Simon Strauss «zu zweit», Tropen

Er wacht auf. Gleich mehrfach. Das Haus steht im Wasser. Es regnet. Die Stadt, in der er seit Geburt lebt, ist von allen verlassen. Nur ihn scheint man vergessen zu haben. Simon Strauss Novelle „zu zweit“ ist ein Sprach- und Bildkunstwerk von betörender Schönheit.

Er verkauft Teppiche und Stoffe, führt das Geschäft seiner Eltern weiter, das aber seit dem Abtauchen seiner Mutter nur mehr schleppend läuft. Simon Strauss nennt seinen Protagonisten nur „Verkäufer“, weil ein Name nichts zur Sache tut. Weil „Verkaufen“ das ist, was den jungen Mann ausmacht, der sich lieber im Kabuff hinter seinem Laden vor dem Leben draussen auf der Strasse versteckt. Nicht dass er sich zurückgezogen hätte. Er war schon immer so. Als Kind oder als Schüler. Erst recht als sich nach der Pflichtschulzeit sein einziger „Freund“ in ein Studium absetzte und er mit aller Selbstverständlichkeit in das Geschäft seiner Eltern hineinwuchs. Erst recht, als sich seine Mutter völlig überraschend aus der Familie absetzte, obwohl die Zweckgemeinschaft zwischen Mutter und Vater schon immer etwas Unsicheres hatte. Schon als der Vater das Geschäft trotzig weiterführte, blieb die Kundschaft aus, weil man das Geschäft wegen der freundlichen Bedienung der Mutter betrat.

Seit dem Tod seines Vaters wohnt er nicht mehr in der Wohnung über dem Geschäft, sondern in einer kleinen Mansarde in der gleichen Stadt. Still für sich, reduziert auf sein kleines Leben zwischen Wohnung und Geschäft.

Bis zu jenem Morgen, an dem er alles verändert kaum wiederfindet. Alles im Wasser versinkt, noch immer Regen auf die Stadt niedergeht, aber er der einzige scheint, den man zurückgelassen hatte. Nicht mutwillig. Aber weil er es in seiner Sehnsucht nach Stille und Abgeschiedenheit schlicht versäumt hatte, wie alle anderen Bewohner der Stadt das Weite zu suchen. Der stille Teppichhändler, der Verkäufer macht sich auf den Weg durch das Haus, die Stadt, zum Fluss, durchs leere Land.

Simon Strauß «Zu zweit», Tropen, 2023, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-608-50190-2

Der Verkäufer, dem vor der Flut nichts wichtiger war als die Gegenstände, die Ordnung in seinem Laden, hat sich längst angewöhnt, dass ihm die Dinge wichtiger sind als die Menschen, denen sie dienen sollten. Trägt man den Dingen Sorge, bleiben sie. Ganz anders als die Menschen. Auf sie ist kein Verlass. Das zeigten ihm eine Mutter, die mit einem Mal verschwand und ein Vater, der sich nach dem Verschwinden seiner Gattin immer mehr in sich zurückzog, hinter die Nähmaschine zu seinen Kreuzworträtseln. Bis auf die junge Frau, die ihn als letzte all der Vertreterinnen von Teppichen und Stoffen noch besuchte, die für einen kurzen Moment, ein paar Augenblicke lang etwas in den Laden zurückbrachte, was längst abgebrochen schien. Aber weil dem jungen Verkäufer wie stets in solchen Situationen die Worte fehlten, war die Vertreterin wie ein kurzes Auflodern eines Feuers, das er längst erloschen glaubte.

Der Teppichmann macht sich auf den Weg durch eine verlassene Welt. Aber weil er Zeit seines Lebens den Dingen mehr zugewandt war als den Menschen oder auch den Tieren, ist es ein Gang durch die Hinterlassenschaften. Er stört sich nicht an seiner Einsamkeit, mehr an seiner Verlassenheit. Die junge Frau in seinem Laden zeigte etwas, von dem ihn nicht nur sein Leben beschnitten hatte, mehr noch das, was über die Stadt, das Land hereingebrochen war und ihn zurückgelassen hatte.
Irgendwann steht er auf einer Brücke und lässt sich fallen. Aber statt ins Wasser zu fallen, landet er im Kleiderhaufen eines Flosses. Auf einem Floss mit einer jungen Frau. Einer künstlichen Insel mit eben jener Frau, die er verloren glaubte.

„zu zweit“ gibt sich dystopisch, endzeitlich, ist aber keine Dystopie. Die verlassene Landschaft in Simon Strauss Novelle ist die Kulisse eines Aufbruchs. Der Teppichmann, den seine Geschichte lehrte, sich nur noch auf seine Dinge zu verlassen, spürt mit einem Mal die Sehnsucht eines Gegenübers. „zu zweit“ ist eine Reise mit ungewissem Ziel. Spektakulär an der Novelle ist die Sprache, mit der Simon Strauss eben diese Dinge und ihre Arrangement zeichnet. Bilder mit einer ungeheuren Kraft. Eine Sprache, die einem während der Lektüre trunken macht. „zu zweit“ spielt mit den Zwischenräumen, nicht zuletzt mit den archetypischen Bildern von Träumen, der Welt des Unterbewussten. „zu zweit“ ist ein Tripp in eine beinahe entmenschte Welt.

Interview

«Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden.»

„zu zweit“ will keine Dystopie sein, keine postapokalyptische Novelle. Auch kein Flutroman, kein Klimaroman. Es ist die Reise eines jungen Mannes aus seiner selbstgewählten Isolation. Ein Aufbruch mit offenem Ziel. Auch kein Überlebensabenteuer, denn der junge Mann scheint in seiner Situation keine Angst zu haben. Ihr Buch schrammt an sämtlichen Einordnungsversuchen vorbei. War das von Beginn weg Absicht, Programm?
Nein. Ich hatte zugegebenermassen kein Programm und auch fast keine Absicht. Ausser, dass ich möglichst etwas schreibe, das meinen inneren Bildern entspricht und sich nicht an der äusseren Aktualität orientiert. Entstanden ist das Buch aus Träumen, aus Bildfetzen und Phantasmen, die mich in der Nacht umgetrieben haben. «Abbruch mit offenem Ziel“ – das finde ich eine sehr gute Beschreibung, genau darum geht es, um den Moment, in dem auf einmal alles anders ist und die alte Ordnung mit dem neuen Augenblick ringt. Wie will man so etwas einordnen? Ich jedenfalls habe darauf bestanden, dass „zu zweit“ kein Roman ist. Dieses Mal – im Gegensatz zu „Sieben Nächte“ und „Römische Tage“ – aber eben auch kein autofiktionaler Text. Daher, als einziger Ordnungsversuch, die Gattungsbezeichnung: „Novelle“.

Jene schrulligen, eigenbrötlerischen Abgewandten haben in der Literatur eine lange Tradition. Spricht da vielleicht sogar ein kleiner Funke Sehnsucht des Schriftstellers, sich von der Welt „da draussen“ abzuwenden? Schon der Akt des Schreibens ist doch die Umkehrung aller Auseinandersetzung mit der Welt. Man blickt in eine Innenwelt, in sich hinein, ein Abbild aller Eindrücke der Realität?
In der Tat hat das Schreiben etwas zutiefst eigensinniges an sich. Also im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um die Schärfung der Wahrnehmung, um das genaue Gehör für den Ton, das Abstreifen aller möglichen Schutz- und Sympathieschilder. Alle Figuren, die ein Autor erschafft, haben etwas mit ihm selbst zu tun, denke ich. Und so steckt auch in dem Abgewandten etwas von mir als Mensch. Vielleicht mehr Sehnsucht als Tatsache, denn ich selbst bin ja mittendrin, umgeben von vielen, im Gespräch mit so manchem. Aber als Autor weiss ich, dass diese Welt des Aneinandervorbeiredens und Durchschauens nichts Bleibendes hat, dass all die Erfahrungen, die wir so machen, verpuffen wie Seifenblasen. Deshalb ist der Einzelgänger das ehrlichere Ego des Autors. In ihm kann er finden, was ihm selbst dem Augenschein nach fehlt: Die Einsamkeit. In diesem Sinne geht es in der Tat um Innenwelt, um das Gegenbild, die Umkehrung. 

Der Teppichmann entwickelt nach der ersten Begegnung mit der jungen Vertreterin eine fast obsessive Sehnsucht nach einer weiteren Begegnung mit jener Frau. Und ausgerechnet ihr begegnet er auf seiner „Reise“ durch eine verlassene Welt. Bei jedem anderen Buch wäre ein solcher Zufall unglaubwürdig. Aber weil es in Ihrer Novelle nicht um einen Bericht mit maximaler Glaubwürdigkeit geht, sondern um Bilder, Dinge, die Geschichten erzählen, ist ein solcher Zufall erstaunlich nebensächlich. War die Absicht Ihres Schreibens am Anfang die selbe wie jene mitten im Schreibprozess?
Es war ein sehr langwieriger und durchaus auch schmerzhafter Schreibprozess. Mein Lektor, Tom Müller, vom Tropen-Verlag hat mich auf dieser Reise als strenger Kapitän begleitet. Es gibt bestimmt fünf verschiedene Fassungen von „zu zweit“. Ich habe das Gefühl, dass sich der Text immer mehr verdichtet hat, immer klarer wurde, worauf die Konzentration liegt – eben genau auf dem, was Sie beschreiben: Den Bildern, den Geschichten der Dinge, dem Wunder der Begegnung. Ich glaube, für diesen Text spielt das Kriterium der Logik oder realistischen Nachvollziehbarkeit keine Rolle – es geht ihm ja genau darum, auf das Unwahrscheinliche, Staunenswerte, Zufällige von Begegnungen hinzuweisen. Wieviele Menschen umgeben uns räumlich jeden Tag und wir lernen nie eine oder einen von ihnen kennen. Das ist doch das eigentlich Ungeheuerliche unserer Existenz: Nicht dass wir sterben, sondern dass wir leben und so viel an uns vorbeigeht, ohne dass wir es bemerken. 

Der Protagonist hatte sich in seinem Leben angewöhnt, die Dinge kurz um Erlaubnis zu fragen, bevor er sie benutzt. Eine Angewohnheit, die unseren Umgang mit Dingen durchaus verändern könnte. Dass uns alles ungefragt zu dienen hat, könnte auch der Ursprung dessen sein, dass wir den Bezug zum Material, das wir brauchen, längst verloren haben. Steckt also doch etwas Anklagendes in Ihrem Buch?
Nein, nichts Anklagendes. Vielleicht eher eine Erinnerung daran, wieviel wir von dem, was uns angeblich Lebloses umgibt, profitieren. Die Vorstellung, dass all die Gegenstände und Naturstrukturen, mit denen wir leben nichts davon mitbekommen, was wir sind, denken, glauben und fühlen, ist doch absurd. Es muss sich in ihnen etwas sammeln und speichern von unserem Leben. Das tragen sie weiter. Und erzählen später einmal von uns. Ich stelle mir vor, dass die Dinge viel über uns reden. Nicht schlecht. Aber doch hin und wieder leicht verwundert – woran wir alles denken. Nur nicht an sie. Deshalb vielleicht die Erinnerung: „no ideas but in things“ (William Carlos Williams)

Katastrophenszenarien haben sowohl in der Literatur wie im Film eine lange Tradition. Ihr Protagonist scheint die eigentliche Katastrophe gar nicht so sehr wahrzunehmen. Es scheint eine menschliche Überlebenshilfe zu sein, Katastrophen relativieren zu können. Anders wäre es nicht erklärbar, dass wir unseren Alltag perfekt dem Schrecken der Gegenwart anpassen. Er sieht die Dinge, nicht das Woher und Warum. Selbst die Frage nach dem Wohin ist inexistent. Ist „zu zweit“ ein Spiegel der Zeit?
So wie Sie es beschreiben hat es tatsächlich etwas von einem Spiegel. Nicht das Woher und Warum und auch nicht das Wohin. Hauptsache das Jetzt. Das Hier. Das eigene Bild. Ich habe „zu zweit“ nicht als Spiegel unserer Zeit konzipiert, aber natürlich fliesst in jedes Schreiben das tägliche Sein und Fühlen mit ein. Und ich glaube eben, dass wir am Rand einer grossen Veränderung leben. Ich bin kein Adventist – und doch ahne ich, dass sich unser Lebenswandel, unsere Ordnung und unsere Vorstellungen noch einmal grundlegend ändern werden. Wie weit entfernt schien uns ein Krieg mit Panzern. Wie fiktional das Wegschwimmen ganzer Dörfer. Wie unvorstellbar eine Pandemie, die Milliarden Menschen bedroht. Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden. Mit meinem Schreiben an „zu zweit» habe ich versucht, mir das selbst vorzuführen und einzuschärfen. 

Simon Strauss, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe »Arbeit an Europa«. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Frankfurt und Berlin, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm «Sieben Nächte» (2017) und «Römische Tage» (2019).

Beitrgsbilder © Maximilian Goedecke photography

Johannes Laubmeier «Das Marterl», Tropen

Ein junger Mann verliert seinen Vater durch einen Unfall. Er zieht weg, verlässt das Land. Doch irgendwann stellen sich Fragen, die nicht länger aufgeschoben werden können und es beginnt eine Suche. Die Suche nach einem verlorenen Vater. Johannes Laubmeiers Debüt ist ein zärtlicher Roman eines Findenden.

In Österreich und Bayern stehen sie überall, die Marterl. In Österreich sagt man Bildstöckerl. Manchmal ein Stein gewordener Segen, manchmal Erinnerung und Ermahnung an ein Unglück. Johannes Laubmeier erzählt von einem solchen Unglück, auch wenn an selbiger Kreuzung kein Marterl steht. Damals kollidierten ein Motorrad und ein Auto. Der Mann auf dem Motorrad verletzte sich schwer und starb kurz danach im Spital an den Folgen des schweren Unfalls. Der Mann auf dem Motorrad war der Vater jenes Mannes, der in Johannes Laubmeiers Debüt seine Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Unglücks, das viel mehr zu einer Mater wurde, als dem Erzähler zu Beginn seiner Reise in die Vergangenheit bewusst war. Ein „autofiktionaler“ Roman in einem südbayrischen Ort, von einem Sohn, der nach dem Tod seines Vaters für ein Jahrzehnt nach England ausreiste und in seine alte Heimat zurückkehrt, weil er die Mutter in die Ferien geschickt und ihr versprochen hat, in der Zeit das Haus zu hüten. Das Haus der Familie, auch wenn der Vater nach der Scheidung ausgezogen war. Das Haus mit dem Zimmer seines Vaters, das in den Jahren nach seinem Tod zur Abstellkammer wurde. Das Haus mit dem Schopf im Garten, in den der Erzähler irgendwann seine Isomatte und seinen Schlafsack legt, weil er die Geister im Haus nicht mehr aushält. Und weil er sich im Liegengelassenen, dass sich im Schopf türmt, seinem Vater näher fühlt als in dem mit Sinnsprüchen vollgehängten Haus.

Dass man irgendwann seine Mutter oder seinen Vater an den Tod verliert, ist der Lauf der Dinge. Dass man jene Momente aber nicht so einfach schlucken, geschehen lassen kann, wird spätestens dann klar, wenn man selbst als Tochter oder Sohn die Eltern verliert. Was die Besonderheit dieses Romans ausmacht, ist die Art und Weise, wie Johannes Laubmeier erzählt, wie er den Dingen, den Bildern, den Menschen nachgeht und nachfühlt. Wie er ohne aufbauschende Dramaturgie jenen Ungewissheiten nachspürt, die ein ganzes Leben, ohne dass man sich dessen bewusst ist, im Griff halten, manchmal gar im Würgegriff. Johannes Laubmeier hat seinen Vater verloren. Einen Vater, der ihm ein guter Vater war, auch wenn es Umstände und Zustände gab, die zu kritisieren waren. Aber jener Vater im Roman „Das Marterl“ ist genau in jenen Jahren gestorben, als alles im jungen Leben des Sohnes, im Roman heisst er nur „der Junge“, nach Unabhängigkeit und Loslösung schrie. Das letzte Telefonat zwischen Vater und Sohn war eines voll Gehässigkeiten des Sohnes, Grobheiten, die masslos über Ursachen hinausschossen.

Johannes Laubmeier erzählt in zwei ineinander verschlungener Erzählspuren. Von den Erkundungen seines Protagonisten am Ort seiner Kindheit und Jugend, den archäologischen Abtragungen im Haus seiner Mutter, in den Stauräumen der Vergangenheit und von den Bildern aus einer entfernten Vergangenheit. Und in Bildern der Vergangenheit selbst, aus einem Dorf, in der er als Nichtfussballer nicht zur Elite gehört, von einem Vater, der sich lieber in der Werkstatt vergräbt und nur unwillig an all dem teilnimmt, was als Dorfleben zählt und von einer Mutter, die in seltsamer Distanz lebt, bis sie sich tatsächlich vom Vater trennt, der bis zu seinem Tod in einer winzigen Wohnung im gleichen Ort wohnen bleibt.
Johannes Laubmeier erzählt eben nicht von einem Drama. Er folgt den Spuren eines Vaters, nicht in Mutmassungen. Der Autor und Erzähler will Ordnung, Klarheit, all den Konjunktiv aus der Gegenwart nehmen, den es zur wirklichen Freiheit braucht. „Das Marterl“ erzählt stellvertretend für all die Geschichten von Vätern und Müttern, die mit einem Mal nicht mehr sind, uns aber trotzdem begleiten, mit unter hartnäckig und bremsend.

Johannes Laubmeier ist ebensowenig wie der Erzähler in seinem Roman ein Geschädigter. Aber eben einer jener Sorte Mensch, die sich Fragen stellen und nach Antworten suchen! 
Und eines ist «Das Marterl» ganz gewiss; eine Liebeserklärung!

© Johannes Laubmeier

Interview

Wahrscheinlich fesselt dein Roman auch deshalb, weil du etwas beschreibst, was in unterschiedlichster Weise jede und jeder erlebt: der Verlust von Vater oder Mutter. Ich verlor meinen Vater vor 21 Jahren. Ein Herzinfarkt zuviel. Schon allein das Verb verlieren beschreibt, was passiert. Man verliert aber viel mehr als nur einen Menschen, die Eltern, die einem das Leben schenkten. Es ist Geschichte, die man verliert. Zukunft. Möglichkeiten. Es bleibt so viel Ungesagtes, Versäumtes, Vorgenommenes. Mit einem Mal bricht vieles weg. Da dein Roman sehr nahe an deiner eigenen Geschichte ist: Ist dir dein Vater beim Schreiben ein anderer geworden?
Ein anderer nicht. Aber ich habe schon das Gefühl, dass ich viel von dem, was mir, als er noch am Leben war, unverständlich vorkam, jetzt besser verstehe. Und ich kann zwar nicht wissen, ob das, was ich zu verstehen glaube, wirklich stimmt. Aber das ist in Ordnung und das war es für mich auch vor dem Schreiben schon eine Zeit lang. Was ich aber weiss, und das ist der schönste Nebeneffekt: Ich erkenne, seit ich das Buch geschrieben habe, sehr viel von ihm in mir selbst.

Dass du vom Vater schreibst, ihm keinen Namen gibst, verstehe ich. Dass du dann doch nicht in der Ich-Form erzählst, der dritten Person, keinen Namen gibst und ihn nur „der Junge“ nennst – war das notwendig, um die nötige Erzähldistanz zu bekommen?
Als ich für das Buch zum ersten Mal seit Jahren für mehrere Wochen in meine Heimatstadt zurückfuhr, bemerkte ich, dass da eine Art Kluft existierte zwischen der Person, die zurückkam und der, die Jahre zuvor weggegangen war. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches, man wird ja kontinuierlich ein anderer, aber es war mehr als nur einfach eine Entfernung. Die Verbindung schien zu fehlen, es fühlte sich eher an wie eine Entkopplung. Und das hat mich interessiert: Dass Erinnerungen, die ja beweisbar die eigenen sind, sich anfühlen wie eine Geschichte, die einem jemand über jemanden erzählt.
Seltsamerweise hatte ich dann beim Schreiben irgendwann das Gefühl, dass der Junge mir auf eine Weise näher ist als der Ich-Erzähler. Es ist ja nicht so, dass jemand, nur weil er «ich” sagt, eine geringe Distanz hat zu dem, was er erzählt – oder zu der Person, der er es erzählt. Im Gegenteil. Oft sind einem die Geschichten, die man – warum auch immer – nicht erzählt oder erzählen kann, näher, als die, die man erzählt. Und diese Geschichten, und wie sie es an die Oberfläche schaffen, das hat mich interessiert.

© Johannes Laubmeier

Der Erzähler lässt nach einem Umzug aus England Leo, seine Lebenspartnerin, für diese eine Reise in Berlin zurück, weil es eine Reise ist, die man alleine tun muss. Aber in seinem Gepäck sind die mehrbändigen Gedichte des us-amerikanischen Dichters Charles Olson, der mir erst durch die Lektüre deines Romans ins Bewusstsein trat. Ein Dichter, der in die Stadt Gloucester in Massachusetts zog und sich in jenen Ort in einem mehrbändigen Werk aus 600 Einzelgedichten hineinschrieb. Wie kam es zur Einbindung dieses Dichters?
Charles Olson beschäftigt mich seit fast zehn Jahren, ich bin damals an der Uni auf ihn gestossen, habe eine Abschlussarbeit über ihn geschrieben. Wäre ich damals nicht nach Berlin gezogen, wär irgendwann wohl eine Doktorarbeit daraus geworden. Olson ist, da bin ich überzeugt, einer der wichtigsten amerikanischen Poeten des 20. Jahrhunderts, weil er an der Schwelle zur Postmoderne auftaucht und viele der Dichter, die nach ihm kamen und heute weitaus bekannter sind als er, stark beeinflusst hat. 
Und natürlich spielt die Erinnerung eine grosse Rolle in den Maximus Poems, aber dass er im Buch auftaucht, ist nicht wirklich Teil eines grossen Plans, den ich mir vor dem Schreiben zurechtgelegt hatte. Er war im Schreibprozess irgendwann einfach da, als jemand, der dem Erzähler diese Reise einfacher, vielleicht sogar erst möglich machte. Olson, der ja in jeder Hinsicht ein Riese war, ist für ihn so etwas wie ein Ratgeber, an den er sich wenden kann, in einer Situation, in der er das Gefühl hat, dass da niemand anderes mehr ist.

Obwohl man in A. bierselige Volksfeste in Lederhosen und Dirndl feiert, jeder alles über jeden zu wissen glaubt, jeder seine Rolle zu spielen hat, ist dein Roman keine Abrechnung, weder mit dem Kleinbürgertum noch mit Traditionen und zementierten Strukturen. Dein Roman ist eine Odyssee nach innen. Ist dieses Buch eine Befreiung? Eine Loslösung?
Nein, das glaube ich nicht. Das würde ja implizieren, dass es einer Loslösung bedarf. Und genau das versucht der Erzähler zu Beginn des Romans, er will die Angelegenheiten klären, um dann die Verbindungen zu kappen – bis er realisiert, dass das nicht geht. Gleichzeitig ist es auch keine Geschichte einer Heimkehr im emotionalen Sinn, die ja ebenfalls unmöglich ist. Schliesslich existiert der Ort, von dem er wegging, so ja nicht mehr. Am Ende ist es, glaube ich, vielleicht einfach nur eine Beschreibung der Dinge. Und am Ende die Erkenntnis, dass es nicht darum geht, die Ambiguität gegenüber diesem Ort, aus dem er kommt, dessen Produkt er ja auch ist, aufzulösen, sondern darum, sie auszuhalten.

© Johannes Laubmeier

Seine eigene Geschichtsschreibung ist wie die „grosse“ Geschichtsschreibung keine, die sich an Fakten hält. Wir füllen unsere Erinnerung mit geschönten Bildern und gefilterten Tatsachen, auch jene unserer Kindheit. Hat dich deine Arbeit als Journalist anders sehen gelernt?
Das kann ich nicht beantworten. Ich weiss ja nicht, wie ich sehen würde, wenn ich etwas anderes getan hätte. Aber ich weiss, dass ich das Buch nicht als Journalist geschrieben habe. Also war es vielleicht etwas anderes. Was genau, weiss ich nicht. Ist aber auch egal.

Hängen in deinem Schrank Lederhosen?
Nein. Ich hab tatsächlich keine bekommen, als ich eine wollte. Und später war es mir dann nicht mehr wichtig.

Johannes Laubmeier, geboren 1987 in Regensburg, studierte Journalistik in Eichstätt, Kritische Theorie in Cardiff und Sozialanthropologie in Cambridge. Er schreibt Reportagen und Porträts, war Finalist bei den British Journalism Awards 2017 in der Kategorie «New Journalist of the Year». Johannes Laubmeier lebt und arbeitet als Autor und Reporter in Berlin.

Webseite des Autors

Bernardine Evaristo «Mädchen, Frau etc.», Tropen

Bernadine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ ist ein weit umspannendes Panorama jener Britinnen, deren Hautfarbe Sinnbild ist für eine Herkunft weit weg und deren Geschlecht sich längst nicht mehr in zwei konservativen Kategorien einteilen lässt, mit denen man Menschen über Jahrhunderte taxiert hatte. „Mädchen, Frau etc.“ ist mehr als ein Roman einer Orientierung, sondern für sich eine ganze Bibliothek!

Amma ist zu Fuss auf dem Weg zur Premiere ihres Stücks Die letzte Amazone von Dahomey im National Theatre in London. Sie hat es geschafft, obwohl sie sich auch vor dieser Premiere von Zweifeln zerfressen lässt. Geschafft, weil das National Theatre rein gar nichts mehr hat, von dem, was die Spielorte ihrer ersten Stücke ausmachte, als alles an ihrer Theaterarbeit ein Kampf gegen das Establishment, alles den Hauch des Anrüchigen, Rebellischen, Kaputten hatte. Ein Kampf gegen Ungerechtigkeiten aller Art, alle Formen der Unterdrückung, sei es wegen der Rasse, der Hautfarbe, der Herkunft, sei es jener gegen eine sexuelle Ausrichtung, einer aufgepfropften Identität, jeglicher Art des Konformismus und der Gedankenlosigkeit der Gesellschaft. Amma weiss, dass sie alle da sein werden, alle, die sie über die letzten Jahre in ihrem unablässigen Kampf begleiteten, auf welcher Bühne auch immer.

Bernardine Evaristo «Mädchen, Frau etc.», Tropen, übersetzt von Tanja Handels, 2021, 512 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-608-50484-2

Auch Yazz würde da sein, ihre mittlerweile neunzehnjährige Tochter, die in ihrer rebellisch unberechenbaren Art in nichts ihrer Mutter nachsteht. Auch Roland, der Vater von Yazz, ein schwuler Professor und Autor, der sich als Samenspender in genau jene Rolle einspannen liess, die Amma ihm in ihrer lesbischen Lebensart zugestehen wollte. Auch Dominique, mit der sie einst eine leidenschaftliche Liebe teilte, die aber dann für eine Liebe in die Staaten abtauchte, wo sie in den Fängen einer Schönen fast ihr Leben verlor. 
Amma, einst Rebellin und Kämpferin, ist längst Teil eines neuen Establishments geworden, einer Kulturoberschicht, die nach der Feier mit Prosecco anstösst und sich in den Lobgesängen der grossen Medien sonnt. 

Alles in den Leben dieser Frauen ist Statement, sei es die sexuelle Ausrichtung, die dazugehörigen Spielformen, das Outfit, die Frisur, der Auftritt. Bernadine Evaristo erzählt, wie über Generationen der Kampf ums blosse Überleben einer Frau nicht weisser Herkunft in den Generationen der Gegenwart, ob weiss oder schwarz, zu einer elitären Arroganz führt, in der es nur Sieg oder Niederlage gibt. Sinnbild dafür ist Ammas Tochter Yazz, die mit ihren neunzehn Jahren genau weiss, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist, die alles in ihrer Umgebung nutzbringend taxieren kann und selbst ihre Taufpatinnen und -paten dahingegen taxiert, ob Geburtstagsgeldgeschenke genügend Nullen auf den Banknoten aufweisen. Eine lesbische Mutter zu haben, in wechselnden Konstellationen, ob mono- oder polygam, einen schwulen Vater, den man aus der Distanz zu schätzen weiss, ist als Familienaufstellung ebenso Statement wie das eigene Bewusstsein, sich mit nichts etwas Fixem zuschreiben zu lassen.

Bernadine Evaristo erzählt in ihrem Roman ganz viele Leben, zeichnet ungeschönt und ungesühnt all die Schicksale, denen Frauen in Vergangenheit und Gegenwart lebensbedrohlich ausgesetzt sind. Mag sein, dass man sich als männlicher Leser noch mehr als nichtmännliche einer neuen, noch viel intensiveren Sehensweise ausgesetzt fühlt als alles, was man bisher zu Lesen vorgesetzt bekam. Der Kampf der Geschlechter ist noch lange nicht ausgestanden. Genauso wie all die Ungerechtigkeiten, die durch die ethnische Herkunft Menschen klassifizieren. Man reibt sich immer wieder die Augen, nicht nur wegen all der Gewalt, all dem Leid, all der Verbohrtheit und Arroganz. Auch darüber, wie filigran und emphatisch die Autorin zu erzählen versteht. Der Titel „Mädchen, Frau etc.“ suggeriert, dass es vornehmlich ums weibliche Geschlecht geht. Aber eigentlich ist das etc. der Nabel des Titels. Zumindest für mich schaffte es Bernadine Evaristo wie keine andere Autorin das Thema Gender in 500 Seiten einzuflechten, ohne dass einem das stören würde. 

Das unglaublich Verblüffende an diesem Roman ist die Sprache. Bernadine Evaristo gelingt es, jeder Protagonistin eine eigene Stimme zu geben, einen eigenen Sound. Sie erzählt klug, nie belehrend, mit einer Wärme, die mich bei der Lektüre einhüllt. Von den 500 Seiten ist keine einzige zu viel!

„Mädchen, Frau etc.“ ist ebenso eigenwillig wie grossartig!

Bernardine Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Für ihren Roman «Mädchen, Frau etc.» wurde sie als erste schwarze Schriftstellerin 2019 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet.

Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Romane, neben Anna Quindlen Zadie Smith, Elizabeth Gilbert, Tim Glencross und Scarlett Thomas, und ist als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. Ihre Übersetzungen wurden schon vielfach ausgezeichnet, u.a. 2018 mit dem Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern.

Beitragsbild © Jennie Scott

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen #SchweizerBuchpreis 20/9

Tom Kummer schreibt über einen Tom Kummer. Tom Kummer hat Kinder und verlor seine Frau durch Krebs, Tom Kummer im Buch genauso. Tom Kummer schreibt, Tom Kummer fährt Taxi. Und doch erzählt Tom Kummer kein Spiegelbild. Allenfalls eine Variante. Und weil Tom Kummer über einen Tom Kummer schreibt, kommt mir sein Erzählen derart nah, dass mich die Bilder über Tage nicht mehr loslassen.

Tom fährt einen 560er, manchmal, bei ganz besonderen Kunden einen 600er, stets nachts, vom Hotel zum Flughafen, von einer Tür zur andern. Manchmal auch nur einen Koffer. Tom ist bekannt und geschätzt für seine Diskretion, seine Zuverlässigkeit, seine Ruhe. Auch wenn Gespräche entstehen, Freundlichkeiten ausgetauscht werden, Fragen beantwortet werden müssen; Tom drängt sich nicht auf. Da ist nur das Auto, der Weg und die Aufgabe, den Kunden von A nach B zu chauffieren. Das einzige, was nicht zu seinem schwarzen Anzug, seiner schwarzen Limousine passt, ist das Foto von Vince und Frank, seinen beiden Söhnen und seiner Frau Nina, deren Stimme er noch immer hört, deren Duft er noch immer in der Nase mit sich trägt, wenn er bei seinem jüngeren Sohn Vince morgens eine Weile unter die Decke schlüpft. Das Foto ist das, was er wirklich mit sich herumchauffiert, immer, dauernd. Die Angst, genau das zu verlieren, was im Moment, als das Foto geknipst wurde, Familie ausmachte. Nina ist tot, Frank achtzehnjährig in den USA geblieben und der zwölfjährige Vince zuhause viel zu oft alleine.

«Ich warte darauf, dass sich meine Trauer löst, wie Verkehr.»

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen, 2020, 256 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-608-50428-6

„Von schlechten Eltern“ ist ein buchgewordener Roadmovie aus einer Zwischenwelt, zwischen der Schwärze der Nacht und den Bildern, die sich im Kopf festsetzen, in die Schwärze hineinprojiziert werden. Tom schiebt sich während seinen Auftragsfahrten farbige Pillen in den Mund und konzentriert sich auf die weissen Streifen auf der Fahrbahn, schnappt auf, was Passagiere in den Fahrgastraum bringen; Geschichten, Spannungen, Gerüche, fremdes Leben. Während ihm das eigene Leben durch die Finger zerrinnt, das, was an Familie geblieben, durch Denunziation und Ämter bedroht ist. Tom funktioniert, fährt nachts den Mercedes quer durch das Land, um morgens bei seinem Sohn Vince aufzuwachen, das Frühstück zuzubereiten, ihn in die Schule weggehen zu sehen, um dann die Vorhänge zu ziehen, weil Tom die Helligkeit nicht mehr erträgt, das Licht, das alles ausleuchtet und zu nehmen droht, was ihm durch den Tod seiner Frau genommen wurde.
Rauchende Ruinen, Tierkadaver, schmieriger Regen. Apokalyptische Szenen an den Rändern der Dunkelheit auf seinen Fahrten durch ein eingeschwärztes Land. Tom fährt nicht einfach Auto. Das Autofahren transportiert ihn – in eine andere Welt. Und im Fond seines Wagens Gestalten, als ob sie einem Theater entstiegen wären, die sich schälen, offenbaren, die versprechen und umgarnen.

«Manchmal fühlt sich die Welt an, als hätte ich keine Verbindung mehr zu lebenden Dingen. Und je mehr sich ein Mensch dem Erleben entzieht, desto näher kommt er dem Tod.»

Der Roman ist der Countdown bis zum Moment, wo Tom seinen älteren Sohn Frank vom Flughafen abholen kann, zusammen mit Vince. Frank, den Jean-Luc, sein Chef mit seinen „Kontakten“ auf der anderen Seite des Ozeans aufgespürt hatte, nachdem er sich bei seinem Vater während Tagen nicht gemeldet hatte. Der Roman ist die Landschaft eines Verlorenen, der die Enden seines Lebens zu halten versucht, der gegen das Verschwinden und Entschwinden kämpft, der ein guter Vater, eine gute Familie sein will, dem das Leben abhanden gekommen ist durch den Tod seiner Frau. „Von schlechten Eltern“ ist intensiv, konzentriert, traumwandlerisch und mit Bildern aufgepumpt, die sich wie böse Träume aneinander reihen. „Von schlechten Eltern“ ist tief wie schwarzes Wasser, wie Vantablack, jenes Schwarz, das fast nichts mehr reflektiert und magisch in die Tiefe zieht.

Mag sein, dass Tom Kummer, jener Tom Kummer, der schreibt, in seinem Leben Han erlebte, jenen koreanischen Begriff für extreme Traurigkeit. Aber sein Roman schöpft daraus eine milde Wärme, jene Wärme, die aus jener Liebe entsteht, die nur in der Familie zu existieren vermag. Grossartig und absolut würdig in der Runde der besten Bücher zu erscheinen.

Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie, lebt er wieder in Bern. Er schrieb u.a. «Good Morning, Los Angeles – Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit» (1997) und «Blow Up» (2007). Sein letzter Roman «Nina & Tom» (2017) wurde von der Kritik gefeiert.

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis 20/2

Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!

© Lea Frei

Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes
Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet.
Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser
Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.

© Lea Frei

Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis
Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt.
Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen
Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.

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Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub
Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell!
ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite
Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!

Illustrationen © leafrei.com