Jens Steiner «Das Gleichgewicht der Welt», Plattform Gegenzauber #SchweizerBuchpreis19/6

Jens Steiner, Buchpreisträger 2013, stellt der Plattform Gegenzauber seine Kurzgeschichte «Das Gleichgewicht der Welt» zur Verfügung. Besuchen Sie die Webseite gegenzauber.literaturblatt.ch, auf der neben Jens Steiner viele namhafte und noch unbekannte Namen mit eigenen Texten auf sich aufmerksam machen sollen.

Eine Ruhe ist das hier. Während vor seinen Füssen scharfer Dampf aufsteigt, grient Stampfermann zufrieden in Richtung Sonne. Herrlich, diese Ruhe! Stampfermann macht den Hosenschlitz zu und dreht sich um. Er weiss, bald ist’s aus mit der Idylle. Bald kommt der Bürokrat. Und wenn der Bürokrat kommt, macht man am besten möglichst viel Lärm. Also los!
Stampfermann tritt an seine Maschine, reisst das Anwerfseil. Der Dieselstampfer wackelt, wie eine junge Geiss, die Kapriolen macht, wackelt schneller, bis er zu schweben beginnt und in massloser Wut die Erde festtrampelt. Was für ein Berserker! Exakt arbeiten kann man trotzdem damit. Peilgenau den Schotter festgeklopft, und immer schön in die Ecken rein. Auch einer mit dicken Händen und einem Vierkantschädel kann das. Man ist schliesslich Profi.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, es bleibt drückend. Der Schweiss läuft Stampfermann auf den zitternden Armen zu Tröpfchen zusammen, die sich mit dem Staub zu einem schlickigen Film vermischen. Auch die Kollegen haben zu kämpfen. Schottergabelmann nimmt einen Schluck aus der Zweiliterflasche, Schaufelmann reibt sich mit der schrundigen Faust die Augen. Es riecht nach Coca-Cola und feuchtem Frischkies.
Von oben herab sieht das alles ganz lustig aus. Das Bild einer Schar knuffiger Männchen, die sich in kleinen Schritten hin- und herbewegen. Ja, wer oben ist, kommt sich vor wie ein Puppenspieler. Ein Zupfen an den Fäden und die Männchen unten zappeln und hopsen. Zupf und hops, zupf und hops. Kindisch, aber trotzdem lustig. Für den, der oben ist. Und oben ist immer einer.
Wer unten ist, versucht ruhig zu bleiben. Mehr liegt nicht drin. Schon gar nicht, wenn der Bürokrat kommt, mit seinen Papieren herumwedelt und einem die Ohren volljammert. Immer ist alles falsch. Und zu langsam. Und überhaupt. Trotzdem besser ruhig bleiben, denkt Stampfermann.
Als der titangraue Kadjar heranbraust, macht Stampfermann weiter, als ob er nichts gesehen hätte. Führt seine Höllenmaschine säuberlich in die Ecken rein, so, wie sich’s gehört. Ehrensache. Der Bürokrat steigt aus dem Wagen, schaut sich die herumstehenden Geräte an, Bitumenkocher, Rüttelplatte, Bodenfräse, registriert, was erledigt wurde seit gestern und was nicht. Und jeder weiss sofort Bescheid: Der Bürokrat ist sauer.
»Herkommen, Leute! Aber dalli!« Stampfermann hört es schon, selbstverständlich hört er es, auch im Lärm seiner Maschine hört er es, aber er will jetzt nicht. Schottergabelmann pfeift, Schaufelmann winkt ihm in den Tunnelblick hinein, aber Stampfermann will ums Verrecken nicht. Er und seine Dieselgeiss klopfen jetzt diesen Schotter fest, dafür sind sie da. Schaufelmann linst zum Bürokraten und zuckt mit den Schultern. Dieser dröhnt: »Herrgottsakrament! Abstellen die Maschine, aber hantli!« Stampfermann würgt seine Geiss ab.
Vögel pfeifen, die Sonne bummert. Hinter der Abschrankung wie immer der Alte mit Zahnstocher im Gesicht. Tagaus, tagein steht er da und schaut ihnen bei der Arbeit zu. Noch weiter hinten steht ein kleiner Rotzbub. Juniordasteher. Zahnstocheraspirant. Stampfermann fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Ihr müsst mir gar nichts erzählen«, fängt der Bürolist an und kramt in seiner Hemdtasche, »schon klar, dass die von der Stadt gern ein bisschen übertreiben. Aber!« Er zündet sich eine Zigarette an. »Aber glaubt ihr wirklich, dass ich dafür da bin, die Sauerei jeden Tag aufzuräumen, glaubt ihr das? Immer wenn’s ein Problem mit der Stadt gibt, kommt der Schöberli und macht Ordnung, hä?« Er zieht an der Zigarette. Seine Wangen werden zu länglichen Tälern. »Wenn ihr dieser Meinung seid, sagt es mir bitte und zwar jetzt auf der Stelle!« Während er spricht, quillt Rauch aus seinen Nasenlöchern. »Irgendwann«, sagt er und schüttelt den Kopf, »irgendwann.«
Hinten bei der Abschrankung noch immer der Alte. Macht keinen Wank. Nur der Zahnstocher im Gesicht. Wippt und wirbelt. Und der Rotzbub hinter ihm seilt in aller Seelenruhe schaumige Spucke auf den Boden ab.
Stampfermann prüft zum Zeitvertrieb die Schotterdichte vor seinen Füssen. Man muss ja schauen, dass man das, was jetzt kommt, einigermassen unbeschadet übersteht. Mit der Zeit hat jeder seine Tricks. Aber heute sieht er trotzdem ständig den Bürokraten im Augenwinkel. Als ob der Augenwinkel mit dem Bürokraten zusammenarbeiten würde. Egal, wie er auf den Schotter schaut, sein Augenwinkel reicht immer bis zum Bürokraten hin. Stampfermann weiss genau, der Bürokrat war immer ein Bürokrat. Trotzdem tut der Bürokrat gern so, als ob er irgendwann in seinem Leben kein Bürokrat gewesen wäre, und flucht wie ein Dreckshund im Strassenbau. Er war aber nie ein Dreckshund. Keine Sekunde seines Lebens. Stampfermann weiss das sehr wohl.
»Was glaubt ihr eigentlich, was ich mir tagaus, tagein den Arsch aufreisse wegen denen von der Stadt«, fährt der Bürokrat fort. »Und jetzt, was sehe ich hier? Da kommt mindestens noch ein Tag Verspätung dazu, ich weiss es genau. Dabei haben wir das alles Punkt für Punkt angeschaut zusammen, oder etwa nicht? Sagt’s mir, wenn ich einen Blödsinn erzähle!«
Weit oben ertönt ein einsames Räuspern. Alle heben den Kopf, auch der Bürokrat, und schauen zu den Balkons hoch. Keine Menschenseele. Trotzdem, denkt Stampfermann. Man sieht immer weniger Leute als tatsächlich da sind. Darum hin und wieder ein Husten aus dem Nichts. Manchmal auch ein Kanarienvogel oder eine Schlagersendung. Da und dort ist das Fenster permanent offen, Geräusche dringen nach draussen, aber wer da oben ist und was der da macht und so, das weiss der unten nicht. Immer ist weiter oben einer und zupft an den Fäden und kichert sich krumm, denkt Stampfermann. Und plötzlich spuckt man dem Bürokraten einen dicken Grünen vor die Füsse und fragt sich, war das jetzt ich oder der da oben am Faden? Eine Unfreiheit ist das, eine verdammte Unfreiheit.
Der Bürokrat hustet, die Zigarette landet am Aushubhaufen und qualmt dort weiter. »Also nochmal. Diese ganze Hälfte des Platzes, Männer, hört ihr mir zu? Die ganze Hälfte muss tiefergelegt werden, wegen der Drainage. Wasser muss abfliessen, und zwar in die Rinnen, wo ihr gelegt habt, klar? Geht das in euren Schädel rein?«
Stampfermann umkrallt in der Hosentasche das Zigarettenpäckchen. Er würde sich gerne eine anzünden, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Dann hört er erneut ein Räuspern. Er blickt hoch. Da, auf dem Balkon. Ein Mann in einem lindgrünen Bademantel, in der Hand hält er ein Glas Milch. Aus seiner offenen Balkontür dringt Trällermusik, eine Katze streckt den Kopf durch das Gitter des Geländers. Ist er es etwa? Ist er derjenige, der die Fäden in der Hand hält und sich Kringel in den Bauch lacht? Stampfermann presst die Lippen zusammen.
»He! Zuhören! Bei euch muss man sich ja schon fragen. Was da im Oberstübchen läuft den ganzen Tag. Habt ihr’s begriffen? Schräge Ebene, wie in der Schule, aber ihr habt ja nicht aufgepasst damals, sonst wärt ihr jetzt nicht hier. Wasser muss abfliessen können. Alles in die gleiche Richtung. Nämlich hierhin. Ich sag’s gern noch einmal, wenn ihr wollt, aber morgen sag ich’s nicht mehr.«
Klack-klack. Das Geräusch von Absätzen. Aber wo? Konzentrieren, denkt Stampfermann, konzentrieren. Drainage. Schräge Ebene. Abfliessen. Doch das Klack-klack der Absätze wird lauter, konzentrieren ist hier unmöglich. Stampfermann, Schottergabelmann und Schaufelmann wenden den Kopf. Da, an der Ecke, da kommt sie. Sonnenbrille in der Frisur. Basttasche. Blumenkleid. In den Hüften ein Wiegen, ein perfekt getaktetes Schlingern. Stampfermann scharrt mit den Füssen, eine Zigarette raucht verloren am Aushubhaufen, oben schlägt eine Balkontür zu. Und auf der anderen Strassenseite kommt das Schlingern näher und näher und die Absätze machen klack-klack, klack-klack, klack-klack. Stampfermann würde jetzt gerne ein Anwerfseil reissen. Eine Wut hat ihn gepackt, eine Wildheit, er will eine Schaufel werfen, einen der anderen Dreckshunde würgen, aber er bleibt still. Diese Frau. Ihr Blick, das Blumenkleid, das Schlingern. Sie biegt um die nächste Ecke und verschwindet. Das Klacken wird leiser. Verfluchte Welt, denkt Stampfermann und drückt das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche zusammen.
Der Bürokrat hustet erneut und verwirft die Hände. »Ja, ihr könnt schon schauen, ihr. Und was mache ich unterdessen?« Wieder hustet er, sein Gesicht läuft rot an. »Ich sag’s euch: Rechnen! Wisst ihr eigentlich, was das Ganze…«, nochmals das Husten, »…und wieviel Tage wir wieder«, und nochmals, »dabei kalkuliere ich bereits jetzt am Rand des Abgrunds, aber was wisst ihr schon. Perlen vor die Säue!« Das Husten will nicht aufhören, und die Wut darüber treibt dem Bürokraten noch mehr Röte ins Gesicht. Da erblickt er den Alten hinter der Abschrankung. »Hat der Greis da vorne etwas gesagt? Der hat doch etwas gesagt. He, Sie! Ja, Sie! Abhauen! Weg hier! Für Unbefugte verboten. Ja, auch ausserhalb der Abschrankung, hopp jetzt. Können wir nicht brauchen hier, solche wie Sie!«
Der Alte dreht langsam ab und zottelt davon. Ein Geräusch ertönt aus seiner Richtung, ein kurzes Schluchzen, abgewürgtes Wimmern, es pflanzt sich fort, steigt zwischen den Hausmauern hoch und verschwindet im blassen Himmel. Der Rotzbub steht noch immer da. Als der Bürokrat ihn mustert, zuckt er zusammen, beginnt in der Luft zu wabern, zu flimmern.
»Gaffer!«, bellt der Bürolist und spuckt. Die Spucke landet auf Schaufelmanns Hose. Schaufelmann hat es nicht gemerkt, aber Stampfermann sieht’s. Im Augenwinkel. Dieser verdammte Augenwinkel zeigt alles. Der Bürokrat geht zu seinem Kadjar, öffnet die Tür. »Morgen früh kommt der Teer«, ruft er. »Macht von mir aus, was ihr wollt, aber morgen machen wir den Deckel zu und fertig.« Der Bürokrat fährt los.
Oben die Sonne, hier unten Vogelpfeifen und ein Kläffhund. Drainage, denkt Stampfermann und quetscht noch immer das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche. Alles fliesst irgendwo zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und dann, ja, dann! Wer weiss schon, was dann passiert.
Er dreht sich um und geht zu seinem Dieselstampfer. Als die Maschine losrabaukt, erscheint das Bild des Alten in seinem Augenwinkel. Beim Unterstand auf der anderen Strassenseite steht er, der schrullige Gaffgreis, im Mund der ewige Zahnstocher. Stampfermann lässt ihn im Augenwinkel, schön am Rand des Gesichtsfelds. Er sieht, der Alte ist nicht allein im Unterstand. Etwas Störrisches, Verstocktes klemmt in seiner Hand. Es reisst, das Störrisch-Verstockte, es schüttelt und windet sich, aber die Hand des Alten lässt es nicht los. Und der Zahnstocher in seinem Mund wippt und wirbelt. Dann holt die andere Hand des Alten aus und schlägt zu, haut zünftig drauf aufs Störrisch-Verstockte, dass es knallt.
Alles fliesst zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und irgendwann passiert’s, denkt Stampfermann. Irgendwann knallt’s irgendwo. Feste haut der Alte beim Unterstand, feste versohlt er dem Rotzbuben den Hintern, und der Rotzbub weiss ganz genau, dass er am Ende der Kette steht und es keinen anderen gibt, der den Hintern versohlt bekommen kann, die Schläge auf seinen Hintern ergeben sich ganz natürlich aus dem Ganzen, die Ordnung besteht darin, dass am Schluss die Schläge auf seinem Hintern landen und das Gleichgewicht der Welt wiederherstellen. Irgendwann wird er nicht mehr der kleine Lümmel sein und am Ende der Kette stehen, aber er weiss, jetzt ist er es, und nichts lässt sich dagegen tun.
Stampfermann stampft und schaut sich verstohlen um. Keiner achtet darauf, wie der Alte die Ordnung herstellt. Wie das klatscht, ha! Das Gleichgewicht ist noch nicht erreicht, feste drauf auf diesen Lümmelhintern, weiter feste drauf!
Dann fällt aus heiterem Himmel ein leeres Milchglas hinab und zerschellt auf dem Schotter. Stampfermann schaut hoch, sieht leere Balkons, halb offene Fenster. Oben hat man die Fäden losgelassen, denkt er. Oben hat man die Zügel fahren lassen! Und prompt lässt er selber seine Maschine los. Sie hopst wütend auf ihrem einen Fuss davon, verlässt das kiesige Rechteck, wackelt wie ein besoffener Tanzbär über ein Rasenstück, durch eine Hecke hindurch und weg ist sie.
Stampfermann lächelt. Dann setzt er sich auf die Bordsteinkante und klaubt die letzte Zigarette aus dem zerfetzten Päckchen. Schaufelmann knabbert Sonnenblumenkerne, Schottergabelmann trinkt aus der Zweiliterflasche. Das Gleichgewicht der Welt, denkt Stampfermann und zündet sich eine Zerdrückte an. Hier ist es wieder. Man ist und bleibt ein Dreckshund, aber wenigstens ist das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt. Von dort, wohin seine wilde Geiss entschwunden ist, ertönen jetzt ein Rumpeln, ein paar Rufe und ein bisschen Geschrei. Zigarette anzünden, erster tiefer Zug. Herrlich!
Stampfermann blickt ein letztes Mal zum Unterstand. Der Rotzbub ist weg. Der Alte streicht sich die Haare glatt, furzt und zieht einen neuen Zahnstocher aus der Hemdtasche. Stampfermann nickt ihm zu. Der Alte schaut zurück, ohne die Miene zu verziehen. Und der Zahnstocher beginnt zu wippen und zu wirbeln.

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis Das zweite Buch der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sein letzter Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» erschien bei Arche.

Interview mit Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

„Sodeli“, und dann wars vorbei, das 10. WORTLAUT-Literaturfestival St. Gallen

Auch wenn die Kälte noch immer im Schatten hockte und grosse grauschwarze Schneeberge mitten in der Stadt Saft liessen, war es neben der Sonne die Literatur, die am letzten Märzwochenende mein Herz erwärmte. Noch bevor an meinem Fenster zuhause der knorrige Aprikosenbaum zu blühen beginnt, schlug die Literatur aus, machte das Wort laut.

Die Zeichnungen, die diesen Text begleiten, sind von der Illustratorin Lea Frei, mit der ich an den kommenden Solothurner Literaturtagen die Veranstaltungen sowohl textlich wie zeichnerisch begleiten werde. Über die Resultate dieses spannenden Unternehmens wird auf literaturblatt.ch informiert.

Im Stundentakt schob sich Höhepunkt an Höhepunkt. Im grossen Saal im Waaghaus, fast versteckt im Splügeneck, mit Pastis in der Hauptpost, lautstark im Palace und der Grabenhalle. Da auch ich mich nicht zerreissen kann, war die Wahl zwischen „Laut“, „Luise“, „Rinks“ und „Lechts“, den vier zur Tradition und St. Galler Spezialität gewordenen Veranstaltungsreihen schnell gefällt. Von Tabea Steiner und Joachim Bitter souverän begleitet und moderiert, lauschte ich der Reihe „Luise“. Sechs Autorinnen und Autoren, die mit ihren Büchern eindrücklich bewiesen, dass Literatur fast alles kann; bezaubern, unterhalten, aufrütteln, verunsichern, beglücken und faszinieren!

Sechs Bücher, die es unbedingt zu lesen lohnt:

Auch in seinem zweiten Band zu den „Menschlichen Regungen“ von Tim Krohn begleitet mich bekanntes Personal aus dem ersten Band „Herr Brechbühl sucht eine Katze“. Herr Brechbühl wohnt noch immer alleine im Erdgeschoss eines Zürcher Mietshauses, wo ihm das kleine Mädchen aus der vierten Etage den Vorschlag macht, mit ihrer Familie die Wohnung zu tauschen, weil ihre Mutter im vierten Stockwerk keine Katze haben wolle. Er brauche die Wohnung im Erdgeschoss, die so praktisch wäre, doch gar nicht dringend, er könne ja auch ein paar Treppen weiter oben alt werden und sterben. Aber Herr Brechbühl will nicht in die vierte Etage, aber vielleicht eine Katze. Und auf der Suche nach einer solchen findet er Samira, eine Frau, die aus der Raupe Brechbühl einen Schmetterling zu machen versteht. Eine Frau, die Brechbühl nicht nur aus seinem Panzer schält, ihn regelrecht ins Leben zieht, in eines mit Geistern, Zeichen, Räucherstäbchen und Gestalten aus dem Reich der Toten. „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein Roman, der köstlich unterhält, geschrieben von einem Autor, der nicht einfach mit menschlichen Regungen spielt, sondern meisterlich konstruiert und fabuliert.

Jens Steiner hält der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen. Auch ihrer Augenwischerei, wenn man sich mit einem Ranking der Recycelns den uneingeschränkten Konsum zu erleichtern versucht, um all jene Leerstellen, die das immerwährende Entsorgen bringt, möglichst schnell wieder mit „Neuem“ aufzufüllen. „Mein Leben als Hoffnungsträger“ ist aber mehr als ein Abenteuerroman auf einem Recyclinghof. Philipp, der junge Mann, der sich dort anstellen lässt, ist, so angepasst sein Leben und Tun an jenem Ort scheint, ein „Verweigerer“. Einer, der sich dem Würgegriff von Leistung, Besitz und Fortschritt verschliesst und verweigert, der einen Kampf auszustehen hat mit sich selbst und seiner Umgebung. Jens Steiner leuchtet das Kleinräumige aus.

In „Max“ lässt sich Markus Orths Zeit mit Erzählen. Er hangelt sich nicht von einem zu nächsten Cliffhanger, die man als Leser unbedingt aufgelöst haben will. „Max“ ist aber auch mehr als eine Künstlerbiographie über den Maler Max Ernst, ein Buch, das vergöttert und verehrt, einen Künstler auf einen steinernen Sockel hebt. „Max“ ist ein Sittengemälde einer verrückten Zeit, über einen „verrückten“, aber keineswegs entrückten Künstler. Sechs mit den Musen seines Lebens überschriebene Kapitel, sechs Frauen, die ein wildes Leben begleiteten. Vor Beginn seines Romanprojekts habe er nicht mehr als zwei, drei Bilder des Künstlers gekannt. Erst durch die Auseinandersetzung über einen Schreibauftrag wurde er der Fülle gewahr, die das Leben und Schaffen Max Ernsts ausmachte. Markus Orths las jene Szene aus seinem Roman, als der Medizinstudent Max Ernst an einer Ausstellung in einer Nervenheilanstalt mit Werken von Insassen Henrik begegnet, einem Mann, der aus Brot Plastiken formt, die immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Vater zeigen. Max Ernst geht nach Haute und schreibt: „Ich werde malen, sonst nichts!“

Wazlaw, ein nicht mehr junger Mann, ein Heimatloser, ein Arbeitsmigrant, folgt dem Drift, immer auf der Suche, einer unendlichen Heimatsuche. Ein Leben, das in der Schwebe bleibt, ein Roman, bei dem vieles in der Schwebe bleibt, keine einfache Geschichte, so wie das Leben nie einfach ist. Ein Bohren in tiefe Schichten, in die Sedimente des Lebens. Anja Kampanns grosse Kunst ist die Sprache, das, was sie in ihrem ebenfalls bei Hanser erschienen Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ (Als wären die Gedichte Gesteinsproben des darauf folgenden Romans!) aufs eindrücklichste bewies. Eine Sprache, die sich dem chronologischen Erzählen verschliesst, viel mehr sein will als das Nacherzählen einer Idee, einer Geschichte. Es sind Bilder, die durch alle Sinne dringen, klar gezeichnet und doch mehr als nur abbildend. „Wie hoch die Wasser steigen“ ist ein Buch, das man nicht in allem zu verstehen baucht, genau so, wie man Schostakowitsch niemals als Ganzes verstehen kann. Es ist, als stünde man ganz nah an einem riesigen Gemälde. Man sieht Farben, Punkte und Linien, den Pinselstrich und weiss, das nichts dem Zufall überlassen wurde. Erst in der Distanz, mit der Dauer des langsamen Lesens wird das Ganze sichtbar, das viel mehr ist als eine Geschichte.

Fast voll war der Saal bei Dana Grigorcea! Sympathien stürmten wie Fruchtfliegen auf die Frau mit den Fingernägeln im gleichen Rot wie das schmale Büchlein, das von so viel Leidenschaft erzählt. Nach dem letzten Roman „Das primäre Gefühl von Schuldlosigkeit“, einem Stadtroman, einem Roman über Herkunft, episodisch erzählt, war es die Lust auf eine Liebesgeschichte mit viel „Zug“, eine Geschichte, die in Zürich spielt. Auch ein Experiment, ob die gewonnenen Leser/innen ihrer letzten beiden Romane, die miteinander verwandt sind, ihr mit einer Liebesgeschichte folgen würden. „Schreiben am Scheitern vorbei.“ „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, eine Tänzerin, die den Zenit ihres Erfolgs bereits überschritten hat, die einst mehr war, als sie zu erhoffen gewagt hatte, eine Ballerina. Eine Liebe zu einem Fremden, einem verheirateten Kurden, einem Mann, der sich sonst nicht in ihren Kreisen bewegt. Eine scheinbar leichtfüssige Novelle „in einer der schönsten Städte der Welt, mit freundlichen, sorglos wirkenden Menschen“.

Und zuletzt Nicol Ljubić. 1977 brennt Hartmut Gründler lichterloh. Ein Mann, der über lange Zeit unauffällig zur Untermiete im Haus der Familie Kelsterberg lebt. Eine Geschichte zum einen aus der Perspektive des zehnjährigen Sohnes der Familie und Jahrzehnte später aus der Rückschau desselben bei den Besuchen bei einer alt gewordenen Mutter. Damals, 1977, war Hanno Kelsterberg nicht nur Zeuge zunehmender Radikalisierung im Protest Hartmut Gründlers, sondern Zeuge einer «tektonischen Verschiebung» innerhalb der Familie, einer schmerzhaften Entfremdung der Eltern, der Emanzipation seiner Mutter, dem Abfallen seines Vaters. Drei Jahrzehnte später besucht Hanno seine greise Mutter. Die Katastrophe von Fukushima ist für die Mutter keine Keule einer falschen Atompolitik, sondern logische Konsequenz und damit lang erwartete Bestätigung für den Kampf Hartmut Gründlers, eines verkannten Messias. „Ein Mensch brennt“ ist provokant und mit politischem Ausrufezeichen geschrieben über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

 

 

 

 

Den Organisierenden meinen grossen Dank und tiefen Respekt. Vor allem Joachim Bitter, Mitinitiant, Moderator und Literaturfreund aus Leidenschaft!

Wortlaut St. Gallen: Zum Beispiel Markus Orths und Jens Steiner!

Zwei Autoren, für die es sich schon lohnt, das 10. St. Galler Literaturfestival «Wortlaut» zu besuchen: Markus Orths erzählt in seinem grossen Roman «Max» vom wilden Leben des Malers und Lebenskünstlers Max Ernst, ein Leben in einem wahnwitzigen Jahrhundert in wahnwitziger Leidenschaft. Und Jens Steiner, der stille Grosse der Schweizer Literatur, in „Mein Leben als Hoffnungsträger“ vom kleinen Leben, in dem sich die Welt spiegelt.

Jens Steiner liest samstags um 14 Uhr im Raum für Literatur in der Hauptpost St. Gallen, Markus Orths am gleichen Samstag um 15 Uhr im Waaghaussaal. Zwei Termine, die man sich neben einer Fülle anderer merken sollte.

Ich freue mich auf die beiden Autoren. Aber am meisten freue ich mich auf eine eventuelle Zugabe von Markus Orts. Beim Verlag ars vivendi erschien in diesem Frühjahr das Buch „Aber sonst geht es mir gut“ von Markus Orths. Humoresken aus seinen bisher erschienen Büchern und speziell für dieses absolut lesenswerte Buch verfasste Schmankerl.

In vielen der in diesem Buch versammelten Geschichten erzählt Martin Kranich von seiner Mutter Ilse Kranich. Aber eigentlich schreibt Markus Orths über seine eigene Grossmutter. Ein Frau mit schwarzem Dutt, die den kleinen Markus oft in Schutz nahm, wenn er wieder was anstellte. Ein Frau, die unentwegt erzählen konnte und deren monologisierende Erzählkaskaden einem förmlich zudecken. Eine Frau aus einem anderen, fremd gewordenen Jahrhundert, in dem das mündliche Erzählen noch über lange Abende hinweghalf und einem über das Neueste in der direkten Umgebung auf dem Laufenden hielt. Eine Frau, die mit ihren Geschichten die Erinnerung an Menschen und Situationen lebendig hielt. Eine Frau, die sich noch nicht durch «Social Media» geschlagen geben musste, der man sich ergeben musste, um sich irgendwann wieder frei zu bekommen. Ein Büchlein, das perfekt fürs Nachttischen bestimmt scheint!

Markus Orts las vor ein paar Jahren schon einmal aus seinem Werk. Wer ihn erlebt hat, weiss, wie unterhaltsam, witzig, geistreich und frech seine Darbietungen sind. Obwohl Markus Orths alles andere als ein lustiger Schreiberling ist, weiss er um die Kunst des literarischen Humors. Markus Orths ist ein begnadeter Geschichtenerzähler!

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg und lebt als freier Autor in Karlsruhe. 2017 erschien sein elftes Buch, der Roman Max. Drei seiner Bücher sind in insgesamt sechzehn Sprachen übersetzt worden. Seine Texte wurden u.a. ausgezeichnet mit dem Telekom-Austria-Preis (2008) in Klagenfurt, dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2009) und dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar (2011). In Paris gewann das Stück Femme de Chambre den Prix Théâtre 13 und den Publikumspreis. Im Theater Baden-Baden wurde Die Entfernung der Amygdala uraufgeführt. Der Film Das Zimmermädchen Lynn (nach dem Roman Das Zimmermädchen) kam 2015 in die Kinos. Zudem schreibt Markus Orths Kinderbücher und Hörspiele.

Jens Steiner, 2013 mit seinem zweiten Roman „Carambole“ Gewinner des Schweizer Buchpreises, ist ein stiller Zeitgenosse, ein stiller Beobachter. Ein Beobachter der kleinen, unscheinbaren Dinge, die sich oft auf Nebenschauplätzen abspielen. Mit „Mein Leben als Hoffnungsträger“ verpackt der Autor auf subtile Weise Gesellschaftskritik, seinen ganz eigenen Humor und offenbart Sätze und Textstücke, deren Zauber sich wie guter Wein in Mund und Nase entfaltet.

„Was in die Häuser der Leute alles reinpasst und ständig wieder raus muss. Mein lieber Mann!“

Philipp ist noch jung und für seinen Vater eine Enttäuschung. Er scheint nicht fähig, sich den Anforderungen der Gesellschaft zu stellen, seinen Mann zu stellen. Da nützen auch Zückerchen oder versteckte Drohungen nichts. Und als Philipp seine Lehre als Mechatroniker schmeisst und ihn seine WG-Mitbewohner wegen seines Putzfimmels auf die Strasse spedieren, bleibt wenig. Aber Philipp lässt sich nicht entmutigen. Er hat der Welt nichts angetan. Und die Welt tut ihm nicht weh. Er fröhnt dem Müssiggang, findet Unterschlupf in einer kleinen Bleibe in einem Wohnsilo und verdient das bisschen, das er braucht, bei Gelegenheitsjobs. Eigentlich könnte alles so bleiben.
Bis Uwe ihn auf einer Bank am Ende einer Strassenbahnlinie entdeckt. Und weil es sich Philipp seit seiner Kindheit zur Gewohnheit machte, Silberpapier (Stanniolpapier) zu sammeln, macht Uwe Philipp zu seinem Hoffnungsträger. Zuhause döselt Philipp jedes einzelne Papierchen auf und glättet sie mit dem Fingernagel. Beeindruckend für Uwe, der hinter der Endschleife der Strassenbahn Chef eines städtischen Recyclinghofs ist, ebenfalls eine Endstation. Aber Uwe zweifelt an einer Menschheit, die nur zu kaufen scheint, um sich wenig später davon zu befreien. Der Recyclinghof, ein Ort, wo sich die Menschen ihren Überflüssigkeiten entledigen. Die einen still und schnell, die andern verschämt oder schamlos.
Mit einem Mal tritt Philipp in ein Gefüge aus Mensch und Material. Auf dem Recyclinghof arbeiten auch noch Arturo und João, zwei Portugiesen, der eine störrisch faul, der andere umtriebig und geschäftstüchtig. Philipp hat seinen Platz gefunden. Wieder könnte alles so bleiben.
Aber Philipp gewinnt Nähe, die ihn ins Geschehen und die Leben auf dem Recyclinghof verstrickt. Sowohl als Uwes Hoffnungsträger wie als Verbündeter in den undurchsichtigen Nebengeschäften Joãos. Ein Freilufttheater auf der Bühne eines Recyclinghofs. Während im Hintergrund der Schredder rattert, spitzt sich die Lage zwischen Containern, Mulden und dem mannshohen Zaun, hinter dem Jahrmarktfahrer den Winter verbringen zu. Welttheater zwischen den unnütz gewordenen Errungenschaften der Zivilisation. Spannend wie ein Krimi wird es, weil das Viergespann João aus der Klemme helfen muss.

„Was die Menschen hier wegwerfen würden, sind die Schuttmoränen ihrer Kaufräusche.“

Jens Steiner spart nicht mit mehr oder weniger sachten Seitenhieben an die Pfeiler einer funktionierenden Gesellschaft, die längst nicht mehr weiss, was sie mit all den Insignien von Wohlstand und Konsumkraft anfangen soll. Jens Steiner schreibt aber weder mit Moralkeule noch Drohfinger. Er tut dies mit seiner unaufgeregten, verschmitzten Art. Während Jens Steiner seine Protagonisten das Geschehen im Recyclinghof beschreiben lässt, türmen sich tiefe Eindrücke des Paradoxen auf der Seite des Lesers. Ein grossartiges Buch über die Schieflage der menschlichen Existenz!

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman „Hasenleben“ (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Letzter Roman „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“ erschien noch bei Dörlemann.

«Literatur am Tisch» mit Jens Steiner und seinem Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger»

Am Montag, 15. Januar 2018, liest und diskutiert Jens Steiner. Alle Interessierten sind zu dieser ganz «privaten» Runde eingeladen. Um 19 Uhr zu Wein, Brot und Käse am grossen Esstisch an der St. Gallerstrasse 21 in Amriswil TG! Einzige Voraussetzung für eine Teilnahme: Sie sollten das Buch gelesen haben! Melden Sie sich an und seien Sie dabei. 30 CHF inkl. Konsumation. info@literaturblatt.ch.

Rezension auf literaturblatt.ch!

Unregelmässig findet an unserem grossen Esstisch «Literatur am Tisch» statt: Eine Autorin oder ein Autor wird zusammen mit seinem neusten Buch zu Tisch geladen, ebenfalls maximal 10 Gäste, die das Buch gelesen haben. Man trinkt ein Glas Wein (oder mehr), geniesst Häppchen aller Art und unterhält sich, setzt sich angeregt und manchmal auch kritisch mit dem Buch, dem Schreiben, dem Lesen und der Literatur auseinander. Kosten für Teilnehmende inkl. Nachtessen und Getränke mind. 30 Fr., Beginn 19 Uhr

«Literatur am Tisch» soll Leserinnen, Leser und Autorinnen und Autoren an einen Tisch bringen, die Möglichkeit bieten, sich in ein echtes Gespräch, einen für beide Seiten zum Gewinn werdenden Austausch einzulassen. Traditionelle Lesungen oder Gespräche lassen Lesende auf Distanz, bieten kaum die Gelegenheit, eigene Lesarten, Gedanken miteinzubringen.»

«Lesungen auf einer Bühne sind das eine. Im intimen Rahmen von Gallus› und Irmgards Literatur-am-Tisch-Abenden ist man der mitdiskutierenden Leserschaft ungleich ausgelieferter, da Künstlergarderobe als Rückzugsmöglichkeit, erhöhte Bühne als distanzschaffendes Element und blendende Scheinwerfer fehlen, welche die Fragestellenden anonymisieren. Im besten Fall – und so einer lag bei meinem Besuch vor – erlaubt so eine Konstellation ein vertieftes Eintauchen, eine angeregte, kritische Diskussion, bei der man als Autor gezwungen wird, sich wieder einmal ganz grundsätzliche Fragen zum eigenen Werk zu stellen. Besonders ergötzlich gestaltet sich so eine Auseinandersetzung bei gutem Essen und feinem Wein am Tisch der Gastgeber in Amriswil.» Frédéric Zwicker

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen. Der Runde am 17. August war die bei vielen vorhandene jahrelange Erfahrung mit Diskussionen und Reflexion über Texte anzumerken. Mit Sorgfalt bitten die Gastgeber Gallus und Irmgard zu Tisch, und schon ganz bald ist man mitten in publizistischen und literarischen Fragen: Wer bestimmt das Cover eines Buches? Warum trägt es genau den Titel? Wie viel hatte die Autorin dazu zu sagen? Wie ist die Idee zum Text entstanden, wie erlebte ich die Schreibarbeit an einem Thema, das einem wohl nicht anders als unter die Haut gehen muss. Warum diese Erzählperspektive? Und wie spiegeln sich die Leser/innen im Text, den sie lesen? Diese und viele andere Fragen haben wir diskutiert. Dabei war es für mich immer wieder auch spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren. Danke!» Bettina Spoerri

Jens Steiner «Mein Leben als Hoffnungsträger», Arche

Philipps Mutter schärfte ihm einst ein, Silberpapier brauche hunderttausend Jahre, bis es verrotte, wenn überhaupt. Seither sammelt Philipp Stanniolpapier, dröselt es auf und streicht es mit dem Fingernagel glatt. Das gefällt Uwe. Uwe ist Leiter der städtischen Recyclinghofs und macht Philipp zu seinem «Hoffnungsträger».

Jens Steiner, 2013 mit seinem zweiten Roman «Carambole» Gewinner des Schweizer Buchpreises, ist ein stiller Zeitgenosse, ein stiller Beobachter. Ein Beobachter der kleinen, unscheinbaren Dinge, die sich oft auf Nebenschauplätzen abspielen. Mit «Mein Leben als Hoffnungsträger» verpackt der Autor auf subtile Weise Gesellschaftskritik, seinen ganz eigenen Humor und offenbart Sätze und Textstücke, deren Zauber sich wie guter Wein in Mund und Nase entfaltet.

«Was in die Häuser der Leute alles reinpasst und ständig wieder raus muss. Mein lieber Mann!»

Philipp ist noch jung und für seinen Vater eine Enttäuschung. Er scheint nicht fähig, sich den Anforderungen der Gesellschaft zu stellen, seinen Mann zu stellen. Da nützen auch Zückerchen oder versteckte Drohungen nichts. Und als Philipp seine Lehre als Mechatroniker schmeisst und ihn seine WG-Mitbewohner wegen seines Putzfimmels auf die Strasse spedieren, bleibt wenig. Aber Philipp lässt sich nicht entmutigen. Er hat der Welt nichts angetan. Und die Welt tut ihm nicht weh. Er fröhnt dem Müssiggang, findet Unterschlupf in einer kleinen Bleibe in einem Wohnsilo und verdient das bisschen, das er braucht, bei Gelegenheitsjobs. Eigentlich könnte alles so bleiben.
Bis Uwe ihn auf einer Bank am Ende einer Strassenbahnlinie entdeckt. Und weil es sich Philipp seit seiner Kindheit zur Gewohnheit machte, Silberpapier (Stanniolpapier) zu sammeln, macht Uwe Philipp zu seinem Hoffnungsträger. Zuhause döselt Philipp jedes einzelne Papierchen auf und glättet sie mit dem Fingernagel. Beeindruckend für Uwe, der hinter der Endschleife der Strassenbahn Chef eines städtischen Recyclinghofs ist, ebenfalls eine Endstation. Aber Uwe zweifelt an einer Menschheit, die nur zu kaufen scheint, um sich wenig später davon zu befreien. Der Recyclinghof, ein Ort, wo sich die Menschen ihren Überflüssigkeiten entledigen. Die einen still und schnell, die andern verschämt oder schamlos.
Mit einem Mal tritt Philipp in ein Gefüge aus Mensch und Material. Auf dem Recyclinghof arbeiten auch noch Arturo und João, zwei Portugiesen, der eine störrisch faul, der andere umtriebig und geschäftstüchtig. Philipp hat seinen Platz gefunden. Wieder könnte alles so bleiben.
Aber Philipp gewinnt Nähe, die ihn ins Geschehen und die Leben auf dem Recyclinghof verstrickt. Sowohl als Uwes Hoffnungsträger wie als Verbündeter in den undurchsichtigen Nebengeschäften Joãos. Ein Freilufttheater auf der Bühne eines Recyclinghofs. Während im Hintergrund der Schredder rattert, spitzt sich die Lage zwischen Containern, Mulden und dem mannshohen Zaun, hinter dem Jahrmarktfahrer den Winter verbringen zu. Welttheater zwischen den unnütz gewordenen Errungenschaften der Zivilisation. Spannend wie ein Krimi wird es, weil das Viergespann João aus der Klemme helfen muss.

«Was die Menschen hier wegwerfen würden, sind die Schuttmoränen ihrer Kaufräusche.»

Jens Steiner spart nicht mit mehr oder weniger sachten Seitenhieben an die Pfeiler einer funktionierenden Gesellschaft, die längst nicht mehr weiss, was sie mit all den Insignien von Wohlstand und Konsumkraft anfangen soll. Jens Steiner schreibt aber weder mit Moralkeule noch Drohfinger. Er tut dies mit seiner unaufgeregten, verschmitzten Art. Während Jens Steiner seine Protagonisten das Geschehen im Recyclinghof beschreiben lässt, türmen sich tiefe Eindrücke des Paradoxen auf der Seite des Lesers. Ein grossartiges Buch über die Schieflage der menschlichen Existenz!

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman „Hasenleben“ (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Letzter Roman „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“ erschien noch bei Dörlemann.

Jens Steiner liest am 28. Oktober 2017 im Rahmen des Bücherfestivals «Zürich liest» in der Buchhandlung Bücherparadies im Zürcher Seefeld.

Jens Steiner ist am 15. Januar 2018 Gast bei «Literatur am Tisch» in Amriswil! Diskutieren Sie bei Wein, Brot und Käse über seinen neuen Roman, sein Schreiben und sein Leben als «Hoffnungsträger». Anmeldung unbedingt erforderlich!

Titelfoto «So nahte» © Philipp Frei