Nelio Biedermann «Lázár», Rowohlt #SchweizerBuchpreis 25/03

Nelio Biedermann, der Shootingstar der CH-Literaturszene, schrieb einen gross angelegten Familien-, Geschichts- und Epochenroman, der an die grossen Vorbilder der Deutschen Literatur erinnert. Ein wagemutiges Buch, das ambitioniert geschrieben ist, mich aber enttäuscht zurücklässt – nicht zuletzt, weil es zum Schweizer Buchpreis nominiert ist.

Der Niedergang einer ungarischen Adelsfamilie vor 100 Jahren. Ein oppulentes Sittengemälde einer Epoche des Umbruchs, eines Reichs, das in seinem Selbstverständnis für die Ewigkeit eingeschrieben schien, einer Familie, die sich aller Selbstverständlichkeiten beraubt sieht, von Familienmitgliedern, die straucheln und stolpern, einer Zeit, die mit den Wirren von Revolution und Krieg erodierte.

Nelio Biedermanns Roman „Lázár“ ist auch seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie, seiner ungarischen Wurzeln, fast 60 Jahre, von der Jahrhundertwende bis zum Ungarnaufstand 1956. Warum sollte man als ehrgeiziger Schriftsteller diesen ungeheuren Schatz an Geschichte und Geschichten nicht anzapfen. Vielleicht hätte ich bei der Lektüre auch viel mehr Bewunderung gezeigt, wenn der Roman nicht in der Liste der besten Bücher der Schweiz zu finden gewesen wäre. Vielleicht hätte ich anerkennend genickt, in der Überzeugung, dass sich da ein Schriftsteller voller Mut und Selbstbewusstsein an einen grossen Stoff wagt und in einer Art und Weise schreibt, die an grosse Vorbilder erinnert.

Aber mit der Brille eines Kommentators zum Schweizer Buchpreis, mit dem Anspruch, hier eines der besten Bücher des Jahres zu lesen, mit dem Wissen, dass ich da einen Roman lese, der zeitgleich in 20 Sprachen übersetzt in den Buchhandlungen überall zu finden ist, wurde die Lektüre schwierig, manchmal fast unerträglich. Und wenn ich mich dann noch hinreissen lasse, all die Kritiken und Rezensionen in den Medien zu diesem Buch zu lesen, dann zweifle ich nicht nur am Geschmack all jener, die mit hymnischen Expertisen den Roman lasen, dann zweifle ich auch an mir.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Schon auf den ersten Seiten erschlägt mich der Roman mit der Fülle an Adjektiven. Ich habe nichts gegen behutsam eingesetzte Adjektive, vor allem dann nicht, wenn sie unvermeidbar sind, wenn sie Eindrücke verstärken, die nicht ohne eben dieses Adjektiv auskommen. Aber ich will, dass das Geschriebene nicht wie mit Ausmalfarben beschrieben wird. Ich will, dass meine Eindrücke durch passende Beschreibungen, oder auch Auslassungen evoziert werden. Zu viele Adjektive lassen Szenen und Beschreibungen grell, überladen erscheinen, stören mehr, als dass sie helfen würden. Für mich unerklärlich, dass ein sogfältiges Lektorat da nicht eingegriffen hat.

Ich liebe Romane, die in „cineastisch“, wie auf Breitlandwand erzählt sind, ausufernd, die in Bildern baden, Geschichte ausbreiten. Aber dann muss jedes Detail stimmen. Ich darf nicht das Gefühl haben, dass da etwas in den Text hineinfliesst, das nicht in die Zeit gehört – oder noch viel schlimmer, das mir zu verstehen geben will, dass der Text auch etwas mit der Gegenwart zu tun hat. Warum ritzt sich eine der Protagonistinnen? Kann sein, dass es das früher schon gab. Aber wenn ein Roman erzählt wird, als wäre der Erzähler aus den 30ern, dann ist „Ritzen“ kein Thema, auch wenn es das damals in Kreisen des Adels vielleicht schon gab.
Nelio Biedermann ist 22 Jahre alt. Wenn jemand so jung ist, dann will ich gerade eben diesen jungen Blick sehen, dieses Unverbrauchte, Ungehemmte. Aber die einzigen Szenen, in denen sich der junge Mann ungehemmt zeigt, sind Sexszenen, die so gar keine Erotik verströmen. 

Warum macht Rowohlt aus Nelio Biedermanns Roman einen Bestseller in der Art und Weise? Hilft man dem jungen Autor, in dem man ihn derart pusht? Oder wird man Nelio Biedermann bei allem, was er in Zukunft schreiben wird, an „Lázár“ messen? Ich gönne dem Autor und dem Verlag den Erfolg, jedes Buch, das über den Ladentisch geht, die vollen Säle, wenn Nelio Biedermann liest. Aber ich hoffe auch, dass Nelio Biedermann die Bodenhaftung nicht verliert, die Nähe zu seinem Publikum, auf das er als Schriftsteller auch in Zukunft angewiesen sein wird.

Nelio Biedermann hat viel gewagt. Der Verlag vielleicht noch mehr. Ich kann auch gut nachvollziehen, dass man sich in einem Verlag sehr gut überlegt, in welches Buch, in welche Autorin, welchen Autor man investieren will, zumal ein gut verkauftes Buch auch viele andere Bücher mitträgt, die aus was für Gründen auch immer von uns LeserInnen nicht goutiert werden. Aber Nelio Biedermann ist ein ungeschliffener Diamant. Und als eben dieser schlecht zu vergleichen mit denen, die sich schon über Jahrzehnte an der Zeit geschliffen haben.

Toll, wenn „Lázár“ gelesen und geliebt wird. Für meine Liebe reicht es nicht.

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Webseite des Autors

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Biedermann und die Lobstifter #SchweizerBuchpreis 25/02

Alle Zeitungen, die Tagesschau, der Literaturclub und die Sendung «Zwei mit Buch» berichten mit Begeisterung. Von Daniel Kehlman liest man auf dem Umschlag Ein wirklich grosser Schriftsteller betritt die Bühne! Vergleiche mit Thomas Manns Buddenbrocks machen die Runde! Ich, skeptisch ob so viel Lob, frage mich: Muss oder will ich ein solches Buch lesen?

Lieber Gallus

Die Neugier hat gesiegt und ich habe «Lázár» gelesen. Leicht lesbar und unterhaltsam geschrieben erfahre ich vom Schicksal dreier Generationen einer ungarischen Adelsfamilie in den Weltkriegen und in der Sowjetzeit. Sehr romantisch, farbenprächtig und gelegentlich kitschig geschrieben begegne ich dem Werk eines jungen, fantasievollen Erzählers. Was ich vermisse, sind Entwicklungen der Charaktere, Fragestellungen und die Suche nach Antworten, Reflexionen. Mir fehlt eine persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinen Protagonisten, der Geschichte. Nach Weglegen des Buches klingt wenig nach, vergesse ich rasch.

Sie hatte von ihnen geträumt, und tatsächlich waren die Störche zurückgekehrt, reckten ihre weissen Hälse aus den Klatschmohnfeldern, die das Städtchen umgaben, während sie am Fenster verharrte und den milchigblauen  Morgenhimmel, den blütengelben Horizont, die weichen Hügel in der Ferne, den schlichten Kirchturm und das satte Rot der Felder ansah, als wäre bereits alles eine Erinnerung, als wären Sehen und Erinnern dasselbe, sie schloss das Fenster und ging ins Bad,…schminkte sich die Lippen klatschmohnrot, steckte die Perlohrringe, die einst Sandors Mutter gehört hatten, in die Ohrlöcher, öffnete das geflochtene Haar, das wie dunkles Wasser über den weissen Stoff des Nachthemds, ihre schmalen Schultern glitt, stand auf und holte die dunkelblaue Strickjacke aus dem Schrank…

Vor ihnen lag Zürich, der See, die weissen Schwäne und verschneiten Berge.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Ein Wunderkind!? Mir tut dieser begabte junge Autor im Kreuzfeuer dieser Medien-Begeisterung leid. Aus einem Interview erfahre ich, dass er gut mit seinem frühen Ruhm umgehen kann, viel liest und diszipliniert täglich schreibt. So hoffe ich, dass er seine literarischen Fähigkeiten trotz Rummel weiter entwickeln kann. Mit «Lázár» hat Nelio Biedermann gegenüber seinem Erstling «Anton muss bleiben» bereits einen grossen Schritt getan. 

Die grosse Medienpräsenz dieses Autors lässt mich auch unseren Literaturbetrieb hinterfragen. Warum reissen sich die Verlage um dieses Buch und sind die geplanten Übersetzungen in 20 Sprachen dauernd erwähnt. Was ist gute Literatur, wer bekommt einen Preis, wer wird beachtet und gefördert? Eine schwierige Frage bei der riesigen Anzahl von Autorinnen und Autoren. Du, Gallus, hast einen besseren Überblick über die Literaturszene: Was denkst du darüber?

Zufällig ist mir unmittelbar anschliessend der schmale Band «Großmütter» von Melana Mvogdobo in die Hand gekommen. Welch grosser Kontrast! In einer äusserst knappen, ausdrucksstarken Sprache, sorgfältig in zwei verschiedenen Farben gedruckt, erzählen zwei Grossmütter ihr Leben. Eine aus einer armen Schweizer Bauernfamilie, eine aus einer wohlhabenden Familie in Kamerun. Als Grossmütter befreien sie sich nach Demütigungen und Erleiden von seelischer und körperlicher Gewalt von ihren Männern. Wie sie das mit Hilfe ihrer Enkelinnen machen, ist beeindruckend. Ein kluges Buch mit Tiefgang! Mit Nachhall!

Ich muss nachdenken. Ich will verstehen, wieso mein Leben so ist, wie es ist. Und noch viel wichtiger: Weshalb ich nicht in der Lage war, mein Schicksal einfach anzunehmen, wie so viele andere Frauen.

Interessant, dass beide für den Schweizer Buchpreis 2025 nominiert sind. 

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Danke für deine Einschätzungen, die ich eigentlich nur teile, auch wenn ich bisher nur über Melara Mvagdobos Roman «Großmütter» gelesen habe. Vor ein paar Tagen bekam ich vom Transit Verlag, bei dem ihr Roman erschienen ist, eine Mail, man könne mir den Roman erst in einigen Tagen zusenden, da man nachdrucken müsse. Eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Zum einen zeigt die Situation des Verlags, wie sehr man von dieser Nomination überrascht war und wie gut in der Folge das Buch verkauft wurde, was übrigens auch bei «Die Holländerrinnen» von Dorothee Elmiger geschah, drohte doch eine Lesung in der Ostschweiz ohne Büchertisch mit dem angesagten Titel, was schlussendlich verhindert werden konnte, weil in der Not die eine Buchhandlung der andern aushalf. Ein guter Buchverkauf des einen Buches hilft vielen anderen Büchern des gleichen Verlags, denen es nicht gelingt, die Brieftaschen von LeserInnen aus welchen Gründen auch immer zu öffnen. Zum andern kann der Hunger ausgerechnet in Momenten des grössten Appetits nicht gestillt werden.

Melara Mvogdobo «Großmütter», Transit, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-88747-416-4

Aber nur schon dein kleiner Teaser lockt und steigert die Vorfreude auf «Großmütter», ist doch das Thema «Geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen» aktueller denn je in Zeiten, in denen «Männlichkeit» von politischen Parteien zum Kampfwort gemacht wird, Männerbünde in Medien mit Reichtum und kruden Ansichten protzen, Statistiken über Gewalt gegen Frauen mehr als besorgniserregend aussehen und Errungenschaften wachsender Emanzipation und Akzeptanz gegenüber einem LGBTQ-Bewusstsein offensichtlich immer stärker in Bedrängnis geraten.

Hier die Begründung der Jury des Schweizer Buchpreises für den Roman «Großmütter»: Der Roman handelt von zwei Grossmüttern, die in ganz unterschiedlichen Welten leben und die doch viel gemeinsam haben … Als junge Frauen haben sie Träume. Sie heiraten, werden gedemütigt und spüren die engen Grenzen, die das Patriarchat ihnen setzt. Doch irgendwann setzen sie sich zur Wehr. In einer überraschenden Parallelführung zweier Leben zeigt Mvogdobo das, was Frauen über Kulturen und Kontinente hinweg verbindet. Das Buch besticht durch die knappe, messerscharfe und zugleich bewegende Sprache ebenso wie durch seine Milieuschilderungen.

Ich freue mich auf das Buch!

Und «Lázár»? Wenn der hochdekorierte Grossmeister der Deutschen Literatur Daniel Kehlmann, der sich mit «Die Vermessung der Welt» ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Lesegeneration einschrieb, sich zu einer solchen Einschätzung hinreissen lässt und dem Verlag die Erlaubnis gibt, dieses Zitat zu Werbezwecken aufs Buchcover zu drucken, dann muss doch etwas dran sein. Wenn sich Veranstalter um Nelio Biedermann reissen, wenn das Buch eines 22jährigen in mehr als 20 Sprachen gedruckt wird und in Buchhandlungen mit glänzenden Augen um die Wette gestrahlt wird?

Die Frage, was denn gute Literatur sei, treibt mich immer wieder um. Letzthin las ich ein Zitat des Schriftstellers Martin R. Dean: Die Literatur muss am Lack des schönen Scheins kratzen. In einer Zeit, in der Filterblasen und Echoräume sich wie unsichtbare Scheuklappen auf das Subjekt legen, ist der Blick darüber hinaus von grösstem Wert. (aus «In den Echokammern des Fremden» von Martin R. Dean).

Ich habe «Lázár» gelesen und werde mich später differenzierter dazu äussern. Vielleicht sehen wir uns ja wieder an der Preisverleihung des Schweizer Buchpreises im Foyer Theater Basel, 11.00 Uhr, am Sonntag, den 16. November.

In Freundschaft

Gallus 

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach ­einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien  im Verlag Edition 8 ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden».

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Echte Perlen? #SchweizerBuchpreis 25/01

Schweizer Buchpreis 2025 – das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer:innen oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autori:nnen. Ist das möglich? Kann das eine Jury bestimmen? Gibt es das eine, beste Buch? Was sind die Kriterien für das beste Buch?

Ich bin mir sicher, dass die Jury mit Tim Felchlin, Literaturredaktor und Kulturjournalist, Martina Läubli, Kulturjournalistin, Simone Nuber, Master of Science, Isabelle Vonlanthen, stellvertretende Leiterin des Literaturhauses Zürich und Manuela Waeber, freie Lektorin alles daran setzen, die Nominierungen und die Wahl zum Schweizer Buchpreises möglichst objektiv aussehen zu lassen, würden doch deutliche Fehlentscheidungen die Glaubwürdigkeit eines solchen Prädikats „bestes Buch“ noch mehr in Frage stellen. Aber das beste Buch gibt es nicht. Die Frage scheitert an mehreren Punkten. Auch wenn es Leute aus dem Literaturbetrieb gibt, die der Überzeugung sind, dass es unauslöschliche Kriterien für gute Literatur gibt. Gute Literatur zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, tiefgründige Wahrheiten über die menschliche Erfahrung zu vermitteln, starke emotionale Reaktionen hervorzurufen und die Zeit zu überdauern. Sie zeichnet sich durch gut entwickelte Charaktere, fesselnde Handlungen und eine reiche, nuancierte Sprache aus. Aber wer bestimmt, was tiefgründig ist? Ist es nicht so, dass emotionale Reaktionen ganz unterschiedlich ausfallen können, nicht nur in der Kunst. Was ist „nuancierte“ Sprache? Wülstig mit Sicherheit nicht. Schon gar nicht sichtbar durch die Anzahl von Adjektiven.

Vielleicht muss ich ganz persönlich auf die Frage antworten, was gute Literatur zumindest für mich sein kann: Sie muss mich fesseln. Sie muss mich überraschen. Sie muss mich in irgend einer Form provozieren. Sie muss in mir einen Nachhall erzeugen, muss sich in mir festhaken. Der Sound muss musikalisch sein. Ich soll bewegt werden… Ich könnte die Liste noch weiterführen, ohne je den Anspruch zu haben, eine solche Liste habe Allgemeingültigkeit. Robert Walser wurde wie Franz Kafka zu Lebzeiten nur von wenigen beachtet und geschätzt, am wenigsten vom Buchmarkt. Oder umgekehrt; Kennen sie John Knittel? Der Schweizer Schriftsteller war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, starb 1970. Heute kennt ihn kaum mehr jemand. Vergessen. Kennen sie Ruth Blum? Die Schaffhauserin starb 1975. Ich kaufte alle ihre Bücher in Antiquariaten und war hell begeistert. Vergessen. Noch so eine lange Liste.

Das beste Buch! Warum ist unter den Nominierten nicht „Sommerschatten“ von Urs Faes? Oder „Walzer für niemand“ von Sophie Hunger? Oder „Sechzehn Monate“ von Fabia Andina? Hört die Schweiz an den Sprachgrenzen auf?Schweizer Buchpreis? Oder „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger? Warum nicht einmal Lyrik in der Liste der Nominierten? Weil man der Lyrik kein Scheinwerferlicht zutraut? Weil sich damit keine Verkaufszahlen generieren? (Hut ab vor allen Verlagen, die sich noch immer tapfer trauen, Lyrik zu drucken!) Die Liste jener Bücher, die es auch verdient hätten, wird mit der Intensität des Lesens nicht kürzer. Auch das Unverständnis über diese Versäumnisse. Zudem muss man wissen, dass sich etliche Grössen der hiesigen Literatur durch ihre Verlage gar nicht mehr zur Wahl stellen wollen.

Immerhin stehen für einmal keine Debüts in der Liste. Wie soll ein Debüt eine Chance haben neben einem Buch eines literarischen Schwergewichts? Und Schwergewichte sind in der Liste der Nominierten sehr wohl vertreten: Mit Sicherheit die erst 40jährige Dorothee Elmiger, die mit ihrem Roman „Die Holländerinnen“ auch in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht. Und zweifelsohne Jonas Lüscher. Meral Kureyshi schaffte es mit ihrem Debüt „Elefanten im Garten“ vor 10 Jahren auf die Liste der Nominierten und gilt seither als wichtige Stimme der CH-Literatur. Von Melara Mvogdobo las ich vor ein paar Jahren ihr Debüt „Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden“ und konnte mich nicht wirklich begeistern lassen, genauso wie vom Debüt „Anton will bleiben“ von Nelio Biedermann. Dass ihre Folgeromane von ganz anderer Qualität sind, darüber lässt sich streiten, zumal „Lásár“ in einer Weise gehypt wurde und wird, die jede Verhältnismässigkeit vermissen lässt.

Meine Meinung war ziemlich schnell gemacht.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder