Lores liebstem Ort zu verstreuen.

Das verlassene Haus kurz vor seiner Räumung wird zum Schauplatz vieler Begegnungen. Vordergründig zwischen Letta und Paul, unterschwellig zwischen Lore über all die Dinge mit den Menschen, die einst in diesem Haus ein Stück ihres Lebens verbrachten, mit Lore Leben teilten.

„So nah, so hell“ ist ein zartes Debüt von grosser poetischer Kraft. Ein Buch, das viel Aufmerksamkeit verdient, geschrieben von einer Autorin, die mit diesem Roman einen vielversprechenden Weg begonnen hat. Wir werden noch mehr lesen!

Interview:

Ich las Dein Debüt mit grossem Interesse, mit ungetrübter Freude. Nur schon, weil Du eine mutige Form gewählt hast, Lyrisches mit Prosa mischst, deinem Erzählen ganz verschiedene Stimmen und Tonlagen gibst. War von Beginn weg klar, dass Du mehr als nur eine Art des Erzählens für Dein Debüt wähltest? Wieviel Mut brauchte es?

Die unterschiedlichen literarischen Formen sind zusammen mit den verschiedenen Erzählperspektiven entstanden. Es war klar für mich, dass diese nicht einfach in derselben Weise erzählen können. So haben die Gegenstände eine Art Chorfunktion für mich, wie sie gemeinsam und doch sehr individuell von etwas erzählen, was direkt nicht mehr erfahrbar wäre. Ihre Sprache gleicht der verknappten Form von Lyrics in Liedern und hat auch etwas Künstliches. Die Felsteile ihrerseits erlauben es sich, über Jahrtausende auszuholen und doch kurze Momente hervorzuheben. Wenn über Letta oder Paul erzählt wird, sind wir relativ nah an ihnen dran und folgen ihren Bewegungen und Gedanken. Es ist eine alltäglichere und menschlichere Sprache. Es hat nicht unbedingt Mut gebraucht, den Text auf diese Weise zu schreiben, es war vielmehr schön und hat Spass gemacht, zu entdecken, wie es gelingt, eine Geschichte aus unterstimmlichen literarischen Formen heraus zu erzählen. Danach waren es eher Ausdauer und Standhaftigkeit, die nötig waren, um die unterschiedlichen Formen und Perspektiven, zu verteidigen, nicht davon abzukommen und einen Verlag zu finden, der bereit war, dieses Textgewebe herauszubringen.

In alten Kurzbiographien über Dich heisst es „Für ihre Texte sucht sie nach Zeugenschaft in verlassenen Häusern und bei herumirrenden Steinblöcken. Sie interessiert sich für unwahrscheinliche Perspektiven und für das übersehene Offensichtliche.“ Mit diesen beiden Sätzen könnte man auch Letta, die Protagonistin in deinem Roman beschreiben. Keine alltägliche Leidenschaft. Irgendwie doch knapp an den Rändern zur Illegalität. Auch ein Outing?

Ich glaube, ich habe in dieser Kurzbiografie eine Methode offengelegt, die ich brauchte, um ins Schreiben zu kommen. Für diesen Text bin ich von konkreten Orten ausgegangen, die dann im Laufe des Erzählens zu fiktionalen Orten wurden. In dieser Kurzbiografie übertreibe ich ein wenig. Tatsächlich war ich in nicht mehr als einem verlassenen Haus unterwegs und das im Rahmen der Legalität. Aber zugegeben, das klingt auch etwas nach Letta. Möglicherweise ist aus dieser Methode ihre Figur entstanden. Sie ist da aber deutlich abenteuerlicher und eigenwilliger unterwegs, als ich es war. 

Ich musste in meinem Leben schon mehrfach helfen, eine Wohnung oder ein Haus zu räumen. Ein ganz eigenes, spezielles Erlebnis. Da wandert in eine Entsorgungsmulde, was zuvor ein Leben lang wie ein Schatz gehütet wurde. Man nimmt Dinge in die Hand, die ihren Wert mit einem Mal verloren, ihre Geschichte eingebüsst haben. Letta sucht nach einem Andenken, einem kleinen Denkmal, das auch im Unscheinbaren steckt. Ist Letta eine Anwältin jener, die ins Vergessen zu rutschen drohen?

Was du in der Frage beschreibst, war auf eine gewisse Weise eine Erzählabsicht von mir: über ein Leben zu schreiben, das scheinbar ungesehen vergangen ist und darüber, wie die Dinge, die für diese Person Schätze waren, mit ihrem Tod zu Müll werden. In dem Roman übernehmen diese Anwaltschaft gegen das Vergessen aber eher die Stimmen der verschiedenen Gegenstände. Durch sie wird nochmals ein Licht auf ein zurückgezogenes Leben geworfen, welches sich zunehmend ohne menschliche Beziehungen abspielte.
Ich glaube, Letta verfolgt da egoistischere Motive, sie sucht nach Dingen, die eigentlich mit ihr zu tun haben, sie sucht sich eine Art selbst gewählte Hinterlassenschaft zusammen. Es sind eher die Umstände, die sie dazu bringen, näher an Lore heranzugehen, über sie nachzudenken.

Paul ist mit der Urne seiner Grossmutter in diesem Haus. Er nimmt zum einen Abschied von seiner Grossmutter, zum andern ist er da mit der Aufforderung seiner Grossmutter, ihre Asche an ihren Lieblingsort zu bringen. Paul muss im Haus mit seiner Grossmutter Zwiesprache halten, um herausfinden, wo dieser „Lieblingsort“ sein könnte. Dein Roman ist neben diesem Kammerspiel zwischen Letta, Paul und Lore auch ein Buch über den Abschied. Wie wichtig ist dir dieses Thema?

Hier geht es um den Abschied von einem Menschen, der zurückgezogen lebte und eigentlich von den Menschen, die dableiben auch nicht vermisst wird. Solche Geschichten gibt es ja sehr viele. Und Paul nimmt sicherlich Abschied von Lore, aber auch von einem Teil seiner selbst. Vielleicht geht es um diesen selbstbezogenen Anteil von Abschied. Aber auch andere Lesarten sind möglich, zum Beispiel Abschied zu nehmen, von einem Leben, welches man vielleicht gerne geführt hätte, Abschied nehmen von Bildern, die wir uns von Menschen machen.

Bist Du ein Mensch, der Dinge sammelt? Wie sehen Deine Regale aus? Ist Schreiben eine Form des Festhaltens, den Dingen ihre Stimme zu geben?

Ich glaube nicht, dass ich den Dingen eine Stimme geben wollte, ich wollte eine Form finden, in der ich Lores Geschichte erzählen kann. Es ging um ein Erschrecken darüber, dass ein Menschenleben vergeht und die materiellen Dinge einfach weiterbestehen, dableiben, und würden sie nicht entsorgt, könnten sie unerträglich lange da sein. Es ging um die Imagination darüber, was in diesen Räumen passiert sein könnte; und gesehen haben es halt bloss die künstlichen Augen dieser Gegenstände. Daher benutze ich die Dinge eher, als dass ich ihnen eine Stimme gebe. Um mit ihrer Hilfe die Geschichte von Lore zu erzählen. 

Selbst bin ich keine grosse Sammlerin, so ganz traue ich den Dingen wohl nicht über den Weg.  

Agnes Siegenthaler, geboren 1988 in Bern, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und davor Soziale Arbeit studiert. Sie schreibt Prosa und Lyrik und arbeitet aktuell an ihrem zweiten Roman. Neben dem Schreiben ist sie als Soziokulturelle Animatorin in einer interkulturellen Bibliothek tätig. Aufgewachsen im Emmental, lebt und arbeitet die Autorin rund um die Städte Bern und Fribourg. «So nah, so hell» ist Agnes Siegenthalers Debüt.

Agnes Siegenthaler «Meret 2» & «Café Krokodil» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Karen Moser & Elias Bannwart

Frédéric Zwicker «Carlas Scherben», Zytglogge, Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Im Vorsatz zu Frédéric Zwickers neustem Roman steht ein Zitat einer der Protagonistinnen: Familie, so ein harmloses Wort. Und gleichzeitig so schrecklich, dass es jeder Psychotherapeutin zuvorderst auf der Zunge hockt. Larry, Carlas Mutter, die es versäumte, wie schon ihre Mutter, mit offenen Karten zu spielen.

Frédéric Zwicker lässt in seinem dritten Roman eine junge Frau erzählen, die ihr Leben gleich auf mehreren Ebenen in Scherben sieht. Carla arbeitet als Künstlerin, als Keramikerin und soll in Hamburg in eine bedeutenden Galerie ihre neusten Arbeiten ausstellen. Ein paar Monate Zeit bleiben noch und ein nicht unbedeutender Vorschuss ist bereits bezahlt. Wenn da nur die Leere in ihrem Kopf nicht wäre, das Ausbleiben von Ideen, eine neue Spur, die nicht einfach das Begonnene fortsetzt oder Altes wieder aufnimmt. Und wenn da nicht all die Baustellen in ihrem eigenen Leben wären, die sie von dem wegreissen, dem sie sich eigentlich widmen würde.

Der Tod ihrer Grossmutter Lili im Altenheim, zu der sie sich seit ihrer Kindheit viel mehr hingezogen fühlte als zu ihrer umtriebigen Mutter Larry. Die Tatsache, dass ein Zimmer zu räumen ist, das Übrige eines Nachlasses gesichtet werden muss und Carla in einer Lade eine Schachtel mit Briefen ihres Grossvaters findet, der schon lange gestorben innerhalb der Familie zu einer Überfigur wurde, nicht zuletzt durch die konsequente Verehrung ihrer Grossmutter, weit über die Krankheit und den Tod ihres Mannes hinaus.

Frédéric Zwicker «Carlas Scherben», Zytglogge, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-7296-5172-2

Und Klaus. Klaus ist Maler, erfolgreich und immer wieder auf Reisen, so wie die letzten Monate in Kasachstan. Ob Klaus ihr Lebenspartner ist, weiss Carla nicht. In den Zeiten, in denen er verfüg- und erreichbar ist, scheint er das zu sein. Wenn er nicht da ist, monatelang auf Reisen, auf denen er sammelt, was er danach auf grosse Leinwände bannt, scheint er sie abzustreifen wie einen alten, zu schweren Mantel. Und Klaus ist dominant, scheint nicht zu verstehen, was gegenseitiger Respekt bedeuten könnte, versteht seine aus seiner Sicht grosszügigen Gesten als Zuwendung. Carla immer weniger.

Und Dawit, ihr äthiopischer Nachbar, der wegen Frau und Kind in der Schweiz um Asyl bat, seine Heimat verliess und mit der verlorenen Liebe zu seiner Frau und der darauf folgenden Scheidung auch seinen Status als „Geduldeter“.
Das alles würde zur Krise reichen. Aber was Carla durch das Bündel Briefe und die bröckelnde Fassade von Familienlegenden erfährt, schüttelt sie noch viel mehr. Paul, ihr Grossvater, den sie als Kind über alles mochte, der zusammen mit der Grossmutter zumindest bis zur Pupertät jene Familie ausmachte, die ihr die alleinerziehende und ruhelose Mutter nicht geben konnte. Paul war nicht der, den ihre Grossmutter auf Fotos, mit Erzählungen und durch ihren täglichen Gang auf den Friedhof verehrte.

Was passiert, wenn sich die Familiengeschichte als zusammengeschusterte Chronik erweist? Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt? Wenn man als Künstlerin den Boden unter den Füssen verliert, alles, was Fundament war, sich in Treibsand verwandelt?

Carla wendet sich an Paul, ihren Grossvater, stellt ihn Jahrzehnte nach seinem Tod zur Rede, fordert ihn heraus, stellt auch ihrer Mutter die längst fälligen Fragen, beginnt sich tatsächlich zu emanzipieren. In den Briefen, den Liebesschwüren an Lili, als sie noch nicht verheiratet waren, der Krieg ihn zum Grenzschutz ins Tessin orderte und er mitansehen musste, wie ganze Familien an der Grenze zum faschistischen Italien auseinandergerissen wurden, wie man Menschen in den sicheren Tod zurückschicken musste und er sich nicht traute, Stellung zu beziehen, offenbart sich ein Mann ohne Rückgrat. Auch später im Dorf, als alle zu wissen schienen, dass Paul nicht nur eine Nebenfrau in der Stadt hatte, als man schon damals alles tat, um die Fassade aufrecht zu halten. Bis auf jener Reise zusammen mit ihrer Mutter, im Zug nach Hamburg, zu dieser einen grossen Ausstellung klar wird, dass auch der Mutter der Boden fehlte, bis in die Gegenwart.

Man spürt, dass Frédéric Zwicker schon seit Jahren auch als Kolumnist schreibt, im manchmal bissigen Ton, dem Beschreiben all jener Scherben, die eine gedankenlose Gesellschaft übriglässt. Carla versucht als Künstlerin mit filigranen Installationen auf das Zerbrechliche hinzuweisen. Zwickers Art zu schreiben, zu erzählen steht in einem erfrischenden Kontrast. Manchmal erinnert mich Zwicker an einen Elefanten im Porzellanladen. Aber wahrscheinlich braucht es solche polternden Elefanten, weil all die Tauben und Fastblinden sonst nichts mitbekommen.

„Carlas Scherben“ ist der Versuch des Ordnens, wenn alle Scherben ausgelegt sind.

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Als Gitarrist, Geiger, Komponist, Texter und Sänger spielt er bei ‹Hekto Super› und ‹MusiCucina›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. In Rapperswil organisiert er als Kulturveranstalter die Kleinkunstbühne ‹Im Urlaub› und andere Formate. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. 2009 wurde er mit einem Literatur-Förderpreis der Internationalen Bodenseekonferenz ausgezeichnet, 2017 mit dem Kulturförderpreis des Kantons St. Gallen

Rezension von «Hier können Sie im Kreis gehen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Radost» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Nikolai Wirsing

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge #SchweizerBuchpreis 23/06

Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.

„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert.

„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7

Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.

„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“

Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.

Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?

„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.

Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter. 

… und schön, dass der kleine Traditionsverlag «Zytglogge» als Rennstall mit von der Partie ist!

Interview

„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern?
An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum.
Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives.

Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen?
Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt.
Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.

aus dem Zettelkasten des Autors © Adam Schwarz

Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel?
Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.

Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren?
Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.

Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen?
Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an.
Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe.

Webseite des Autors

Illustrationen © leale.ch

Schweizer Buchpreis 2023: Die 5 sind da! #SchweizerBuchpreis 23/02

Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.

Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.

Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln.
Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!

 

«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller
Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard
Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.

Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.

«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will.
Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm.
Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. 

«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz
Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive.
Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun?
«Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin. 

«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke
Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde.
Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».

19. November 11 Uhr: Preisverleihung Schweizer Buchpreis 2023
Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Zur feierlichen Preisverleihung 2023 im Foyer des Theater Basel sind Sie herzlich eingeladen. Der Eintritt ist gratis, Tickets können Sie ab Mitte Oktober über die Webseite des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel beziehen.

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Andreas Neeser «Solangs no goht, chunnts guet», Zytglogge

Andreas Neeser ist vielfältig wie nur wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Ob Lyrik oder Prosa, ob kurz und knapp oder episch, ob in Deutsch oder seinem ganz eigenen Dialekt, ob in Verbindung mit Musik oder für Kinder … Andreas Neeser kann alles – und zwar meisterhaft.

In „Solangs no goht chunts guet“, acht Erzählungen, drei „Stückli“ und einem halben Dutzend  „Trooscht und Pfläschterli“ webt mich der Autor in eine Welt ein, die sich ganz unmittelbar gibt. Klar will der Autor unterhalten. Klar spielt er mit Wörtern, mit Sätzen, die auf ihre ganz eigene Art und Weise in mir nachhallen. Aber Andreas Neeser lädt mich ein, ein Stück mit ihm zu gehen. Sei es zum alten Vater, dem er im Übermut einen Elektroroller kauft, ein Schritt, der sich mannigfaltig rächt, zu einem Videocall während der Coronazeit mit den Eltern zuhause, mit Frau und Kind ans Meer, am Steuer eines Lasters durch den Stau… Erzählungen, die sich ganz auftun, getränkt von Ehrlichkeit und dem Bewusstsein, dass die Souveränität im Leben meist nur punktuell funktioniert. Ein Erzählton nie von oben herab oder distanziert. Da erzählt einer, als ob man nach langem Schweigen Rücken an Rücken irgendwo sitzt und genau spürt, dass es nicht darum geht, mit Klugheiten bestechen zu wollen. Manchmal ist in den Erzählungen auch eine ordentliche Portion Wut spürbar. Wut über die Kleinlichkeit, die Dummheit des Menschen. Eine Wut, die nachvollziehbar ist. 

Andreas Neeser «Solangs no goht chunnts guet», Zytglogge, 2023, mit Bildern und Collagen von Marianne Büttiker, 104 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-7296-5130-2

Erfischend dann, wenn der Witz durchbricht. Wenn in all der Not, in der sich die Personen in Neesers Erzählungen winden, der Schalk meinen Lesefluss ins Holpern bringt. Ein Humor, der sich nicht am Slapstick der Figuren labt, sondern an der Selbsterkenntnis des Autors. Die Erzählungen verpacken nicht den Humor. Humor blitzt auf, wie Einschliessungen, die sich mit der Lektüre in mein Bewusstsein ergiessen. Erfrischend, nie wohlweisslich!

Den einen oder die andere schreckt Mundartliteratur ab. Das kann ich nachvollziehen. Sperren sich doch die einen oder andern Dialekte nicht nur unseren Lesegewohnheiten, sondern auch unseren Sehgewohnheiten, wenn sich Wortbild und Inhalt jeder Zuordnung sperren. Andreas Neesers neuer Mundart-Erzählband lässt solche Argumentationen nicht mehr gelten. Jede einzelne Erzählung ist mit einem QR-Code versehen – und flugs liest mir der Autor selbst die Erzählung vor, ob im Zug, auf dem Sofa, dem Hometrainer oder beim Zahnarzt. Aber warum das Buch kaufen, wenn ich mir die Erzählungen vorlesen lassen kann. Weil das Lesen und Hören gleichzeitig einen ganz speziellen Genuss ausmacht. Es ist, als würde man die Texte doppelt gleichzeitig geniessen. Sie breiten sich aus, der Genuss scheint intravenös zu funktionieren, bewusstseinserweiternd.

Wer beides gleichzeitig geniesst, das Buch und des Autors Stimme (Andreas Neeser ist ein vortrefflicher Vorleser!), dem ist nicht nur Kammerpiel-Kopfkino garantiert, sondern das seltene Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu können.
Auch wenn Andreas Neeser nicht mit der grossen Geste zu überzeugen versucht – dieses Buch ist ein Mundart-Meisterwerk!

Und dann noch das eine: Auch wenn ich ganz und gar kein Freund von Paperback-Ausgaben bin. Umschlag und Erzählungen sind illustiert mit Bildern und Collagen der Basler Künsterin Marianne Büttiker, die auch schon frühere Mundartprosawerke des Autors bebilderte. Wunderbar schlichte Bilder, die in ihrer Offenheit und Verknappung die Texte Andreas Neesers auf ganz spezelle Weise spiegeln. Ein schönes Buch, trotz all dem eingepackten Schmerz!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht. «Nachts wird mir wetter» (2023) Kurzprosa und Lyrik, «Alpefisch» (2020) Mundartroman, «Wie wir gehen» (2020) Roman, «Nüüt und anders Züüg» (2017) Mundartprosa

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge

Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.

„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert. 

„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7

Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.

„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“

Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.

Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?

„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.

Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter.

Interview

„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern?
An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum. 
Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives. 

Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen?
Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene  Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt. 
Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.

Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel?
Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.

Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren?
Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.

Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen?
Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an.
Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt. 

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Stefan Dworak

Samira El-Maawi «Lyrikcollagen», Plattform Gegenzauber

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Samira El-Maawi, geb. 1980 in Thalwil, gelernte Drehbuchautorin, arbeitet als freischaffende Autorin und ist als Coach von Schreib- /und psychosozialen Prozessen tätig, lebt heute im Kanton Zürich.

In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel“ ist immer wieder durchsetzt von Sätzen, die wie Mantras auftauchen und manchmal ist ein Satz wie ein Monolith aus einer Seit ganz allein. Eine Geschichte, aus der die Autorin nicht aussteigen kann. Eine Geschichte, die einem bewusst macht, wie zerbrechlich das Fundament einer Zehnjährigen sein kann und wie viel Kraft eine junge Seele aufbringen muss, um zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen droht.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Franziska Reichel

Frédéric Zwicker «Songtexte», Plattform Gegenzauber

Ich möchte eine Ente sein

Was willst du werden, wenn du mal gross bist?
Und was soll nachher aus dir werden
Was willst du werden, wenn du mal tot bist
Weisst du, wir müssen alle sterben

Zum Glück gibt es die Buddhisten
Dank denen sind wir bald wieder hier
Man kann so ein Menschendasein schon mal fristen
Lieber wär ich ein anderes Tier

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben, bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

Hast du schon mal einem Stockentenweibchen so richtig tief in ihre Augen geschaut
Kannst du mir sagen, du hättest da deinen Gefühlen und Augen zu glauben getraut
Bei Entenschnäbeln und Entenbrüsten ist es im Nu um mich gescheh’n
Sowas Erotisches habe ich im ganzen Menschen und Tierreich noch nicht geseh’n

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

 

Hey Mond

Hey Mond – Hey Mond

Hey Mond, mach doch nicht so ein Gesicht
Da heulen ja die Wölfe, wenn sie dich sehen
Die Kinder geh’n ins Bett
Wo sie schreien oder sich schlafend stell’n

Langeweile ist manchmal sicher ein Grund
Dass Mensch sich schwertut

Als Mond ist man mal Sichel, mal rund
Kein Grund für Schwermu
Denk mal an die USA,
Kriege, Aids, Malaria

Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht

Ich säh dich gern bei Tag, doch du tanzt in der Nacht
Du hast deine ganz eigene Anziehungskraft
Warum du dein Licht unter den Scheffel stellst, weiss ich nicht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht

Kommende Auftritte:

Samstag, 21. Mai, Hekto Super Schaufenster-Session II, Esperanto Store, Tiefenaustrasse 2, Rapperswil SG

Donnerstag, 26. Mai, Insel Lützelau

Freitag, 10. Juni, Restaurant Bären, Marktgasse 9, Rapperswil SG

Samstag, 2. juli, Zeughausfest, Schönbodenstrasse 1, Rapperswil-Jona

Freitag, 2. September, Lottis Festival, Villa Grünfels und ZAK Jona SG

leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Aktuell tourt er neben seinem Schreiben als Leadsänger von ‹Hekto Super›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche, sein aktueller «Radost» 2020 bei Zytglogge.

Alexandra Lavizzari «Silke», ein Romananfang

Seit Tagen herrschte mieses Wetter. Ich meine, wirklich mieses Wetter. Nicht grollender Donner und blendende Blitze, das wäre ja noch aufregend gewesen, auch stürzten keine golfballgrossen Hagelkörner runter, nein, es tröpfelte nur leise, dafür anhaltend. Das war eine Weile in Ordnung, tut ja den Blumen im Garten gut, aber als es dann am nächsten und übernächsten Tag immer noch leise und anhaltend tröpftelte, wurde es langweilig, zumal das Grau über den Dächern sich auch nie veränderte oder, wenn man genau hinschaute, höchstens mal von asch- zu mausgrau wechselte und umgekehrt.
Mies eben.
Als ich jung war, verliefen meine Launen und Gemütsschwankungen unabhängig vom Wetter. Ich konnte im tiefsten Winter die glücklichste Schneeprinzessin sein und im Hochsommer ein Häufchen Elend. Mit zunehmendem Alter begann ich jedoch, mein inneres Klima dem äusseren anzugleichen, ich weiß nicht, warum das so ist; vielleicht waren es die Hormone, es sind ja immer die Hormone, wenn man nicht weiß, warum einem so oder so zumute ist, jedenfalls funktionieren wir inzwischen fast schon in vollkommener Harmonie, das Wetter und ich, womit ich letztlich sagen will, dass es mir damals seit Tagen mies ging.
Wenn es mir mies geht, schlurfe ich entweder ziellos durchs Haus oder verkrieche mich mit einem Buch ins Bett, das ich nach drei Seiten weglege, um mich unter der Decke zu verstecken. Das Herumschlurfen tue ich im Bademantel, denn zur miesen Befindlichkeit gehört, dass ich den Sinn des Duschens, Haarekämmens und Ankleidens nicht einsehe und es mir auch egal ist, was Martin von mir denkt. Jene Tage aber waren anders. Ich fühlte mich mies, keine Frage, doch duschte ich morgens, kämmte mich und zog auch was einigermaßen Hübsches an. Ich konnte sogar mit Martin einen Spaziergang machen und die Kirschblüten bewundern – wir waren im Mai – , und wenn es sein musste, führte ich auch ein Gespräch mit ihm. Es waren keine tiefen Gespräche, nichts Philosophisches oder Politisches, aber besprechen, was wir einkaufen sollten und wer diese Woche den Rasen mäht, das ging. Alles andere war verlorene Mühe, ich war einfach nicht dabei. Wer redete, war weit weg von mir, und ebenso erging es mir, wenn ich Nachrichten oder einen Film schaute. Bilder und Wörter bedeuteten rein gar nichts, und da sass ich dann Abende lang neben Martin auf dem Sofa und hatte keine Ahnung, was ablief.
Immerhin wusste ich diesmal, warum ich in diesem Zustand war. Das Wetter spielte sicher eine Rolle. Jedesmal wenn ich aus dem Fenster blickte, schlugen mir das leise, anhaltende Tröpfeln und ewige Himmelgrau ein bisschen mehr aufs Gemüt, aber der eigentliche Grund lag anderswo, nämlich buchstäblich in der obersten Schublade des Flurmöbels zwischen Schlüsselbund und Sonnenbrillenetui. Dort hatte ich Silkes neue Ansichtskarte versorgt. Ad acta gelegt sozusagen.
Wobei ich mir keine Illusionen machte; nach unzähligen ähnlichen Karten wusste ich, dass ich sie nicht so ohne weiteres würde ad acta legen können. Die Karte blieb in meinem Kopf eingraviert, ob sie nun im Flurmöbel lag oder im Papierkorb landete. Einstweilen hatte das Flurmöbel den Vorteil, dass die Ansichtskarte unsichtbar und gleichzeitig in Reichweite blieb. Ich konnte daneben stehen und es beim Zuknöpfens der Jacke bei einem flüchtig unangenehmen Gefühl belassen, oder, auch möglich, vor dem Hinausgehen die Schublade ziehen und mich der Ungeheuerlichkeit stellen. Letzteres wagte ich selten und nur, wenn ich allein war. Das unangenehme Gefühl war schwer genug zu verkraften, es schwankte zwischen Wut und Hilflosigkeit und machte mich grantig, doch mit etwas Glück lenkte mich Martin ab, weil er gerade den Mantelärmel nicht erwischte oder den Schirm nicht fand, so dass ich beim Helfen auf andere Gedanken kam.
Besagte Ansichtskarte war nicht irgendeine Ansichtskarte, sondern Silkes Ansichtskarte. Der Name stand gut lesbar am unteren rechten Rand hinter den herzlichen Grüssen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt gewesen, dass sie mir welche schickt. Überhaupt gab sich diese Karte verglichen mit früheren ziemlich harmlos. Keine Ansicht von Weimar mit tiefgründigem Goethezitat, keine Reproduktion von Magrittes ‚Die durchbohrte Zeit‘, über deren Bedeutung ich mir den Kopf zerbrechen musste, nichts Verfängliches diesmal, sondern bloss ein Strand, weit und golden wie auf Werbeprospekten, dahinter ein Streifen Meer, in das eine Seebrücke hineinwächst, und das Wort ‚Ahlbeck‘ in Kursivschrift quer über den Himmel gezogen. Ich hatte noch nie was von Ahlbeck gehört, doch dank Google war ich bald im Bild: Ahlbeck liegt auf der Insel Usedom nahe der polnischen Grenze, zählt zusammen mit Heringsdorf und Bansin zu den drei sogenannten Kaiserbädern und besitzt eine der imposantesten Seebrücken der Ostsee. Ein eleganter Bade-, Ferien- und Kurort also: Das passte zu Silke. Wenn ich mich nicht täusche, kam sie sogar von dieser Ecke.
Martin habe ich nie von Silke erzählt. Selbst am Anfang nicht, als wir uns noch für unsere Vorgeschichten interessierten. Ich beichtete ihm damals ein paar Ladendiebstähle und Tändeleien mit Unikollegen, erwähnte vielleicht auch diese oder jene Schulfreundin, mit der ich nach der Matur eine Weile in Kontakt blieb, aber über das letzte Schuljahr, jenes, in dem Silke zu uns stieß, habe ich stets geschwiegen. Hätte die Karte im Flurmöbel doch mal Martins Neugier geweckt, was ich bezweifelte, hätte ich versucht, so gelassen wie möglich zu antworten: „Silke? Ach, das ist eine ehemalige Schulkameradin von mir. Keine Ahnung, warum sie mir immer wieder Karten schreibt. Ich schreibe jedenfalls nie zurück, wüsste nicht einmal, wohin.“ Es wäre nicht gelogen gewesen – aber die Wahrheit wiederum auch nicht. Wie auch immer, ich brauchte mir deswegen keine Gedanken zu machen, Martin fragte nicht. Er stellt mir kaum Fragen, über meine Vergangenheit schon gar nicht. Vielleicht fürchtet er, ich könnte mit etwas Unerhörtem aufwarten, das ihm sein Bild von mir zerstört; er schaut mich manchmal ganz unauffällig von der Seite an und beisst sich dabei auf die Unterlippe, das tut er immer, wenn ihn etwas beschäftigt, aber wenn ich ihn frage, was los ist, ob ich Zahnpasta im Mundwinkel habe oder meine Wimperntusche schmiert, sagt er immer „nichts, Schatz, alles ist in Ordnung“ und blickt auf den Boden. So einer ist Martin. Ein Verschlossener, nach innen Gewandter. Einer, den ich an guten Tagen ‚mein stilles Wasser‘ nenne und an schlechten ‚die Wand‘.
An dem Tag war er irgendwie beides. Wir schwiegen während der ganzen Dauer unseres Spaziergangs zum Fluss und anschliessenden Einkaufsbummels. Daran ist an sich nichts Aussergewöhnliches, wir schweigen fast immer, wenn wir nebeneinander gehen, aber der Einkauf nahm dieses Mal mehr Zeit in Anspruch, weil ich im Bioladen Sanddornsaft und in der Papeterie Pauspapier kaufen wollte, und dort kam Martins zwiespältiges Schweigen plötzlich zu voller Geltung. Im Bioladen war es noch das klassische Stilles-Wasser-Schweigen, an das ich mich über die Jahre gewöhnt habe, aber als ich mir in der Papeterie noch das neu eingetroffene handgeschöpfte japanische Papier zeigen liess, spürte ich, wie sich Martin hinter meinem Rücken versteifte. Beim vierten Papierbogen war die Verwandlung vollzogen und es herrschte Wandschweigen. Klar, einkaufen ist nicht Martins Ding, ich weiß das, er kommt nur mit, um die Taschen zu tragen und mir nicht das Gefühl zu geben, dass ich immer alles allein machen muss. Vielleicht war es sogar meine Schuld, das Wandschweigen. Weil ich seine Geduld strapazierte, weil ich mich zu sehr ablenken liess, weil ich zu neugierig auf neue Produkte war, will heissen ‚zu kapitalistisch veranlagt‘, meinetwegen. Ich habe das alles, und mehr, schon hundert Mal aus seinem Schweigen herausgehört. Da Martin seine Vorwürfe jedoch nur im Extremfall ausspricht, kann ich nicht sicher sein, was ihn genau stört, und an jenem Morgen, da ich nicht bei der Sache war, schon gar nicht.
Immerhin hatte ich mir mit einem japanischen Papierbogen eine kleine Freude gegönnt. Es brauchte wenig, um meine Laune um ein paar Grad und ein paar Stunden zu heben, ein mit Goldpailletten durchzogenes Stück Washi, keine zehn Gramm schwer, und schon verzog sich ein Wölkchen am dunklen Horizont. Die schwerste Wolke aber drückte weiter auf meinem Gemüt. Als ich den Papierbogen im Atelier auspackte und mir schon ausmalte, wie der nächste Holzdruck darauf wirken würde, überrollte mich die Ungeheuerlichkeit von Silkes Karte wie ein Tsunami. Ich spürte, wie das Blut mir in den Kopf raste, sah für den Bruchteil einer Sekunde schwarz, ja, ich schwamm plötzlich in einem Meer unendlicher, tiefster Schwärze, schwankte haltlos, bevor ich irgendwie die Stuhllehne erwischte, mich setzen konnte und langsam wieder klar sah. Silke! Sie war vor neununddreissig Jahren gestorben! Sie konnte mir gar keine Karten schreiben, weder aus Ahlbeck noch aus Weimar. Und aus dem Jenseits schon gar nicht. Diese Einsicht war natürlich nicht neu, ich wusste in jeder Minute meines Lebens, dass Silke tot ist. Aber es gibt wissen und wissen. Wie beim eigenen Tod. Man weiß, dass man irgendwann drankommt, doch dieses Wissen dringt gewöhnlich nicht durch, es bleibt beim vagen Irgendwann, das kann man aushalten, und dann gibt es wie aus heiterem Himmel Momente, in denen die Einsicht tiefer dringt und unseren ganzen Körper, unser Denken und Fühlen schlagartig mit Grausen erfüllt.

Alexandra Lavizzari, 1953 geboren in Basel, studierte sie Ethnologie und Islamwissenschaft. Nach langjährigen Aufenthalten in Nepal, Pakistan und Thailand lebt sie seit 1999 in Rom, in der Schweiz und in England. Sie schreibt für Schweizer Zeitungen und ist Autorin von zahlreichen belletristischen, kunstgeschichtlichen und literaturkritischen Werken. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bieler Literaturpreis, dem 13. Würth Literaturpreis, der Poetik-Dozentur der Universität Tübingen und dem Feldkircher Lyrikpreis.