Susanne Gregor «Halbe Leben», Zsolnay

Der Roman beginnt mit einem Drama. Susanne Gregor lässt keinen Zweifel aufkommen; die Geschichte endet tötlich. Die Frage ist nur; ein Unfall oder mehr? „Halbe Leben“ ist ein Roman über die gescheiterten Lebensentwürfe zweier Frauen. Symtomatisch für eine Zeit, die noch weit davon entfernt ist, dass Rollenbilder nicht zur Falle werden.

Klara scheint ein erfolgreiches Leben zu führen. In ihrem Beruf ist sie drauf und dran zur Teilhaberin zu werden. Sie wohnt mit ihrem Mann Jacob in einem grossen Haus. Ada, ihre gemeinsame Tochter, ist zehn, nimmt Anlauf in die Pubertät. Klara fühlt sich ihren Aufgaben als Mutter im Gegensatz zu jenen im Beruf als Architektin oft nicht gewachsen. Sie ist ganz froh, dass auf der einen Seite ihre Mutter Irene Ankerplatz für Ada ist und sich ihr Mann mit der nötigen Ruhe um Familienangelegenheiten kümmert. Jacob, einst hoffnungsvoll gestartet in eine Karriere als Berufsfotograph, hat sich nach Aufgabe seines Geschäfts der künstlerischen Seite der Fotographie zugewendet. 

Bis ein Schlaganfall Klaras Mutter alles ändert, Klara in ein unstetes Hinundher einspannt, und Jacob den Vorschlag macht, Klaras Mutter zu ihnen ins Haus zu nehmen. Ein paar kleine bauliche Anpassungen und man kann Irene etwas davon zurückgeben, was sie ein Leben lang als Mutter in die Familie investierte. 

Klara kann als Tochter schlecht etwas dagegen haben, obwohl sie genau spürt, dass die neue Situation unter ihrem Dach, die guten Karten im Beruf neu zu sortieren droht. Man einigt sich schnell, eine Pflegekraft zu engagieren, findet Paulina, eine ausgebildete Krankenschwester, die hier über der Grenze ein weitaus besseres Einkommen in Aussicht hat, als in der Slowakei. Aber so sehr die Stelle auf der anderen Seite der Grenze lockt, so sehr belastet Paulina die Situation, in der sie ihre Familie im Zwei-Wochen-Rhythmus alleine lassen muss. Der Vater ihrer beiden Söhne hat sich schon länge aus dem Staub gemacht und die Schwiegermutter, die sich um die beiden Knaben kümmert, sendet unzweifelhafte Signale, was sie von einer nicht anwesenden Mutter hält.

Susanne Gregor «Halbe Leben», Zsolnay, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-552-07523-8

Paulina gibt sich mit all ihrer verfügbaren Energie in ihre Aufgabe als Pflegerin und Betreuerin von Irene, die sie mit ihrer Freundlichkeit und Entschlossenheit schnell für sich gewinnt. Zumindest für Klara scheint sich die Situation zum Guten zu wenden, auch wenn das schlechte Gewissen nicht verschwunden ist. Mit einem repräsentablen Auftrag in der Firma festigt sich dort die Hierarichie zu ihren Gunsten, obwohl sich zuhause das Gravitationsfeld innerhalb der Familie mehr und mehr verschiebt. Je unverzichtbarer die Aufgaben, die Anwesenheit von Paulina, desto grösser die Begehrlichkeiten. Nach und nach verschwinden Grenzen, der Dominoeffekt von grösseren und kleinen Übergriffen vergiftet das anfänglich so unverkrampfte Gefüge im Haus von Klara und Jacob.

Und als sich die Situation mehr und mehr zuspitzt, Irenes Gesundheit immer instabiler wird, man Adas Wunsch nach einem Hund nachgibt und Klara eine weitere Schwangerschaft zulässt, kippt es. Susanne Gregor erzählt vielperspektivisch und nüchtern. Es geht ihr nicht darum, das Geschehen dramatisch aufzuheizen. Sie zeigt schonungslos, was in der Gegenwart heisst, möglichst allen Anforderungen gerecht zu werden. Zwei Frauen, die sich in ihrem Lebensplan an einem Punkt sehen, an dem sie durch Umstände, Schicksal und Zwänge gelandet sind, sich dessen aber ganz unterschiedlich bewusst sind. Männer, die sich durch ganz unterschiedliche Abwesenheiten distanzieren und ein Familiengefüge, das sich mehr und mehr auf Organisation abstützt. Leben, die sich an ihrer finanziellen Freiheit messen.

Susanne Gregors Roman konfrontiert mich mit ganz vielen existenziellen Fragen: Was sind die Prioritäten in meinem Leben? Wie sehr kommen sich Lebensentwürfe einer Familie in die Quere? Was passiert dereinst mit mir, wenn ich alt und gebrechlich werde? Wäre ich in der Lage, meine Mutter, meinen Vater zur Pflege bis zum Tod nach Hause zu nehmen? Was passiert mit mir, wenn jene Personen, die einst als Eltern Kraft und Fundament ausmachten zu hilfsbedürtigen Patienten werden?

„Halbe Leben“ ist ein Roman über jene Leben, die nur voll, ganz sein können, wenn andere dafür „dienen“, ein Roman über Abhängigkeiten, über Nähe und Distanz – und nicht zuletzt über Familien, die in der Gegenwart mehr und mehr von Gesellschaft, Wirtschaft, von Erwartungen und Entfremdungen zerrieben werden.

Susanne Gregor erzählt gekonnt, bläht nie auf, bleibt ganz eng an ihrem Personal und spielt den Ball stets zurück an mich als Leser. Beeindruckend!

Interview

Klaras Familie ist ziemlich genau das, was eine moderne Familie ausmacht, oder zumindest das Ideal davon. Man lebt in finanzieller Sicherheit, in einem grossen, stylischen Haus. Mutter und Vater verwirklichen sich. Es gibt ein gesundes Kind, dessen Betreuung auch einmal die Grossmutter übernimmt. Aufgaben sind aufgeteilt. Der Wagen rollt. Und trotzdem funktioniert das sehr anfällige Gefüge nur, wenn alle Zahnräder ineinander passen, wenn das Organisieren klappt. Wehe, wenn Unvorhergesehenes einen Knüppel ins Gefüge wirft. Werden wir nicht zusehens Opfer eines Organisationszwangs? Wo ist da die Freiheit, wenn alles funktionieren muss?

Ich denke, es ist das Symptom einer Wohlstandsgesellschaft, anzunehmen, dass man alles immer genau so haben kann, wie man es sich vorstellt und es nicht gut verträgt, wenn „Sand ins Getriebe kommt“. Die Karriere soll funktionieren, die Kinder sollen versorgt sein, das Bankkonto angenehm gefüllt sein, die Ehe funktionieren, etc.. Niederlagen, Einbrüche, Krankheiten, all das erzwingt ein gewisses Verlangsamen, ein Umstellen, ein Sich-einander-zuwenden, sich neu sortieren. Das ist ein Prozess, der viel von einem abverlangt und ich glaube, wir haben ein wenig verlernt, uns auf das Leben einzulassen, wie es in diesem Moment ist und haben zu fest unsere Pläne und sogenannten „Lebensentwürfe“ im Kopf. Wir sind es gewohnt zu nehmen und zu bekommen und das plötzliche Geben-müssen ist schwer.
Und vergessen wird auch nicht, dass in diesem Roman alles Schwere auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird. Vor allem auf dem Rücken von Paulina. Aber auch Klara hat es nicht leicht. Die Männer ziehen sich, wie auch in Realität leider allzu oft, aus der Verantwortung, gerade wenn es um die Pflege der Angehörigen geht. 

Schon auf den ersten Seiten des Romans stürzt Klara bei einer Wanderung tödlich. Die Ungewissheit darüber, wie zufällig dieser Unfall ist, begleitet einem tief in ihren Roman. War von Beginn weg klar, dass die Geschichte zu einer Katastrophe werden muss? Sie schildern den Knall und danach, wie die Lunte brannte.

Ja, die erste Szene war für mich von Anfang an klar. Ich wusste, dass der Roman mit diesem Unglück, diesem Tod beginnt und mit dieser Ungewissheit, die sich am Ende auflösen wird. Welche Gewissheit aber am Ende der Geschichte stehen wird, wusste ich selbst auch nicht. Erst schreibend ergab sich diese Auflösung, erst im letzten Drittel des Textes begann ich selbst zu begreifen, wie das Ende aussehen sollte.

Klara, die erfolgreiche Architektin, irgendwo in Österreich und Paulina, die ausgebildete slowakische Pflegefachfrau, die in Österreich viel mehr verdient als in ihrer Heimat. Wirtschaftliche Gründe, der Wunsch, Kinder sollen es dereinst besser haben, treiben Paulina über die Grenze und über Grenzen. Beide Frauen werden in ihren Pflichten, in den Anforderungen an sich selbst, ihrem Selbstverständnis zerrissen. Ein Zustand, an dem viele zu zerbrechen drohen. Familie und Arbeit. Ist das der Preis der Moderne? Der Preis, weil man von beidem möglichst viel bekommen will?

Ja, dieser Slogan, Frauen können alles machen und alles schaffen, geht oft mit der unausgesprochenen Anforderung einher, sie müssten alles gleichzeitig schaffen können. Die Gesellschaft fordert von Frauen, zu arbeiten als hätten sie keine Kinder, und sich um die Kinder zu kümmern, als hätten sie keine Arbeit. Und Frauen selbst haben auch zu hohe Ansprüche an sich, an denen sie eigentlich nur scheitern können. Aber wir müssen hier auch unterscheiden: Klaras Ansprüche sind zumindest zu einem gewissen Mass selbst gewählte Ansprüche, während Paulína durch eine finanzielle Notlage und ihre Situation als Alleinerzieherin sehr fremdbestimmt ist. 

Klaras Mutter braucht in ihrer fortschreitenden Demenz Unterstützung. Klara und Jacob nehmen sie zu sich nach Hause, was alles andere als selbstverständlich ist. Und trotzdem ist es der Beginn einer sich anbahnenden Katastrophe. Warum ist man oft viel zu lange blind, bis es kein Zurück mehr zu geben scheint?

Manchmal geht alles schief, trotz bester Intentionen. Man überschreitet hie und da seine eigene Grenze, lehnt sich hie und da zu weit aus dem Fenster und übersieht den Zeitpunkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Manchmal scheint ein offenes Gespräch zu schwierig, zu riskant, das haben wir alle schon einmal erlebt. Und in Klaras Fall – manchmal ist man, mit einer schwierigen Situation konfrontiert, egoistischer, als man dachte, als man ist. Ich denke, so geht es uns allen, wir könnten alle sowohl Paulína als auch Klara als auch Irene sein. Auch Gutmenschen machen Fehler.

Was mich an Ihrem Roman beeindruckt, ist die Erzählweise, die Komposition, wie sie Themen Schicht für Schicht übereinanderlegen und sie verweben. Sie wechseln Perspektiven, die Tonalität ihrer Erzählstimmen. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich die Gefühlslage des Personals einem gewissen Farbspektrum zuordnen könnte. War das Schreiben des Manuskripts ein organischer Vorgang oder das Resultat strategischer Planung?

Es war ein unglaublich organischer Vorgang. Der Roman war ungewöhnlich schnell geschrieben, in kaum drei Monaten stand alles auf Papier. Ich schrieb Seite um Seite, Szene um Szene ohne grosse Planung. Manchmal dachte ich, ich weiss, wie es weitergeht, als ich mich zum Laptop setzte, und dann passierte schreibend doch etwas ganz anderes, was mich selbst überraschte. Ich wusste selbst nie genau, wohin dieser Roman ging, erst am Ende enthüllte sich mir alles – ein bisschen wie dem Leser selbst. Ich versuchte schreibend einfach zwischen den Personen hin- und herzuschwingen, zwischen dem Blick der Slowakin auf Österreich und dann dem Blick der Österreicherin auf ihr Umfeld – beides Blicke, die ich aus meiner eigenen Perspektive und Erfahrung gut kenne. Aus diesem Erfahrungsschatz schöpfte ich, weniger was den Plot betraf, als was die Erfahrungswelten der Charaktere anging. 

Susanne Gregor, geboren 1981 in Žilina (Tschechoslowakei), zog 1990 mit ihrer Familie nach Österreich und lebt heute in Wien. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane «Das letzte rote Jahr» (2019), «Wir werden fliegen» (2023).

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Heribert Corn/Zsolnay

Gaea Schoeters «Trophäe», Zsolnay

Wie weit wir uns als Menschen aus dem Gefüge der Natur entfernt haben, davon erzählt Gaea Schoeters beeindruckender Roman. Sie beschreibt jene Sorte Mensch, die sich als absoluten Mittelpunkt des Seins sieht und selbst den Kampf um Leben und Tod zu einem Spiel erklärt, dessen einziger Zweck die Befriedigung einer Herausforderung ist.

Klar geht es in diesem Roman um einen Mann, der in der Grosswildjagd jenen Nervenkitzel sucht, den ihm sein Leben als Immobilienhai nicht bieten kann. In dessen Leben Geld längst keine Rolle mehr spielt und dessen Sehnsucht nach Glück, Befriedigung und Zufriedenheit eine ganze Maschinerie in Bewegung setzt, die an Dekadenz kaum zu überbieten ist. Ein Mann, der seine Sicht der Dinge, seinen Blick auf die Welt längst so ausgerichtet hat, dass jede seiner Handlungen «zum Wohl der Gemeinschaft» beiträgt.

Klar verfolge ich als Leser mit angehaltenem Atem den ungleichen Kampf der letzten Giganten in den immer enger werdenden Weiten Afrikas. Aber Gaea Schoeters macht mit ihrem Roman viel mehr, auch wenn sie mit scheinbar profanen Mitteln der Spannung eine Geschichte erzählt, in der es um alles und nichts geht.

Hunter White stammt aus einer Jägerdynastie. Männlichkeit, Erfolg und Prestige werden mit grosskalibrigen Gewehren geschrieben. Sein Dasein misst sich an jenen Momenten, in denen er über das Leben jener gebietet, die in der Natur sonst kaum je die Gejagten sind. Die Big Five Afrikas sind das Mass aller Dinge; Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard. Zusammen mit seinem Freund und langjährigen Jagdpartner Van Heeren, der in Afrika lebt und alles, was an Equipment zu einer solchen Grosswildjagd organisiert, bricht Hunter auf, unterstützt von einheimischen Fährtensuchern und aller notwendigen technischen Ausrüstung, einen alten Nashornbullen zu jagen, selbstverständlich mit einer teuer erkauften Lizenz, die das Überleben aller anderen Tiere in der Gegend sichern soll.

„Für ihn ist Afrika ein grosses Naturreservat, von Gott geschaffen, um ihm Freude zu bereiten.“

Gaea Schoeters «Trophäe», Zsolnay, 2024, aus dem Niederländischen von Lisa Mensing, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-552-07388-3

Doch die Jagd endet in einem Desaster. Hunter schrammt nicht ein erstes Mal knapp am Tod vorbei, auch wenn das zum Nervenkitzel dieser teuren Freizeitbeschäftigung gehört. Man bringt ihn um diesen einen Schuss, die Big Five voll zu machen. Ein Versäumnis, das im ersten Moment durch nichts zu ersetzen ist, ein Coitus interruptus des Jagens. Um ihm, der für sein Vergnügen teuer bezahlte, einen ebenbürtigen Ersatz zu bieten, ein anderes Ziel in einer ganz anderen Dimension verspricht, flammt die Lust, die Herausforderung neu auf, auch wenn die lebende Zielscheibe diesmal eine ganz andere Dimension aufreisst. Von den einheimischen Jägern gefeiert, stellt man ihm !Nqate zur Seite, einen afrikanischen Jäger, der sich nicht nur in der Gegend auskennt, einen Einheimischen, einen Jäger in afrikanischer Tradition. Sie brechen auf in ein Abenteuer mit offenem Ausgang, einem letzen Gegenübertreten zweier ungleicher Welten, einem Showdown mit tödlichem Ausgang.

Es ist nicht einfach eine „wilde Geschichte“, ein afrikanisches Duell in einer aus westlicher Sicht fast lebensfeindlicher Umgebung. Gaea Schoeters stochert in einem Riss tektonischer Platten. Einem Riss der Weltansichten. Dem Riss zwischen westlicher Weltsicht, die die Natur längst zum Freizeitpark erklärt hat und Jagd zu einer Mischung aus Kosmetik und Regulierung, und der traditionellen afrikanischen Sicht, in der die Jagd ein Teil des Überlebens ist, eine Notwendigkeit, die rein gar nichts mit Vergnügen zu tun hat. Hunter wird zum Prototypen westlicher Dekadenz, einer Art Mensch, die sich die ganze Welt untertan macht, die sich Macht mit ihrem unermesslichen Reichtum erkaufen kann, die das Blut fliessen lassen muss, um sich selbst lebend zu spüren.

„Der Augenblick, in dem er, der Jäger, über Leben und Tod entscheidet. Danach verlangt er. Das treibt ihn an.“

Am stärksten in diesem Roman sind die Szenen und Dialoge zwischen den Jägern Hunter und !Nqate auf ihrem Tripp durch die Savanne. Jagd ist nicht gleich Jagd. In Zeiten, in denen wir unseren Fleischhunger mittels Massentierhaltung stillen, wird die Jagd sehr schnell zum Spiel mit maximalem Nervenkitzel. Royale Fotos von Prinzen auf Grosswildjagd generieren höchstens Kopfschütteln und Hemingways Posieren Peinlichkeit. „Trophäe“ trifft mitten ins Herz!

Gaea Schoeters, geboren 1976, ist eine flämische Autorin, Journalistin, Librettistin und Drehbuchautorin. 2012 hat sie den Großen Preis Jan Wauters für ihren kreativen Umgang mit Sprache gewonnen. Für «Trophäe» wurde sie mit dem Literaturpreis Sabam for Culture ausgezeichnet. 

Lisa Mensing, geboren 1989, übersetzt Prosa, Poesie und Theaterstücke aus dem Niederländischen und arbeitet am Institut für Niederländische Philologie der Universität Münster.

Beitragsbild © Sébastien Van Malleghem

Birgit Birnbacher «Wovon wir leben», Zsolnay

Eine noch junge Frau, die aus ihrem in Schräglage gekommenen Leben entfliehen will, möchte eigentlich nur für eine gewisse Zeit ins Haus ihrer Eltern zurück, eine Auszeit, um sich neu orientieren zu können. „Wovon wir leben“ erzählt, wie sehr ein guter Plan ins Wanken geraten kann.

Julia ist Krankenschwester und muss ihre Sachen packen. Man hat ihr nach einem Arbeitsunfall im Spital gekündigt. Sie gab einer Patientin ein falsches Medikament, was der Frau beinahe das Leben kostete. Fahrlässigkeit. Sie muss ihre Sachen packen, weil die Wohnung dem Arbeitgeber gehört. Sie muss ihre Sachen packen, weil ihr Krankenstand zu Ende geht, nachdem ihr asthmatische Anfälle immer leichter den Atem nehmen. Und Julia packt ihre Sachen, weil Johannes, der verheiratete Arzt, mit dem sie ein Verhältnis hatte, nicht wahrhaben will, dass alles anders ist. Und weil Julia bisher ganz Krankenschwester war und weder Zeit noch Energie reichte, um neben der Arbeit eine Existenz aufzubauen, scheint wegen finanzieller Engpässe das Haus ihrer Eltern, der Ort, den sie einst endgültig verliess, die einzige Möglichkeit einer begrenzten Auszeit zu sein. Das Dorf im Innergebirg, nur eine Stunde von der Stadt entfernt, aber durch ein ganzes Bergmassiv von der Sonne abgeschnitten.

Schon damals, als sie ging, was das, was von Familie geblieben war, ein Trümmerfeld. Vater und Mutter schwiegen sich gegenseitig in Grund und Boden und ihr Bruder David lebte nach einer Hirnhautentzündung, die der Betriebsarzt als Bagatelle weggewinkt hatte, weggestellt in einem Heim, als vegetierender Rest seiner selbst. Aber als Julia nach Hause kommt, ist auch die Mutter weg, mit sechzig nach Sizilien getürmt, ins Land der Zitronen. Was vom Vater übrigbleibt, ist ebenfalls bloss noch ein Rest, nachdem man die Fabrik im Dorf, die seine Existenz ausmachte, schliessen musste, der alte Mann gezwungen war, mit einem Mal selbst für sich und das Haus zu sorgen. Eine Aufgabe, die ihn heillos überforderte. Grund genug, dass dieser hoffte, die Rückkehr seiner Tochter würde auch seinem Elend helfen.

Birgit Birnbacher «Wovon wir leben», Zsolnay, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-552-07335-7

Julia spürt schnell, dass sie vom Regen in die Traufe geriet, dass sich im Dorf seit ihrem Wegzug nichts zum Guten änderte. Im Gegenteil; das Dorf, das sich einst von drei grossen Arbeitgebern nährte, darbt. Der einzige Ort, an dem noch ein letzter Rest Leben im dicken Zigaretten- und Alkoholdunst pocht, ist die letzte Kneipe im Ort. Aber eigentlich auch ein Unort, denn all die Gescheiterten und Gestrandeten sind unter sich. Das einzige Haus, in dem die Uhren anders zu ticken scheint, ist jenes von Potutznik, dem Antiquar, dem aber schon lange niemand mehr etwas abkauft, bei dem sich aber ganz unerwartet ein Städter einquartiert; Oskar.

So wie Oskar ein Entflohener ist, so ist es Julia. Nur demonstriert Oskar mit all seinem Tun, es wäre stets alles möglich, während Julia darum kämpft, genug Luft zu kriegen. Luft in ihre gestresste Lunge, Luft in ihrer Familie, in der schon lange das grosse Schweigen ausgebrochen ist, Luft in ihrem Leben, das sich nicht aus Pflichten und Zwängen zu befreien vermag.

Als Oskar, der Städter, in einer Befreiungsaktion für eine Ziege gleich den ganzen Gasthof vom alkoholkranken Wirt im Spiel gewinnt, als man hinter dem Wirtshaus einen stinkenden Kadaver findet, als Julias Vater sich im Wald mit einer Axt verletzt und sich in Julias Zukunft ein Silberstreif abzeichnet, überstürzen sich die Ereignisse.

„Wovon wir leben“ ist ein hartes Stück Konfrontation. Es erzählt von den Verlierern der Gesellschaft, von jenen, die man stehen und fallen lässt. Von Menschen, denen es nie gelingt, aus den Mechanismen der Gewohnheit auszusteigen. Birgit Birnbacher kommt mit ihrem unmittelbaren Erzählen ganz nah. Nichts, keine Szene ist emotional überladen, dem fremd, wovon wir spüren, das es „normal“ ist. Birgit Birnbacher zerreisst nicht, richtet nicht. Die Autorin spürt der Frage nach, wieviel wirklich möglich ist, wie sehr wir von uns selbst gefangen gehalten werden. Ein starkes Stück Literatur!

Interview

„How happy the lover, how easy his chain“, von John Dryden steht als Zitat im Vorsatz Ihres Romans. Julia muss aus ihrem Leben aussteigen, will eigentlich nur eine Auszeit, in der sie neue Kräfte sammeln kann. Oskar, der Städter, steigt auch aus, setzt sich ab mit einem gewonnenen Grundeinkommen. Beide Absteiger reagieren aber völlig verschieden, nicht zuletzt darum, weil Julia zurückkehrt und Oskar wegfährt. Kann man seiner Vergangenheit entfliehen?
In aller Kürze, wenn ich mich daran orientiere, was in dem Buch steht, und das noch ein wenig zuspitze, würde ich sagen: Man kann, vor allem, wenn man ein Mann oder eine männlich gelesene Person ist. Für alle anderen wird es schon komplizierter, wenn es um die Sorgearbeit für die Kinder und die Alten geht. Oskars Eltern werden auch alt, aber er spürt viel weniger Zwänge als Julia – weil er eine Schwester hat. Julia hat nie Kinder bekommen, sie war damit beschäftigt, Eltern zu haben. Was tun wir aus Liebe, was aus Zwang, und wo überschneiden diese beiden Motive sich? Das waren einige dieser Fragen, die mich während des Schreibens beschäftigt haben. 
 
Julias Mutter hat sich nach Sizilien abgesetzt, das Haus, in dem sie so vielen zu ertragen hatte, zurücklassen, ebenso ihren Mann und David, ihren Sohn. Ein Schritt, der nur den wenigsten dieser Generation gelang, obwohl viele Frauen Gründe genug gehabt hätten, in den Zeiten des Aufschwungs ihre Häuser zu verlassen, denn jene Selbstständigkeit, die man ihnen in den Kriegsjahren gewähren musste, musste am Herd im Dienste des Patriarchats geopfert werden. Ist ihr Buch ist auch ein Roman über Selbstverständlichkeiten, die wie Harz an uns kleben?
Ich erlebe oft, dass Frauen meines Alters dem Schicksal ihrer Mütter (lebenslang oft unbezahlte Arbeit, die ihnen weder Familie, noch Gesellschaft oder das Pensionssystem jemals danken) völlig ratlos gegenüberstehen. Am meisten wundert sie oft, dass ihre Mütter nicht einmal wütend sind. Sie sind es nicht anders gewohnt gewesen und haben jetzt, mit 70, keine Lust mehr, noch einmal alles über den Haufen zu werfen. Julias Mutter ist anders, sie bricht mit Mitte sechzig noch einmal aus und die Familie muss sehen, wie sie allein zurechtkommt

Julias Bruder David spricht nicht mehr. Seit seiner Hirnhautentzündung ist er nur noch ein Schatten. Damals war es der Fehler eines Arztes, ein Fehler, der von Julias Vater stets gedeckt wurde, ein Fehler, der rechtzeitig erkannt, niemals jene Auswirkungen hätte haben müssen. Etwas, über das nie gesprochen, nicht einmal richtig gestritten wurde, sich aber wie eine Urschuld als klebriger Schlick über die Ehe legte. Ich sehe das Verstummen von Ehen in meiner Umgebung auch, dass es bis zu einem gewissen Punkt die Chancen der Rettung gäbe, man diese Chancen aber verpasst. Julias Eltern gehören nicht in der Generation der Therapierten. Schweigen als eine der Ursuppen, in der die Schuld zum Schlick wird?
Schweigen ist im Inngebirg, wo der Roman spielt und ich herkomme, eine gängige Kommunikationsform. Ich sehe die österreichische Sprache ja als eine Art abdekoriertes Deutsch. Es besteht hauptsächlich aus Verknappung. Vieles wird mit einem Wort einfach weggewischt. In die Lücken, die dabei im Sprechen entstehen, hineinzuschreiben, hat mich immer gereizt.

Auch Julia lebt mit einer Schuld, einem Fehler, der ihr die Arbeit und einer Patientin beinahe das Leben kostete. Auch Julia spricht nicht darüber. Statt dessen treibt sie scheinbar in den Genen festgesetztes Pflichtgefühl zurück an den elterliche Küche. Wir haben Rollen. Viele übernehmen wir mit aller Selbstverständlichkeit. Warum so wenig Rebellion?
Julias Rebellion ist nicht laut und polternd, sie ist bedacht und überlegt, dafür zielführend. Das ist es auch, was mir viel mehr entspricht. Der Instagram-Appellfeminusmus geht mir auf die Nerven. Während Frauen sich im Internet gegenseitig applaudiert haben, hätten wir heraußen schon zehn Revolutionen gehabt.
 
Julia ist aus der Erwerbsarbeit gefallen, weil ihr ein Fehler passierte. Oskar wurde von einem Herzinfarkt aus seiner Arbeit katapultiert. Julia war eine Krankenschwester mit Leib und Seele, Oskar ein Bürogummi mit aufgegebenen Ambitionen. Beide gingen weg und beide reagieren vollkommen unterschiedlich. Ihr Roman ist wie eine Versuchsanordnung. War der Weg ihrer Geschichte schon von Beginn weg klar oder haben die „mitgeschrieben, was passiert“?
Nein, ich plotte nicht, so funktioniert das bei mir nicht. Das muss alles aus der Sprache entstehen. Für mich selbst wäre das Schreiben nach Reißbrett etwas sehr Fades. Ich möchte ja in erster Linie auch einen Erkenntnisgewinn haben und finde das immer wieder faszinierend, wenn er tatsächlich aus der Sprache kommt.

Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman «Wir ohne Wal» (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2020 erschien bei Zsolnay der Roman «Ich an meiner Seite».

Beitragsbild © Siegrid Cain

Hans Platzgumer «Bogners Abgang», Zsolnay

Eine Kreuzung mitten in der Stadt, mitten in der Nacht. Ein Auto fährt einen Mann, der mit einem Mal aus dem Dunkel auftaucht, von der Strasse. Was nach einem Unfall aussieht, wird zur Tragödie. Wer trägt die Schuld für das, was passiert? Wer fällt das Urteil?

Andreas Bogner ist Künstler und lebt in Innsbruck, verheiratet und doch mehrheitlich allein in seiner grosszügigen Atelierklause über dem Gewusel der Stadt. Dass ihm der Erfolg als Künstler nicht an den Fersen klebt, erklärt sich Bogner zum einen an seinem fehlenden Existenzkampf, der Tatsache, dass er seinen Lebensunterhalt nicht erstreiten muss, weil ihm sein Vater Mittel genug hinterlassen hatte. Zum andern glaubt Bogner, dass man ihn nicht verstehen will, seine Kunst, seine Sprache, obwohl er sich aus seiner Sicht doch ziemlich deutlich von der regionalen Kunstszene absetzt. Gefüttert wird seine Ansicht durch Schreiberlinge wie den selbstherrlichen Kunstkritiker Kurt Niederer, der ihn immer wieder geflissentlich vorführt und ihn zu einem Exemplar oberflächlicher und selbstherrlicher Möchtegerngenies macht. Kein Wunder, dass es Andreas Bogner am wohlsten ist in seinem Atelier, wo er weder auf das Klingeln der Haustür noch auf die Anrufe seiner Frau reagiert. Dort in jenen vier Wänden ist der einzige Ort, an dem man ihm sein Leben, seine Existenz, sein Tun, seine Kraft, seinen Rausch nicht streitig macht.

Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem er während Stunden an einer Zeichnung arbeitet, einem Portrait einer Walter PPK 7,65 mm, einer Pistole aus dem Waffenschank seines Schwiegervaters, den er lange genug bearbeiten musste, bis dieser ihm widerwillig die Waffe für einige Tage im Atelier überliess. Bis er an diesem Abend per Zufall eine Sendung im Radio hörte, in der der Kunstkritiker Kurt Niederer, sein ganz persönlicher Scharfrichter, zum Todesstoss gegen ihn den Künstler ausholte. Bis er die Waffe entgegen allen Versprechungen seinem Schwiegervater gegenüber packte und sich in der angebrochenen Nacht auf der anderen Strassenseite von Niederer Stammlokal in Stellung brachte.

Hans Platzgumer «Bogners Abgang», Zsolnay, 2021, 134 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-552-07204-6

Nicola Pammer studiert in Innsbruck Deutsch auf Lehramt. Eigentlich kommt sie aus Bregenz und fühlt sich alles andere als wohl in der Stadt am Inn. Noch viel weniger in der lauten WG und dem winzig kleinen Zimmer, dass sie nur mit Stöpseln in den Ohren bewohnen kann. Wenn immer möglich fährt sie an den Wochenenden zurück in die Stadt am See, zu ihren Eltern, in das Leben, das sie ursprünglich dachte, hinter sich lassen zu können. Bis zu diesem einen Abend, als sie sich zu einer Party überreden lässt und das eine oder andere Glas zu viel trinkt. Als sie sich dann doch hinter das Steuer des Autos ihrer Mutter setzt und glaubt, es wäre eine gute Idee, die leeren Strassen, die kaputte Stadt hinter sich zu lassen. Bis ein Rumps durch den alten Ford Fiesta geht und sie im gleichen Moment weiss, dass sie jemanden angefahren hat, kurz das Auto stehen lässt, um dann doch wegzufahren, nicht auszusteigen, nicht zu helfen, nicht zu tun, was ihre Pflicht gewesen wäre. Sie fährt zu ihrer Mutter. Und weil sie die Schuld nicht allein auf ihren Schultern tragen kann, erzählt sie der Mutter, warum sie keine Ruhe mehr findet, warum sie es nicht mehr für sich behalten kann. Erst recht, als in den Nachrichten berichtet wird, dass ein bekannter Journalist und Kunstkritiker mitten in der Nacht angefahren wurde und am darauf folgenden Tag im Spital seinen Verletzungen erlag.

Hans Platzgumer verwebt Leben, die sich sonst nie ineinander verhakt hätten. Er lässt Leben eskalieren, Leben entgleisen. Platzgumer konfrontiert mich mit den kleinen und grossen Grausamkeiten des Lebens, der Willkür des Schicksals, den Tiefschlägen des Zufalls. Alles kippt in einem winzig kurzen Augenblick. Was vorher fest verankert und tief verwurzelt schien, ist mit einem Mal im freien Fall. „Bogners Abgang“ ist kein Krimi, auch wenn da eine Waffe knallt, auch wenn ein Verzweifelter in der Genueser Unterwelt kiloweise Trockeneis besorgt, wenn eine Mutter mit voller Absicht ihren Fiesta gegen die Wand fährt und den Wagen für einen Tausender an einen Autohändler vertickt, nur um ihre Tochter vor den Fängen der Justiz zu schützen. Hans Platzgumer zeigt, wie dünn das Eis ist, wie schmal der Grat, wie bröcklig das Fundament. Wie tief uns Eitelkeiten und Ängste hinabstossen können und wie schnell der freie Fall Fahrt aufnimmt.

Man fällt tief ins Buch!

Interview

Irrtümlicherweise, reflexartig begann ich den Brief mit der Anrede „Herr Bogner“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Platzgumer und Bogner nahe beieinander sind. Bogner ist ein introvertierter, von sich überzeugter Künstler und Einzelgänger. Ein Mann, in dessen Atelier alles seinen Platz hat, alles wohlgeordnet ist. Selbst in seinem Schaffen versucht er Ordnung herzustellen. Und dann wirft ihn das scheinbar vernichtende Urteil eines selbsternannten Kunstkenners aus der Bahn, vollends aus dem Gleichgewicht. Gibt es Kunst nur um seiner selbst Willen? Wer in der Kunst kann sich der Kritik entziehen? Nicht einmal die Kritik selbst.

Lustig, dass Sie mich fast als Bogner angeredet hätten. Ich bin froh, dass ich nicht er bin. Auch tauge ich nicht als Vorbild für diese Figur. Sie ist aber nahe an dem einen oder anderen bohémen Kollegen angesiedelt, den ich kenne. Diese Bogners da draussen haben es nicht leicht. Sie stellen ihr eigenes Schaffen über alles andere und werden von narzisstischen Empfindungen umgetrieben. Das daraus resultierende Achterbahnleben zwischen Kränkungen, Enttäuschungen und kurzen euphorischen Momenten ist schwer auszuhalten – vor allem für empfindsame Seelen, die sie bei aller Eitelkeit noch dazu sein müssen, um ihr Werk zu produzieren.

Kunst um ihrer selbst Willen ist nicht auszuhalten. Andererseits liebe ich eine Kompromisslosigkeit in der Kunst und fordere diese tatsächlich ein. Verschreibt sich ein Kunstschaffender wiederum voll und ganz, vollkommen nackt und ungeschützt seinem Werk, wird es schwer für ihn, mit Kritik vernünftig umzugehen. Er positioniert sich ja von vornherein schon jenseits der Vernunft. Gebeutelte und zerstörte Künstlerseelen entstehen daraus. Ich bin froh, für mich selbst die notwendige Distanz zum eigenen Werk gefunden zu haben. Das erspart mir viel Leid und Ärger. Dem Bogner bleibt nichts erspart.

Ist „Bogners Abgang“ Kritik an der Selbstgefälligkeit?

Das Buch zeigt jedenfalls, wohin ein egozentrisches Dasein führen kann und auch, wie leicht eine derartig veranlagte Person verletzt werden kann. Selbstherrlichkeit versucht fehlende Selbstsicherheit zu kompensieren. Wer diesen Dämon in sich nicht in den Griff bekommt, dessen Leben ist zu grossen Teilen eine Hölle. Kein errungener Erfolg kann jemals Erfolg genug sein. Narzissten sind niemals glückliche Menschen.

Nicola Pammer ist eine stille, stets rücksichtsvolle, junge Frau. Einmal über die Stränge geschlagen, wirft sie der Zufall völlig aus der Bahn. Da nützt auch der Beschützerinstinkt der Mutter nichts. Ist es symptomatisch, dass das Übel dort am heftigsten zuschlagen kann, wo eine reine Seele nicht damit rechnet?

Ich bezweifle, dass es reine Seelen gibt. Auch Nicola ist nicht unschuldig. Sie ist eine angenehmere Zeitgenossin als der Bogner, aber auch sie hat Abgründe. Das Schicksal schert sich meist nicht um die Gerechtigkeit. Nicht jeder bekommt, was er verdient. Doch bei allem Mitleid mit Nicola, Bogner zieht letztendlich keine bessere Karte. Ich persönlich würde lieber wie Nicola, nicht wie Bogner aus dieser Geschichte herausgehen.

Bogner wünscht sich mehr als die Wirklichkeit, die das Leben generiert. Selbst in seinem Wunsch, die Todeserfahrung zu illustrieren, muss sich Bogner der Banalität beugen. Ist Kunst der Kampf gegen die Banalität?

Kunst ist sicherlich Ausbruch aus der Banalität. Gerade in Coronazeiten, in denen wir mit viel weniger Kunsterlebnis auskommen müssen, merken wir das. Kunst stilisiert, überhöht, sie macht aus dem Natürlichen das Künstliche. Verlässt sie die rein unterhaltende Ebene, kann sie unsere Sichtweise auf Dinge verändern. Im besten Fall ist Kunst Zauberei. Sie kann uns den Boden unter den Füssen wegziehen. Sie kann uns uns selbst verlassen lassen. Sie kann Wahrheiten verdrehen, ausschmücken oder auch überhaupt erst erfahrbar machen. Somit trägt sie auch eine grosse Verantwortung in sich.

Nebst unzähligen Tonträgern, die Sie seit bald 35 Jahren komponieren, produzieren und einspielen, vielen Theater- und Hörspielarbeiten, einer Oper und Soundtracks ist Ihre Karriere als Schriftsteller die jüngste. Schwingt beim Schreiben immer ein Soundtrack mit? 

Nein. Ich schreibe immer im Trockenen, vollkommen unbeeinflusst von Musik. Ich steuere auch im Nachhinein gar nicht gern den Soundtrack zu meinen eigenen Texten bei (wie ich es zB. bei der Hörspielinszenierung von «Am Rand» gemacht habe). Geschriebene Sprache muss erstmal ohne Score auskommen können.

Sofern es aber zu Bogners Abgang einen Soundtrack gibt, ist dieser bereits mit einem der beiden vorangestellten Zitate gelegt.

Schwirrt Ihnen bei so viel offenen Baustellen nicht manchmal der Kopf?

Ja, vielleicht, aber wem schwirrt nicht oft der Kopf? Ich kann mich zu 100 Prozent in eine momentane Arbeit hineinfallen lassen. Wenn ich etwas mache, bin ich voll und ganz auf diese eine Sache konzentriert. Ich verschwinde in ihr. Erst wenn sie erledigt ist oder ich erschöpft pausieren muss, treten die anderen Dinge wieder zurück in mein Leben.

Was tut Hans Platzgumer, wenn er die Nase voll hat?

Meditieren. 2x täglich. Das hilft mir, die nötige Gelassenheit wiederzuerlangen.

Erzählen Sie von einem Buch, das Sie in jüngster Vergangenheit aus den Socken gehauen hat?

George Saunders «Lincoln im Bardo». So eine Idee möchte ich einmal haben – und die Fähigkeit, sie so umzusetzen. Ein Jahrhundertbuch.

© Alex Eizinger

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, hat mit seinem Diplom der Wiener Musikhochschule in der Tasche in vielen Teilen der Welt gelebt und mit vielzähligen Projekten seit 1987 auf sich aufmerksam gemacht. Nach dutzenden Alben auf internationalen Labels und weltweiten Auftritten verlagerte er seit den 00er Jahren den Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens hin zur literarischen Arbeit. Seit seinem Debütroman 2005 sind zehn Bücher erschienen.
In den 90ern wurde Hans Platzgumer für einen Grammy nominiert, 2016 für den deutschen Buchpreis.

Rezension von «Am Rand» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Bellet

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay

Dass sich Beziehungen mit den Jahren abnützen können, die Frische verloren geht und mit der Ansammlung von Konflikten die Brüchigkeit zunimmt, dass sich Beziehungen manchmal entzweien, in Scheidung geraten, wissen wir zur Genüge. Aber wenn Mann oder Frau mit einem Mal ausbricht, am Morgen die Schlüssel nimmt und verschwindet, für immer, ist es viel mehr als eine Trennung allein.

Sind Maria und Herwig noch immer ein Paar? Als ihre Ehe noch jung war, reisten sie durch Griechenland, schlugen ihr Zelt an einer einsamen Bucht mit türkisblauem Meer auf, liessen sich vier Wochen im Lauf der Gestirne und dem Rhythmus der Gezeiten treiben, tranken geharzten Wein, sangen in die Nacht, rauchten Haschisch und liebten sich jede Nacht. Erst als der Wunsch nach einem Kind zum Zwang, eine Fehlgeburt zur Katastrophe wurde, die Nähe im Bett zu sich wiederholenden Versuchen mit ungestillter Absicht, begann sich die Liebe zu verhärten, legte sich Eis zwischen sie, wurden die Distanzen unüberbrückbar. Doch man richtete sich ein. Maria betrog Herwig, Herwig betrog Maria. 

Bis Maria aus einer Laune Herwigs Mobilphone in die Hand nimmt und die Nachricht einer anderen sieht, sie sei schwanger. Maria packt einen Rucksack mit dem Nötigsten und Herwig wundert sich noch am Morgen, dass Maria so ganz gegen ihre Gewohnheit auch ihm einen Kaffee auftischt, dass sie mit Sommerkleid, hohen Schuhen und Rucksack die Wohnung verlässt. Maria fährt zur Arbeit auf die Bank, wo sie ihrem Chef, dem man ihr vor die Nase gesetzt hatte, mit Schwung den Dienst quittiert, nachdem sie sich ihren Teil der Finanzen gesichert hatte, besteigt den Volvo ihres Mannes und fährt los, Richtung Süden. „Mit fünfundfünfzig Jahren wollte sie sehen, ob das Leben für sie noch etwas anderes bereithielt, als im Schlamm dieses trüben Karpfenteichs auf die monatliche Fütterung zu warten.“

Hubert Achleitner «flüchtig», Zsolnay, 2020, 304 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-552-05972-6

Während Herwig nicht weiss, wie ihm passiert und er sich an die Normalität seines Lehrerberufs klammert, dann auch noch sein Vater mit einem Leichenwagen aus dem Altenheim türmt und bei ihm in der Wohnung auftaucht, in der nicht zu verheimlichen ist, dass Maria abgehauen ist, kurvt Maria durch ein neues Leben. Sie fährt gen Süden, zum Meer, trifft Lisa eine junge Frau, mit der sie Monate verbringt, trifft einen Musiker, Fischer, Pilger und Mönche. Und je weiter sie sich örtlich von ihrem alten Leben wegbewegt, umso mehr löst sich die innere Verkrampfung, die latente Wut, der Knoten in ihrem harten Bauch.

Irgendwann meldet sich die Polizei bei Herwig. Man habe seinen Volvo in Saloniki gefunden. Nachdem es für Herwigs Vater Grund genug ist, sich zu zweit auf den Weg zum Auto und vielleicht zu einer Spur der Vermissten zu machen, kurvt noch ein Gespann Richtung Süden, ohne zu ahnen, wie nahe sich die Wege der vielfach Suchenden geraten.

„flüchtig“ sind sie alle und immer wieder. In Hubert Achleitners Roman ist alles in Bewegung. Frauen verflüchtigen sich, Normalität verflüchtigt sich, Sicherheiten. Maria kommt schon nicht wie andere Kinder zur Welt, sondern hoch oben über dem Tal in einer Gondel, mitten im Sturm. Man tauft sie Eva Maria Magdalena mit der Bitte um Beistand. Aber der verflüchtigt sich. Maria lernt Herwig kennen, wird schwanger; das Familienglück verflüchtigt sich. Die Liebe, die Leidenschaft verflüchtigt sich, auch jene im Beruf. Bis der einzige Weg, der einzige Ausweg die Flucht ist. Nicht die Flucht vor Herwig, nicht die Flucht vor einem verkorksten Leben, sondern die Flucht vor sich selbst. Etwas, was wohl jeder Mensch mehr oder weniger oft als Gedanke oder Wunsch mit sich herumträgt; weg, alles stehen und liegen lassen. Und während Herwig in ein Doppelleben flieht, Herwigs Vater vor dem langsamen Wegsterben, Wegdämmern im Altersheim flieht, flieht Maria in eine offene Zukunft, verschwindet, verflüchtigt sich.

„flüchtig“ ist vieles; ein Familienroman, ein Eheroman, ein Roadtripp, ein Findungsroman und mit Sicherheit auch eine Liebesgeschichte. Ein Roman mit kernigen Sätzen, überraschenden Wendungen und einer grossen Portion bissiger Klugheit. Und: Der Musiker Hubert von Goisern hat auch als Schriftsteller Hubert Achleitner Sound im Ohr!

© Konrad Fersterer

Hubert Achleitner, bekannt als Hubert von Goisern, wurde 1952 in Bad Goisern geboren. Er gilt als prononciertester Vertreter der «Neuen Volksmusik» und Erfinder des sogenannten «Alpenrock». Seine Interpretation alpenländischer Musik ist stilübergreifend und inspiriert von anderen Kulturen. Die «Linz Europa Tour 2007-2009» gilt bis heute als eines der grössten grenzübergreifenden Musikprojekte unserer Zeit. «flüchtig» ist sein erster Roman.

Webseite Hubert von Goisern

Beitragsbild © Stefan Wascher

Weinfelder Buchtage 2019

Zsuzsa Bánk, Alex Capus, Walter Millns, Marius und die Jagdkapelle, Hans Platzgumer, Michael Theurillat und Verena Rossbacher waren bei der 3. Ausgabe der Weinfelder Buchtage die klingenden Namen, mit denen das Team rund um Katharina Alder Literaturinteressierte aus nah und fern zu locken wusste.

Nach seinem vielbeachteten Roman «Am Rand» erschien 2018 sein neuster: «Drei Sekunden Jetzt». Ein Roman über ein Findelkind auf der Suche nach seiner Herkunft, seiner Identität. Hans Platzgumer, der auch Musiker und Theaterkomponist ist, erzählte, dass er bei der Lektüre von Tschechows Theaterstück «Der Kirschgarten» zweimal fast auf die gleiche Textstelle stiess, die Ursprung seines Romans wurde: «Ich weiss nicht, wie alt ich bin, und ich habe immer das Gefühl, ich bin jung. Woher ich komme, wer ich bin, wer meine Eltern waren… Ich weiss nichts. (Charlotta Iwanowa in «Der Kirschgarten von Anton Tschechowa, 1903). Es sei die Mischung aus der Melancholie des Nichtwissens und der unendlichen Chance, aller offen stehenden Möglichkeiten, die ihn beim Schreiben angetrieben hätten. Hans Platzgumer wollte einen Roman schreiben über jemanden, dessen Ankerseil gekappt ist.

François, der eigentlich nicht einmal weiss, wie sein richtiger Name einst war, wurde mit 13 Monaten «zur Hand» genommen, hineingeschoben in einen Supermarkt und stehengelassen, hinausgetrieben aus einer Familie, in der es mit ihm an machbarer Zukunft fehlte.
François weiss, dass es eine Mutter gibt, oder zumindest eine Frau, die sich dafür halten lässt. Auf einem Überwachungsvideo des Supermarktes festgehalten, eine Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille, die den Kinderwagen in der Buchabteilung zwischen den Regalen stehen liess, vielleicht in der Hoffnung, dass sich da jemand dem Kind annimmt, jemand, der bildungsnah, belesen, intelligent und mit voller Brieftasche wäre.

Aber François genügt die neue Familie, in die er aufgenommen wird, nicht. Da bleibt dieser Schmerz, das Offene, diese Wunde, das Nicht-wissen. Kaum erwachsen haut François ab, landet in einem seltsamen Hotel am Löwengolf, westlich der Stadt Marseille. In einem heruntergekommenen, undurchsichtigen Hotel mit Namen «Le Richard», wo er ein Zimmer, eine Arbeit, einen Hafen am Meer der Möglichkeiten bekommt.

François ist Fatalist, der sein Leben durchaus in den Griff zu bekommen versucht, daran und am Leben selbst scheitert. In Marseille, der Stadt der grossen Ungewissheit, dem Schmelztiegel alles Fremden, einer Stadt, die Hans Platzgumer durch viele Aufenthalte bestens kennt; ein Tor zu Welt für Ankommende und Wegfahrende, jene Stadt, die neben Paris wie keine andere in Geschichte und Literatur bis in die Gegenwart zum bedeutenden Schauplatz wurde.

«Drei Sekunden Jetzt» sind die drei Sekunden Gegenwart, die man als solche wahrnimmt, dieses kleine Stück, das danach in die Vergangenheit rutscht, Stück für Stück, eine lange Kette. Die Gegenwart ist das einzige, worauf sich François verlassen kann. François, einmal und immer wieder alleine gelassen, macht sich auf die Suche dessen, was Erinnerung ist.

Hans Platzgumer liest neben dem kleinen Tischchen mit Lampe und Wasserflasche, den Requisiten, die man für ihn bereitgestellt hatte. Er ist Theatermann, versteckt sich nicht, auch wenn seine unruhigen Beine den Eindruck machen, als müsse die Stimme sich aus ihm herauswinden. Er liest wie ein Theatermann, den Blick oft im Publikum, seine Geschichte lebendig machend, manchmal Sätze lang auswendig.

Am Schluss der Lesung war die Bewunderung gleichmässig auf Autor und Veranstalterteam verteilt. Man weiss in Weinfelden, was man an der kleinen Truppe um die Buchhändlerin Katharina Alder hat. Die Gruppe schenkt der Stadt drei Tage lang Geschichten, einen Tisch voll lebendig gewordener Literatur; Begegnungen der besonderen Art.

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte an der Musikhochschule in Wien, absolvierte ein Filmmusik-Studium in Los Angeles und veröffentlichte in unterschiedlichen Formationen elektronische Musik. Er schreibt Romane, Hörspiele, Opern, Theatermusik und Essays. Sein Roman «Am Rand» stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

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Beitragsbild © Dominik Anliker

Franzobel «Das Floss der Medusa», Zsolnay

Es braucht Mut, um in den Schrecken des Romans «Das Floss der Medusa» einzutauchen. Franzobel schönt und schont nichts und niemanden. Wer den Roman liest, wird belohnt mit barocker Erzählkunst, spitzer Zunge, Humor «erst recht» und der Erkenntnis, dass die wahren Katastrophen der Menschheit im Verborgenen stattfinden.

Fast genau 27 Jahre nach der französischen Revolution, kaum ein Jahr nachdem Napoleon für 100 Tage zurück an die Macht kam und nach der verlorenen Schlacht bei Waterloo bis zu seinem Lebensende auf die Insel St. Helena verbannt wurde, läuft die Fregatte Medusa mit 400 Passagieren vor Westafrika auf eine Sandbank auf. Weil Bei- und Rettungsboote für die auf dem Meer Verlorenen nicht genug Platz bieten, baut man in aller Eile ein Floss, 20 Meter lang und 7 Meter breit. 149 Menschen, Männer, Frauen und Kinder drängen sich bis zu den Knien im Meerwasser stehend irgendwo, 120 Kilometer vor der mauretanischen Küste auf einer zusammengeflickten Insel. Während sich Kapitän und Passagiere auf den Booten an die Küste retten und danach tunlichst vermeiden, irgend jemandem von den Zurückgelassenen, hilflos auf dem Floss und dem Wrack der Medusa Verbliebenen zu erzählen, spielt sich in den zwei Wochen bis zur Rettung der Überlebenden auf dem Floss ein Drama ab, das in die allertiefsten Niederungen der menschlichen Spezies blicken lässt, eine Demontage der Krone der Schöpfung, ein Welttheater des Schreckens im Angesichts des sicheren Untergangs. Von den fast 150 Menschen, die auf dem Floss zurückbleiben, findet ein Schiff zwei Wochen später noch 15 Überlebende, alles Männer, Verrückte, Wahnsinnige und Ausgezehrte mit hohlen Augen und leerem Blick. 50 Stunden reichen, um aus Menschen Monster zu machen. Der Schrecken liegt nicht in der Tatsache, dass die Überlebenden in ihrer Verzweiflung irgendwann zu Kannibalen werden, viel mehr darin, dass wenige Tage genügen, um aus Menschen Bestien zu machen.
Einer der Überlebenden, der zweite Schiffsarzt Jean Baptist Henri Savigny, schrieb nach seiner Rettung einen Bericht, nach dessen Veröffentlichung ihn die Obrigkeit zwingen wollte zu dementieren, statt die Ehre der französischen Grand Nation mit derartigen Lügengeschichten in den Schmutz zu ziehen. Savigny tat es nicht. 1819 malte der französische Künstler Théodore Géricault ein grosses Gemälde dieses Martyriums, das im Pariser Salon aber als Affront gegen die französische Regierung gewertet wurde, den musentrunkenen Betrachter störte und somit zum Skandal wurde. Dabei hätte das Bild den Skandal von 1816 in Erinnerung rufen sollen.

Und nun, 100 Jahre später, machte sich die österreichische Landratte Franzoble daran, den Stoff, der brach lag und förmlich auf ihn zu warten schien, mit spitzer Zunge und dem Blick eines Betrachters aus dem 21. Jahrhundert möglichst objektiv und schonungslos nachzuerzählen. Dass er durch einen Freund auf den Stoff gekommen sei, sei «wie ein Blitzschlag, Liebe auf den ersten Blick, ein Geschenk» gewesen. Nicht nur, weil er über die Wucht des Stoffes staunte, sondern weil die Geschichte alles in sich hat, was hinter Moral, Erziehung und staatlicher Ordnung im Menschen normalweise verborgen bleibt.

«Das Floss der Medusa» ist die Geschichte einer nicht enden wollenden Katastrophe, die schon lange vor dem Auflaufen auf die Sandbank begann, selbst vor den Tagen in Rochefort-sur-Mer, wo die Medusa vor Anker lag und man ihren Bauch mit all den Errungenschaften der Zivilisation füllte, mit denen die zugestiegenen Siedler Schwarzafrika zu beglücken meinten. Kapitän war Hugues Duroy de Chaumareys, ein absolut untauglicher Emporkömmling, Speichellecker, gepuderter und geschminkter Egomane, der sich lieber mit Wein, Käse, Garderoben und Darmproblemen auseinandersetzte, als mit den permanenten Warnungen seiner Offiziere. Ein von Selbstzweifeln Zerfressener, der in Träumen und schrecklichen Vorahnungen genau weiss und spürt, dass er mit seinen eigenmächtigen und dilettantischen Entscheidungen die Katastrophe provoziert. Bis der schwerfällige Rumpf der Fregatte über den Rücken einer Sandbank schleift und unwiderruflich festsitzt. Das Martyrium der 149 Menschen auf dem Floss beginnt. Ein Martyrium, das an unmenschlicher Dramatik nicht zu überbieten ist. Erträglich macht die Geschichte, weil alles an ihr voller Metaphern ist. Sei es nun über den Zustand der Welt heute, die dilettantischen «Führer», die ihr Boot mit wehenden Fahnen auf den Abgrund zusteuern, die Arroganz der «ersten» Welt und was es bedeutet für Tage und Wochen auf einem Floss mitten im Meer nicht bloss Sonne, Wind und Wetter, sondern den menschlichen Untiefen ausgesetzt zu sein.

Franzobel gelang ein ganz besonderes Buch, eines, das ans Eingemachte geht. Franzobel wühlt mit Wonne und Lust in der Schlangengrube Mensch, scheut sich nie, den Schrecken beim Namen zu nennen, zwingt mich hinzuschauen, wo ich normalerweise nicht hinzuschauen brauche. Die Lektüre seines Romans macht demütig, lässt einen zweifeln. Vielleicht brauchte der Stoff eben diese Landratte Franzobel, der es schafft, angesichts des Grauens mit Humor und Sarkasmus das zu schildern, was sonst kaum in Worte zu fassen wäre. Zugegeben, Franzobel malt auf riesiger Leinwand, auf fast 600 Seiten, um einiges gnadenloser als der Romantiker Théodore Géricault, dessen 7 x 5 Meter grosses Bild «Floss der Medusa» im Louvre hängt. Was sich mir offenbart, ist die Potenzierung aller Dekadenz, ein schmierig, blutiges Puppentheater, ein Sittenbild des Schattens auf einer Bühne, die maximale Distanz erreicht von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», wonach ein paar Jahre zuvor eine ganze Nation geschrien hatte. Die Geschichte der Gier, der Unersättlichkeit.

Franzobel ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Ich verstehe seine Frau sehr gut, die heilfroh ist, dass ihr Mann endlich vom Floss gestiegen ist.

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, ist einer der populärsten und polarisierendsten österreichischen Schriftsteller. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1995 den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2002 den Arthur-Schnitzler-Preis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Krimis » Wiener Wunder» (2014) und » Groschens Grab» (2015) sowie 2017 sein Roman » Das Floß der Medusa».

Franzobel liest am Buchfestival «Zürich liest» im kommenden Oktober!

 

Drei Tipps aus dem Koffer!

Nach drei Tagen literarischem Dauerfeuer bleibt die Frage, was geblieben ist, was bleiben wird, was überrascht hat und Lust auf mehr machte. Man spürte das Bemühen der Festivalleitung, frischen Wind und frisches Blut zuzulassen, die Bühnen aufzutun, sich selbst und den Besuchern zu beweisen, dass der Literaturbetrieb kein in sich geschlossener Club ist.

Auch wenn Terézia Mora, die Preisträgerin des diesjährigen Solothurner Literaturpreises und «herausragende Autorin des 21. Jahrhunderts» bei einem Gespräch meinte, Literaturtage wie diese seien schon eine schweizer Spezialität. Nur schon wegen seiner Grösse und der schieren Masse an Schreibenden sei in Deutschland eine vergleichbare Veranstaltung unmöglich. So sind die Solothurner Literaturtage alles; ein «Familientreffen», bei dem man höflich beiseite rückt, wenn sich Peter Bichsel an den langen Tisch vor dem Restaurant Kreuz setzt, grosse Bühne, wenn Autoren wie Terézia Mora, Alex Capus oder Franzobel lesen oder Bühne für fast alle, die sich trauen, auch wenn dann kaum jemand zuhört.

In meinem Koffer, den ich voller wieder mit nach Hause trug, sind drei Überraschungen, drei Bücher, die ich noch nicht gelesen habe, die mich aber nach Lesungen und Gesprächen nicht nur neugierig machen, von denen ich jetzt schon weiss, dass sie mich überzeugen werden.

«Seit ich fort bin» von Henriette Vásárhelyi   Mirjam packt ihre Koffer. Sie reist zur Hochzeit ihres Bruders, zurück in ihre Heimatstadt. Mit im Gepäck fahren viele Erinnerungen, Erinnerungen an Verlorenes, Erinnerungen, die Mirjam nicht loslassen. Erinnerungen an eine Freundin, die sie verlor, Erinnerungen an eine Heimat, ein Land, das es so nicht mehr gibt. «Der Schmerz ist nicht der, dass es gute und schlechte Erinnerungen gibt, sondern dass man sie nicht wirklich teilen kann.» Ein Roman über eine Freundschaft, die Spuren in Tagebüchern zurückliess, über zwei Menschen, die sich im Sumpf der Erinnerungen verloren, obwohl sie sich zu retten versuchten. Ungeheuer stark in ihrer Sprache! Mehr als der Beweis dafür, dass der Platz auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises mit ihrem Debütroman «immeer» kein Zufall war. Beide Romane sind im Dörlemann Verlag Zürich erschienen, dem «Verlag des Jahres 2017»

«Tram 83» von Fiston Mwanza Mujila   Der Autor ist 1981 in Kongo geboren und lebt seit 2009 in Graz, wo er afrikanische Literatur an der Universität unterrichtet. Fiston Mwanza Mujila nennt seinen ersten Roman «ein Buch über die Liebe und die Einsamkeit». Eine heruntergekommene afrikanische Grossstadt, in der jeder nur das eine Ziel hat; möglichst schnell viel Geld machen, egal wie. «Tram 83» ist der einzige Nachtclub in der Stadt, die Bühne seiner Geschichte. Ein Schmelztiegel, eine Hölle, ein Pulverfass, ein Nabelloch, wo sich zwischen Verlierern und Gewinnern, Profiteuren und Prostituierten, Ex-Kindersoldaten und Studenten zwei ungleiche Freunde wiedertreffen; Lucien, der Schriftsteller und Requiem, der Gauner. Auf der Bühne des Solothurner Stadttheaters spielte, sprach, schrie, lachte und sang der Autor seinen Text. So ganz anders als die teils steifen Wasserglaslesungen, die sich zur Pflichtübung reduzierten. Fiston Mwanza Mujila lebte seinen Text, machte sich zum Instrument, stülpte sein Inneres nach Aussen, an diesem Nachmittag nur duch ein Saxophon besänftigt.

«Das Floss der Medusa» von Franzobel   8. Juli 1816: Vor der afrikanischen Westküste werden 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach einer Schiffskatastrophe auf einem 20 Meter langen Floss überlebten in ein rettendes Schiff geborgen. Nach zwei grauenhafte Wochen, langes, unsägliches Leiden und Sterben. Franzobel selbst ist eine Landratte, nicht nur weil Österreich an kein Meer mehr grenzt, aber fasziniert vom Schrecken und Ekel, von Extremsituationen, wenn Grenzen gezogen werden, Gruppen sich gegenseitig bedrohen und über sich herfallen, wenn hinter Fassaden der Moral, die Situation zu kippen beginnt. Fast unglaublich ist die Tatsache, dass der Stoff auf den Schriftsteller Franzobel zu warten schien und verstörend, weil nichts am Schrecken der Geschichte erfunden werden muss, denn alles ist durch zwei Überlebende der Schiffskatastrophe historisch verbürgt. Gewartet hat der Stoff, weil der Schrecken und die Brutalität der Geschehnisse nur durch die Überzeichnung ins Groteske zu ertragen sind. Etwas, das Franzobel als Fähigkeit auf den Leib geschnitten ist.
Der Skandal ist nicht, dass die Überlebenden aus purer Verzweiflung auf dem Floss das Fleisch der Leichen assen, sondern, dass schon nach 50 Stunden genau jene Moral unterging, die die europäischen Siedler nach Afrika bringen sollten. Wer überlebt ein solches Drama? Welcher Typ Mensch? Ist es der Charakter oder schlicht die Aufgabe eines Menschen, so wie auf dem zurückgebliebenen Wrack des Schiffes, auf dem drei Matrosen überlebten, zwei dem Wahnsinn verfielen und der dritte bei Sinnen blieb, weil er die Verrückten an den Masten band und es sich zur Aufgabe machte, sie nicht sterben zu lassen.
Franzobel fabuliert lustvoll, virtuos und üppig, sich an den Szenen erlabend, stets mit dem Blick des Betrachters aus dem 21. Jahrhundert. Franzobel suhlt sich in Gerüchen, dem Gestank auf dem Schiff, den Leiden der Passagiere. Zugedröhnt von Wohlleiblichkeit wühlt Franzobel in der menschlichen Hinfälligkeit. Ekel, Schreck und Katastrophe sind nur durch Humor zu ertragen. «Humor ist die einzige wahre Religion der Ungläubigen.»
Man kann Franzobels «Das Floss der Medusa» als Abenteuer- oder Katastrophenroman lesen. Genauso gut aber auch als Allegorie auf unsere Zeit. Ein pralles Buch, vielleicht Franzobels Opus magnum.

Titelfoto: „Dokumente“ ©️ Philipp Frei

Philipp Blom «Bei Sturm am Meer», Zsolnay

«Marlene, meine Mutter, deine Grossmutter, ist in der Post verlorengegangen. Nicht, weil sie sich in einem riesigen Bürogebäude verlaufen hätte, nicht, weil sie alt und verwirrt war. Sie wurde nicht alt, und sie war ganz klar bis kurz vor ihrem Ende, als das Morphium ihr waches Bewusstsein trübte. Nein, als ordentliche und versicherte Postsendung ging sie verloren, ging die Urne mit der Asche verloren, die von ihr übrig geblieben war.»

Ben sitzt in einem Hotelzimmer in Amsterdam und schreibt einen Brief an seinen Sohn, der ihn aber erst in 44 Jahren öffnen und lesen soll, dann so alt wie er jetzt und vielleicht fähig, die Geschichte zu verstehen, in der Ben seinem Sohn sein Leben zu erklären versucht. Während Ben auf die Urne seiner Mutter wartet, blickt er zum einen zurück und zum andern katapultieren ihn ein Plakat eines nackten Mannes und die Treffen mit einer alten Frau, die ihm verschlossene Türen zu seiner Familie öffnen, aus der so vermeintlich fixen Umlaufbahn. Schon das, was er von seiner Familie wusste, war genug, um damit zu hadern: Grossmutter Elly, die nach dem Krieg als Deutsche nach Holland kam und dort als Deutsche nie heimisch, dafür geschnitten und belächelt wurde und sich mit Tio Pepe einen lebenslangen flüssigen Hausfreund zulegte, Blom_Bei Sturm am Meer 060416.inddden sie schon morgens in die Arme nahm. Seine Mutter Marlene, die ihren Namen hasste, weil er ein Programm sein sollte, der Beginn einer Karriere wie die der Dietrich. Mutter Marlene, die dann ausbrach und sich in der linken Szene Hamburgs Henk angelte, der dort in langen Nächten mit allerlei Wilden, darunter auch Ulrike Meinhof, sich in neue Sphären diskutierte und daraus irgendwann Nachwuchs wurde, er, Benedict, mittendrin. Bis sein Vater als Journalist während eines Auftrags für ein deutsches Nachrichtenmagazin im kolumbianischen Rebellengebiet verschwand und als entführt und umgekommen erklärt wurde. Seine Mutter entfloh damals der Welt, nahm ihren Sohn Ben mit und gab ihrem einzigen Kind jene Vergangenheit, von der sie meinte, es wäre die einzig richtige.
Aber in den Tagen in Amsterdam, wo er sich auch über die Zukunft mit seiner Frau klar werden will, überstürzen sich die Ereignisse. Während er schreibt, taumelt er durch die Stadt und seine eigene Geschichte. «Ich habe versprochen, ehrlich zu sein in diesem Brief, dir die Dinge zu erzählen, während sie sich noch entwickeln, während sie mir noch spitz im Fleisch stecken, bevor sie zu dem Geröll abgeschliffen werden, das alle Flüsse mit sich herumtragen, rundgewaschene Steine der Erinnerung.» Es ist nach dem letzten Kampf mit der Mutter, die sich bis zum letzten Atemzug nicht der Realität stellen wollte, dem unausweichlichen Tod, einer Mutter, die er mit dem Sterben doppelt verlor, endgültig als Mutter und mit ihr die Hoffnung auf eine Vertraute, auch als Schlüssel zum eigenen Leben, der Kampf mit der eigenen Geschichte.

Philipp Blom erzählt nicht linear. Er erzählt, wie diese wenigen Tage in Amsterdam verlaufen, flirrend, voll mit Träumen in der Nacht und jenen die den Taumel sonst vervielfachen, scheinbar zementierten Gewissheiten, die zerbrechen und eine Vergangenheit zerbröseln wie unendlich viele Hölzwürmer die Einrichtung der Gewissheiten. Ich als Leser werde Zeuge, wie sich ein Leben aus Lügen verliert, wie der Sturm alle Fundamente unterspült und nichts bleibt ausser der Wunsch von jetzt an wahrhaftig zu sein.

Blom_Philipp_H7_2012 «Bei Sturm am Meer» ist Philipp Bloms erster Roman. Bisher veröffentlichte er hauptsächlich geschichtliche Werke wie bei Hanser «Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914 (2009) oder «Die zerrissenen Jahre. 1918 – 1938 (2014). Als Journalist hat Blom in Zeitungen und Zeitschriften in Grossbritanien (The Guardian, The Independent, Financial Times, Times Literary Supplement) und im deutschsprachigen Raum (Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Der Standard) publiziert. Im österreichischen Kultursender Ö1 moderiert Blom regelmäßig die Diskussionssendung «Von Tag zu Tag».

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Am 25. Oktober und 12. November liest Philipp Blom aus «Bei Sturm am Meer» in Wien!

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Hans Platzgumer «Am Rand», Zsolnay

«Ich sehe, wie ich Zufälligkeiten ausgeliefert bin und höchstens reagieren, nur in kleinem Rahmen agieren kann. Ich kann versuchen, Einfluss zu nehmen, weiter und weiter, weil es des Menschen Pflicht ist, nicht aufzugeben, aber immer wieder erreiche ich den Punkt, an dem die Selbstbestimmug endet.»

Ich war noch klein, als meine eigene Grossmutter wächsern und mit einem Rosenkranz in den verschränkten Fingern ein letztes Mal in ihrem Zimmer besucht werden sollte. Es war für viele Jahre die einzige Tote. Dem Sterben selbst bin ich auch nach einem halben Jahrhundert Leben bloss in Geschichten begegnet. Ganz anders Gerold, der unglückliche Held in Hans Platzgumers neuem Roman «Am Rand», der schon als Junge seinen seit Monaten toten Nachbarn mit Kopfhörern auf vor dem noch laufenden Fernseher sieht. Dann stirbt sein Freund einen infernalen Tod im elektrischen Strom. Der Tod heftet sich an die Fersen Gerolds. Als erstes befreit er seine still gewordene Mutter vor ihrem Vater, seinem Grossvater, der sich wie ein Schmarotzer in Gerolds ehemaliges Kinderzimer einnistet, nachdem er sich schon längst in die Seele seiner Tochter gefressen hat. «Ich erkannte, wie der Vater im Himmel und ihr leiblicher, der wieder aufgetaucht war, sie fest im Griff hatten.» Und als letztes sich selbst. Gerold entflieht dem Tod mit dem letzten Satz, zuoberst auf dem Bocksberg.

Hans Platzgumer erzählt von einem, der sich zeit seines Lebens nicht aus den Klauen von Sterben und Tod winden kann. Ein Buch drüber, wo Verantwortung und Schuld, Zufall und Schicksal einen Menschen fesseln und knebeln. Handelt man richtig oder falsch, wenn man agiert? Hans Platzgumer schreibt klar, unmittelbar und jene Distanz erahnend, nie ganz «in der Mitte des Lebens» angekommen zu sein.

Hans Platzgumer (1969 ) ist österreichischer Schriftsteller, Komponist, Musiker und Produzent.

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