«Ich liebe dich nicht, weil ich dich liebe.» Buchpremière mit Peter Stamm

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften. Danke für den schönen Abend.» Peter Stamm

Zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren ein unmaskiertes Publikum! Ein voller Saal, bis auf den letzten Platz besetzt. Zusammen mit Peter Stamm auf dem kleinen Podest zu sitzen, um an diesem Abend die Schweizer Buchtaufe seines neuen Romans zu zelebrieren, war eine doppelte Feierstunde, Freude im Quadrat! Als wäre die Situation aus der Zeit gefallen, ein Fenster aufgegangen in eine Zeit, die man vergessen glaubte.

„Das Archiv der Gefühle“ ist neben vielen Erzählungen, Theaterstücken und Hörspielen, sein 8. Roman. Ein Roman, der wie immer mit wenig Spektakel, dafür umso mehr Interpretationsspielraum spielt. Ein Roman, der unweigerlich Fragen stellt, zur Reflexion zwingt. Peter Stamm beweist darin einmal mehr sein Feingefühl für intensive Moment-, Landschafts-, Situations- und Inweltbeschreibungen.

Dass man in Zeiten wie diesen den Tritt im Leben verlieren kann, wird immer offensichtlicher. Und dabei wäre Corona nur einer der Gründe, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Peter Stamms Protagonist verliert viel; seinen Beruf, seine Frau, seine Welt. Ein Aussenseiter, ein Aussteiger, ein Abgedrängter. Er hortet im Keller seines Hauses in Rollregalen das ehemalige Recherchearchiv einer Tageszeitung. Jenes Material, dass vor Zeiten des Internets, vor Google und Wikipedia ein Ort für Nachforschungen war. Von einem ganzen Team betreut, am Schluss nur noch von ihm, bis man es ganz auflösen wollte. Für ihn der Ort, an dem Ordnung in die Welt gebracht werden kann, zumindest als Gegenpol zur Welt der Gefühle, die wohl auch irgendwie archiviert wird, sich aber jeder Ordnung entziehen. 

Franziska war zu Schulzeiten seine Freundin. Wahrscheinlich sogar mehr. Nur reichte es nie zu klaren Worten und eindeutigen Zeichen. Nun sind die beiden alt geworden. Er in seinem Keller, sie in ihrem Garten. Beide allein. Beide mit der Ahnung, etwas versäumt zu haben. Während er erzählt, aus seinem Leben in einer still gewordenen Gegenwart und seinen Erinnerungen, die immer lauter werden, erscheint Franziska immer offensiver in seiner Gedankenwelt, beginnt sich beinah zu materialisieren.

«Ich wollte nicht zu den verlorenen Männern gehören, denen man von weitem ansieht, dass sie nicht mehr gebraucht werden…“ Trotzdem wurde er ein solcher, obwohl er sich doch eigentlich gegen Veränderungen auflehnt. Selbst im Haus, das er von seiner Mutter übernimmt, ändert er nur, was unvermeidbar ist. 

«Das Archiv der Gefühle» ist ein behutsam erzählter, melancholisch gefärbter Roman, der grosse Fragen ohne grosse Gesten stellt (…) ein Juwel.» Rainer Moritz, NZZ

Im anschliessenden Gespräch zusammen mit dem Publikum meinte Peter Stamm, Liebesgeschichten seien in seinen Romanen nicht zu vermeiden. Er brauche sie, weil sie Räume öffnen, Menschen öffnen, weil sie Zustände offenbaren, an denen er interessiert sei!
Seine Nähe zum Publikum offenbarte sich auch in den vielen kleinen Gesprächen im Anschluss an die Lesung, Begegnungen, die den Abend unvergesslich werden liessen.

Beitragsbild © Brigitte Conrad / Literaturhaus Thurgau

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv

Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.

Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist. 

«Wörterbuch und Grammatik der Sprache der Yámana», auf dessen Umschlag man den Namen des Verfassers Thomas Biedres zu löschen versuchte.
Foto © Michael Hugentobler

Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-28269-7

Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.

Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.

Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.

tūwunaiella — eine Wutrede beenden; zu bellen aufhören, linganāna — sich auf eine Wiese benehmen, dass sich die andere Person verpflichtet fühlt, ein Geschenk zu überreichen, māmihlāpinatapai — einander tief in die Augen schauen, wobei beide hoffen, der andere würde einen Vorschlag unterbreiten, der allgemein erwünscht ist, aber bislang noch nicht ausgesprochen wurde…

Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.

«Der alte Mann im Nebel» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Einer, der die Sprache sucht – ein Abend mit Urs Faes

«Schon der Ort, viel beschrieben, zeigte sich an diesem Septemberdonnerstag von seiner zauberhaften Seite: ein mildes Spätsommerlicht über den Dächern, über dem Wasser, über den Wellen, flockig flatterndes Laub – und die Verzauberung drang durch die offenen Fenster in den Raum unterm Dach, mit dem Duft von Meer und Weite, mit Sonne, die auf die Gesichter sich legte. Wieder Lesung vor Menschen; Gesichter, wenn auch noch unter Masken, die ein Mienenspiel verrieten, ein Nicken, ein unter der Maske scheues Lachen, ein Augenspiel, Blicke, zustimmende Gesten, gehaltene Augenblicke, «gestundete» Zeit – Lesezeit. Ein Wunder nach der Pandemie-isolation. Und da ist ein Gallus, der heranführt an Buch und Autor, an Stoff und Stern. Sternstunde. Dieser passionierte Leser mit dem Blick für das Wesentliche, für Nuancen und Details, für Laute und Klänge, für Silben und Sonden. Einer, der Bücher liebt, mit Fragen Räume öffnet, Gesprächsräume, Stoffräume, Leseräume, Räume zum Hören und Träumen: Lesetraumraum Gottlieben – und der schmale Spätmond über den Dächern nickt versonnen.» Urs Faes

Bücher werden nicht mit Stiften, weder mit Schreibmaschinen noch mit Computern geschrieben. Urs Faes ist «Schreiben» in Person, ganz Schreiben. Sein neuster Roman «Untertags» hat 15 Jahre Entstehungszeit gebraucht, bis er sich zwischen zwei Buchdeckel kleben liess. So war der Abend mit Urs Faes die Einweihung in seine Geheimnisse!

Urs Faes «Raunächte». Rezension auf literaturblatt.ch

Urs Faes Spur durch die Literatur ist mehr als 45 Jahre lang. Seine ersten Veröffentlichungen erschienen in Zeitungen und Zeitschriften und 1975 sein erstes Buch, sein Gedichtband «Eine Kerbe im Mittag». Nach einem Dutzend Romanen, vielen Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken gehört Urs Faes zu den Säulen der Schweizer Literaturszene. Als Hausautor von Suhrkamp sowieso und geadelt durch zwei Erzählungen, die in der Insel-Bücherei erschienen (2012 «Paris. Eine Liebe» und 2018 «Raunächte»). Dass Urs Faes nach so vielen preisgekrönten Büchern noch immer zu den Geheimtipps gehört und keines seiner Bücher von den Massen gelesen wird, zeigt, dass die Literatur dieses Meisters weder zum Fastfood noch zur leichten Küche gehören. Was Urs Faes in seinem Schreiben auftut, sind sowohl literarische wie thematische Tauchgänge in die Tiefe. «Keine leichte Kost», meinte ein Besucher bei einem Glas Wein im Anschluss an die Lesung im Literaturhaus Thurgau.

Stimmt, sein Roman «Untertags», eine Liebesgeschichte, eine Familiengeschichte, eine Findungsgeschichte, ein Abschiedgeschichte ist keine leichte Kost. «Ich wollte nicht noch ein Buch über Demenz schreiben, noch einen literarischen Erfahrungsbericht. Schon deshalb, weil ich den Begriff nicht mag und er in meinem Buch nicht einmal vorkommt. Demenz kommt von ‹ohne mens’‚ ‹ohne Verstand›. Aber selbst Kleinkinder sprechen wir den Verband nicht ab, auch wenn die Kommunikation ganz anders funktioniert.» Urs Faes begleitete Paare, die mit dieser Krankheit zu kämpfen hatten, bekam schriftliches Material von Betroffenen, erlebte mit, was es heisst, sie zu begleiten. Und so wie seine Recherche eine behutsame, innige und langfristige Annäherung ist, so ist sein Buch «Untertags» eine behutsame, innige Annäherung an eine Liebe, die sich auch durch die Diagnose «Demenz» nicht auslöschen lässt.

Urs Faes «Untertags», Suhrkamp, 2020, 239 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42948-8

Urs Faes schildert mit aller Behutsamkeit genau das, was das Erkennen in der Liebe ausmacht. Es ist nicht die bedingungslose Offenbarung, sondern die bedingungslose Hingabe. Was am Anfang zwischen Herta, der Erzählerin und Jakov Blumenthal, dem Mann mit den Cowboystiefeln durchaus ein zweiter Frühling war, wird zu einem langen, gemeinsamen Winter. Schweigen breitet sich aus. «Untertags» ist eine berührende Liebesgeschichte frei von jeder Sentimentalität, eingetaucht in die Ehrlichkeit eines Autors, der nicht beschönigen will und es in seiner ganz eigenen Art schafft, die Liebe in ihrer ganzen Kraft zu besingen.

Urs Faes breitete an diesem Abend seine Welt, sein Denken, sein Handeln, sein Herangehen an die Vielfältigkeit der Themen seines Romans aus. Urs Faes schreibt nicht mit Stift, auch nicht mit Tasten, sondern mit seinem ganzen Sein!

Rezension von «Untertags» mit Interview auf literaturblatt.ch

Gespräch mit Urs Faes über sein Buch «Untertags

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer

In Kellern lässt sich vieles lagern, verbergen, vergessen. Aber für eine ganz besondere Sorte Mensch kann ein Keller zu einem Lebensraum, einem Lebensspeicher werden, in dem sie horten, schichten, stapeln und selbst in einem scheinbaren Chaos zu ordnen versuchen.

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman der Entmaterialisierung, denn was bleibt, ist weder bedrucktes, noch beschriebenes Papier, selbst in der kurzen Einheit eines Lebens. Das einzige, was bleibt, ist der Nachhall von Gefühlen, etwas, das sich weder schichten, stapeln, noch horten lässt. Der Nachhall ist flüchtig.

Man hat den Icherzähler entlassen, nachdem er über Jahrzehnte verantwortlich war über das Recherchearchiv einer grossen Tageszeitung. Einst war er Vorgesetzter einer ganzen Equipe in den Kellerräumen des Unternehmens. Irgendwann war er übrig geblieben, der Letzte, den man entlassen musste. Und weil es in der digitalisierten Gegenwart weder Verwendung für ein Archiv, noch für die Rollregale gibt, liess man das Ganze, nachdem er seinen eigenen Keller im ehemaligen Wohnhaus seiner Mutter geräumt hatte, für wenig Geld und gegen vertraglich abgesicherte Nutzungsbestimmungen in sein Heim abtransportieren. Nicht der letzte Grund, warum ihn seine Frau Anita irgendwann aufgab und verliess.

„Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgesetzten Platz…“

Seither spielt sich das Leben des Einzelgängers in den Mauern seines Hauses ab. Was sich nicht durch die wenigen Spaziergänge erledigen lässt, ordert er per Internet. Die Tagesabläufe blieben immer gleich, die Arbeitsstunden am Morgen, das karge Mal zu Mittag, die Arbeitsstunden am Nachmittag, das Buch am Abend.

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-10-397402-7

Aber so sehr er Hüter seines Archivs ist, Hüter gegen das Vergessen, ein Manischer, der immer wieder neue Dossiers anlegt, beseelt davon, Ordnung in sein Leben zu bringen, wird er bedrängt von seinen Gefühlen, den Erinnerungen, der Ahnung, sein Leben verwirkt, vergeudet zu haben. Damals, noch in der Schule, war Franziska seine Freundin. Eine Freundin, in die er verliebt war, die seine Liebe nie verlor, auch als sie sich aus den Augen verloren und sein Leben den Anschein machte, in geordneten Bahnen zu verlaufen. Aber eine Liebe, der er sich nie offenbarte, die immer in der Schwebe blieb, auch als man sich später immer wieder einmal traf und das eine oder andere Mal geschwisterlich in Hotels ein günstiges Zimmer teilte.

Und als in der Gegenwart das Virus das Leben zeitweise zum Erliegen bringt, er seine Spaziergänge aus den Tiefen seines Archivs wieder länger werden lässt, wird auch Franziska immer mehr zu einer Begleiterin seiner Tage, manchmal so real, dass ihr Abbild beinah greifbar wird. Sollte er noch einmal Kontakt aufnehmen? Nach 40 Jahren?

Peter Stamms schrulliger Einzelgänger wendet sich immer mehr ab von jener Welt, die er zu schützen glaubte, immer mehr zu, jenem Gefühl noch eine letzte Chance haben zu müssen, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ich mag ihn. Eigentlich hat er alles richtig gemacht und doch droht er, alles zu verlieren. Der Eigenwillige hat etwas von einem Künstler, einem Kämpfer, der sich nicht um ein Publikum schert.

Aus Franziska wurde Fabienne, ein Name, der sich auf der Bühne als Sängerin besser verkaufen liess. Aber auch ihr Leben ist aus der Spur geraten, vielleicht schon viel länger, als die Berichte in den Medien erahnen liessen. Durch einen ehemaligen Kollegen bringt er den Wohnort seiner ehemaligen Freundin in Erfahrung. Und während sich ihr Abbild immer mehr materialisiert, beginnt sich der Mann von der tonnenschweren Last seines Archivs zu entfernen.

Peters Stamms Sprache ist glasklar, seine Geschichte beinahe schlicht. Es ist das, was er mit seinem Erzählen in mir als Leser auslöst. Was machen Erinnerungen mit mir? Welches Bild von mir und der Welt trage ich in mir? Lebe ich das Leben, dem ich zugesprochen bin? Habe ich die Chancen genutzt, die sich mit stellten? Ist Ordnung alles oder letztlich das, was uns vom Leben trennt? Ergeben wir uns dem Konjunktiv unseres Lebens? Peter Stamms Protagonist lässt sich auf ein imaginäres Gegenüber ein. Dann jeweils kippt die Zeit. Peter Stamms Roman wird einmal mehr polarisieren. Erst recht, weil er so unspektakulär ist. Trotzdem, oder eben darum – ein starkes Buch!

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

Webseite des Autors

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Was für ein besonderer Abend», Karl Rühmann mit der Schauspielerin Martina Schütze

Ein General und eine Frau. Ein Soldat und eine Mutter. Karl Rühmann, der 2020 mit seinem Roman «Der Held» auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand, performte zusammen mit der Schauspielerin Martina Schütze Passagen aus dem Roman, liess Literatur lebendig werden.

Hintergrund des Romans «Der Held» ist der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995. Ein Krieg, dessen Ursprung und Verlauf für viele in vielen Belangen undurchsichtig ist, weil er nicht in Vorstellungen passt. In der Vorstellung, dass Kriege immer solche sind von Angreifern und Angegriffenen, Guten und Bösen, Tätern und Opfern. Die Tatsache, dass in diesem Roman diese Unterscheidung ebenso unmöglich wird, unterstreicht die Verwirrung, die dieser Roman auslösen kann.

General Morodan ist «Der Held», freigesprochen vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Ein Held für sein Volk, sein Land, sein Dorf, die Veteranen seiner Armee. Oberst Bartok ist kein Held, zumindest kein offizieller, nicht freigesprochen, im Gegenteil aller Wahrscheinlichkeit nach ein Verurteilter. Schuldig – unschuldig nach der Rechtssprechung ist ganz etwas anderes als schuldig – unschuldig vor sich selbst und den Mitmenschen.
General Morodan und Oberst Bartok sind beide Insassen dieses Gefängnisses, warten auf ihren Prozess. Sie begegnen sich auf dem Gefängnishof, korrespondieren brieflich, auch nach der Freilassung des Generals. Sie korrespondieren in einer Art und Weise, dass ihnen die Zensur nicht zu Leibe rücken kann, weder dem einen in seiner Freiheit noch dem andern im Gefängnis. Diese Briefe deuten an, verschlüsseln vieles.
Ana, die Haushälterin des Generals ist die eigentliche Erzählstimme im Roman, einem Briefroman zwischen General und Oberst, Freigesprochenem und Verurteiltem. Ana richtet ihre Stimme an ihren toten Mann, einem «gefallenen» Soldaten, der auf der Seite des Generals kämpfte und nicht überlebte. Ana liest als Haushälterin heimlich die Briefe zwischen General und Oberst in der Hoffnung hinter das Geheimnis um den Tod ihres Mannes zu kommen. 

Martina Schütze, Schauspielerin und Bilderbuchautotin

So sassen Schriftsteller und Schauspielerin voneinander abgewandt auf der Bühne, der General und Ana, tauchten ein in Leben, in Rechtfertigung und Schmerz, beide auf der Suche nach ihrer Wahrheit. Dass eine Schauspielerin in eine solche Rolle schlüpfen kann, scheint selbstverständlich. Dass ein Schriftsteller derart überzeugend in die Haut seines Protagonisten schlüpfen kann, ist ausserordentlich. So war es auch nicht erstaunlich, dass man gebannt den beiden Akteueren zuhörte, erst recht, als sie selbst für Fragen in ihren Rollen blieben.

«Die Lesung klingt noch nach, die Fragen über die Wahrheit schwirren noch im Kopf umher. Mir hat das Konzept sehr gut gefallen, gern würde ich es weiterziehen. Wie wertvoll wäre das für Schulklassen.» Martina Schütze 

«Was für ein besonderer Abend: Eine szenische Lesung im Bodmanhaus mit der wunderbaren Martina Schütze. Danke, Gallus, für die Gelegenheit, ein etwas anders geartetes Programm zu wagen, und auch für deine klugen Fragen, die unser Gespräch beflügelt haben. Das Bodmanhaus ist ein besonderer Ort und ein grossartiges Zuhause für Geschichten und für die Fantasie.» Karl Rühmann

Karl Rühmann, Illustration von Lea Frei / leafrei.com

Rezension von «Der Held»

«Der alte Wolf»

Rezension «Glasmurmeln, ziegelrot»

«Ich pass von oben auf dich auf» von Martina Schütze, Herder Verlag

Es rockt im Literaturhaus, am Sommerfest!

Ob Bodman- oder
Literaturhaus, es bleibt
Gott lieb, ganz sicher!
(Heiku von Klaus Merz zum 20-Jahr-Jubiläum des Literaturhauses Thurgau)

Frédéric Zwickers Roman «Radost» ist ein Roadtripp zwischen den Welten. Zwischen der Kleinräumigkeit der Schweiz, der Verlorenheit Sansibars und dem Zauber einer Kulturstadt wie Zagreb. Fabian, ein arbeitslos gewordener Journalist, soll die Biografie von Max schreiben, eines Mannes, den er auf einer seiner Reisen an die Küste Afrikas kennenlernte, dem er wahrschiedlich das Leben rettete, dem er nach Jahren wiederbegegnet und ihm verrät, wie sehr er Gefangener einer Familie und einer Krankheit ist. Fabian beginnt zu schreiben, zu recherchieren, macht sich auf, bei sich und auf dem Rad bis nach Zagreb, auf den Spuren eines Mannes, der ihm immer mehr zum Freund und Spiegel wird.

Frédéric Zwicker brachte aber viel mehr als seinen neuen Roman mit ans Sommerfest in den Garten des Literaturhauses. Seit einem Jahr rockt «Hekto Super» zu den Texten Frédéric Zwickers, zuvor noch unter dem Namen «Knuts Koffer«, lange kroatisch und nun deutsch. «Verzwickte Lyrics mit Ohrwurm-Potenzial, getragen von treibenden Beats, einer Prise Retro-Synthie, knackigen Gitarrenriffs und Bass mit ordentlich Fuzz.» Hinter «Hekto Super» stecken neben Frédéric Zwicker (Gitarre und Gesang), Christoph Bucher (Bass) und die Brüder Florian (Schlagzeug und Gesang) und Tobias Vogler (Keyboard und Gesang). Gemeinsam haben sie mit ihren bisherigen Bands und Projekten tausende Kilometer im Tourbus zurückgelegt, die Bühnen Europas bespielt und über zehn Alben veröffentlicht. Nach vierzehn Jahren mit «Knuts Koffer» bricht mit «Hekto Super» für den Rapperswiler Autor und Musiker Frédéric Zwicker und seine Mitmusiker ein neues Kapitel an.

«Sommerfest hiess es, Sommerfest war es. Eitel Sonnenschein, im Garten Musik, feiner Wein, gutes Essen, gut gelaunte Gäste (auch die Mücken, die sich ganz besonders für das reichhaltige Buffet zu begeistern wussten), bezauberndes «Personal». Herzlichen Dank an Brigitte, Gallus, Karl und alle anderen Beteiligten für einen zauberhaften Abend. Ich wusste von einem früheren Besuch, dass das Bodmanhaus – oder Literaturhaus Thurgau – in Gottlieben ein besonders literarisches Plätzchen ist. Die Qualität des Abends war deshalb nicht überraschend, nur höchst erfreulich. Mit Ausnahme des Spital-Intermezzos unseres tapferen Bassisten genossen wir ein wunderbares Sommerfest. Und auch für mich als Lesenden waren sowohl das Publikum als auch die Moderation durch Gallus auf höchstem Niveau mehr als zufriedenstellend. Herzlichen Dank für die Gastfreundschaft!» Frédéric Zwicker

Aus der Rede:
«Als ich vor einem Jahr hier im Garten zum ersten Mal zum traditionellen Sommerfest begrüsste, schien das ärgste dieser langen Krise, in der wir uns auch ein Jahr danach noch befinden, ausgestanden. Es kam ganz anders. Vier Monate war es im Literaturhaus still. Noch im Dezember, bei der letzten Veranstaltung vor der zeitweiligen Stilllegung, schrieb Joachim Zelter nach seiner Lesung im Literaturhaus: «Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor:innen und lebendiger Zuhörer:innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean.»

Der Geist des Literaturhauses wirkte auch in der Stille. Der Geist eines Ortes, an dem man sich bald wieder begegnete und begegnet; die Kunst den Geniesser:innen, die Literatur den Leser:innen, Klang, Wort und Bild allen offenen Herzen. Man machte mir zwar zwischendurch Mut, mich auch auf die digitale Schiene du begeben, Streaming-Lesungen zu organisieren, den Betrieb zu digitalisieren. Aber das war und sollte das Ding all jener Institutionen bleiben, die ein Budget zur notwendigen Professionalität aufzubringen in der Lage sind.

Das Literaturhaus Thurgau ist trotz aller Einschränkungen ein Bollwerk gegen die Verkleinerung der Welt geblieben. Wer Zeitungen liest, wer Medien konsumiert, muss irgendwann das Gefühl bekommen, die Welt sei auf einige wenige Themen eingeschmolzen. Und um eben diesem Gefühl entgegenzuwirken, braucht es Orte wie dieses Haus, die der Literatur eine Stimme geben. Denn Literatur macht Türen auf, Türen nach Innen und nach Aussen, ins Kleine und ins Grosse. Betrachten Sie das neue Bibliotheksregal im Literaturhaus, das ich zusammen mit Sandra Merten und meinem Sohn bauen durfte. Literatur ist so vielfältig wie die Farben ihrer Buchrücken. Hinter jeder Farbe steckt eine Offenbarung.

Bis vor einem Jahr war ich immer nur Besucher in Literaturhäusern, von Stans bis Hamburg. Aber Literaturhäuser, ob klein oder gross, innovativ oder traditionell, sind viel mehr als Veranstaltungsorte, Hüllen für Lesungen, Ausstellungen oder Konzerte. Literaturhäuser sind Brutstätten. Wissen Sie, dass Peter Stamm vieles aus seinem neuen Roman «Das Archiv der Gefühle» in den Mauern dieses Hauses schrieb? Peter Stamm ist Mitte September Gast im Literaturhaus und wird seine Schweizer Buchtaufe seines Romans hier feiern. Wissen Sie, dass Dorothee Elmiger, die mit ihrem letzten Buch «Aus der Zuckerfabrik», mit dem sie auf der Shortlist des Deutsch Buchpreises stand, hier im zweiten Stock in der Gäste- und Schreibwohnung in und an ihrem Werk arbeitete? Das Literaturhaus Thurgau ist seit Jahrzehnten von Sprache, Schrift und Wort durchtränkt, vom Erdgeschoss, der Werkstatt der Handbuchbinderei von Sandra Merten bis hinauf unters Dach zum Veranstaltungsraum, wo heute Frédéric Zwicker aus seinem Roman «Radost» lesen wird und der Autor selbst als Leadsänger seiner Band «Hekto Super» beweist, dass literarische Texte auch rocken können.

Zudem sehen Sie im Haus auch immer wieder die gezeichneten und signierten Porträts all jener, die im vergangenen Jahr im oder auf Einladung des Literaturhauses Thurgau gelesen haben. Zeichnungen der jungen Illustratorin Lea Frei. Zeichnungen, die aus meiner Sicht repräsentieren, was in einem kleinen Literaturhaus zum Wesentlichen wird; Wir können nicht mit Quantität überzeugen, nicht einmal mit Ausgewogenheit, schon gar nicht mit grossen Namen, die die Massen mobilisieren. Aber wir versuchen sowohl Sie, unsere Gäste, wie auch alle Künstler:innen, die in diesem Haus auf irgend eine ihr eigene Weise zu wirken wissen, mit Nähe, Freundschaft und Herzlichkeit zu begegnen. Die Illustrationen von Lea Frei sind so einzigartig wie das Literaturhaus selbst.

Dass ich als Intendant den Takt dieses Hauses so sehr mitbestimmen kann, freut und ehrt mich sehr. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Zufriedenheit und Euphorie jede der vergangenen Veranstaltungen erwirken konnte. Nicht nur bei mir natürlich! Dass ein solches Schiff seine Segel setzen kann, braucht es viel mehr als einen Steuermann. Die eigentliche Kapitänin auf diesem Schiff ist seit mehr als zwanzig Jahren Brigitte Conrad. Kein Kapitän, der auf der Brücke steht und schreit, sondern ein Kapitän, der sich in seine Koje im Stillen über Pläne und Berechnungen beugt und nie den Kurs verliert, selbst dann, wenn Gegenwind bläst oder Flaute herrscht. Ich danke Brigitte Conrad von ganzem Herzen, nicht nur in meinem Namen, sondern im Namen aller, denen das Literaturhaus Thurgau über die Jahre zu einem Stück Welt geworden ist.

Ich bedanke mich bei der Bodman-Stiftung, bei der Kulturstiftung unseres Kantons, beim Kulturamt. Ich bedanke mich bei Sandra Merten, die neben der Handbuchbinderei auch die Webseite betreut, Gäste empfängt und immer und immer wieder mit anpackt.

Das Literaturhaus Thurgau bleibt im Sinne Klaus Merz hoffentlich noch lange Gott lieb!»

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Hildegard E. Keller mit «Was wir scheinen» im Literaturhaus Thurgau

Was es bedeutet, wenn Leidenschaft, Feuer und Begeisterung sich von der Bühne in den Zuschauerraum ergiessen, wenn nach einer Lesung alle beseelt und inspiriert den Nachglanz der Veranstaltung geniessen, das erlebte man bei der Lesung von Hildegard E. Keller mit ihrem Roman «Wie wir scheinen» über Hanna Arendt.

Ein letzter Sommer 1975 im Tessin. In Tegna, einem etwas abgelegenen Dorf unweit von Locarno, will Hannah Arendt noch einmal die Ruhe und Abgeschiedenheit in sich aufnehmen. Ausruhen vor der letzten grossen Reise. «Was wir scheinen» ist viel mehr als nur eine Biographie über eine Frau, die sich mit ihren Schriften exponierte und beinahe zerrieben wurde in den Mühlsteinen der Öffentlichkeit. «Was wir scheinen» (Der Titel ist der Anfang eines Gedichts von Hannah Arendt!) ist der Roman über eine Frau, die aufräumt, resümiert, nicht nur in ihren Papieren und Schriften, auch in ihren Erinnerungen, weil sie im Sommer 1975 genau spürt, dass es ihr letzter Sommer sein wird.

Von 2008 bis 2017 war Hildegard E. Keller in den USA, unterrichtete, auch Menschen, die von ehemaligen Flüchtlingen des zweiten Weltkriegs stammten. Zwischen zwei Welten, zwei Sprachen, zwei Kontinenten hat die Autorin über die Philosophin Hannah Arendt zu forschen begonnen und gewagt, der Frau auf dem steinernen Denkmal ihre Lebendigkeit zurückzugeben, einen frischen Blick auf die Frau, die man zu oft bloss auf die eine Schrift, die eine Reise, die eine Begegnung reduziert. Einen Blick auf die Frau, die Denkerin, die Dichterin, Privat- und Ehefrau, auf eine Freundin.

Was war der Preis, den Hannah Arendt zu bezahlen hatte für das Buch «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen», dass 1963, zwei Jahre nach dem Prozess in Jerusalem gegen den SS-Obersturmbandführer Adolf Eichmann erschienen war, die Reduzierung ihrer Arbeit auf den Begriff der «Banalität des Bösen»? Hildegard E. Keller spürt in ihrem Roman sehr nah der Frau nach, die auf dem steinernen Sockel allzu leicht vergessen wird, einer Frau, die von sich selbst sagte, sie sei eigentlich ein schüchterner Mensch.

Ein starker Abend mit zwei starken Frauen auf der Bühne. Grossen Danke an Hildegard E. Keller und die Moderatorin Cornelia Mechler.

«Der Untersee ist eine glückliche Landschaft. Am 1. Juli durfte ich im Fünfsterne-Literaturhaus meinen Roman WAS WIR SCHEINEN vorstellen, auf dem Podium mit der hellwachen, begeisterungsfähigen Cornelia Mechler. Gallus und Brigitte schmeissen den Laden aufs Allerbeste. Der Abend war unvergesslich, ich danke Gallus und seinem Team von Herzen.» Hildegard E. Keller

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser

Rolf Lapperts neuer Roman „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ kann einem erschlagen! Sein Roman ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies und den Lügen des Lebens. Erzählt mit weitem Horizont und der Magie eines Geschichtenzauberers!

Lesung mit Rolf Lappert am Donnerstag, den 3. Juni 2021, um 19:30 Uhr im Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 10 // CHF 8 Freunde des Bodmanhauses // CHF 5 ermässigt
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Rolf Lapperts Winnipeg liegt nicht in Kanada, sondern irgendwo in der BRD-Provinz, in Niedersachsen, weit weg von der nächsten Siedlung. Dort versucht sich eine Kommune, abgeschottet von der Aussenwelt, einen eigenen Weg durch das Leben zu bahnen. Bis Ämter und Behörden Wind davon bekommen, dass dort Kinder ohne Schule, ohne Kontakt zur Aussenwelt, fest eingebunden in den Tagesablauf der Selbstversorger zu „befreien“ sind. Die Erwachsenen werden festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt, die Kinder auseinandergerissen und in Pflegefamilien verteilt.

«Wir waren ein Wesen. Was einer dachte, wussten die anderen, was einer fühlte, empfanden wir alle.»

Rolf Lappert erzählt in „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ vier Leben; von Frida, Ringo, Leander und Linus, jenen vier Kindern, drei Jungs und einem Mädchen, die 1980 aus einer Landkommune behördlich befreit wurden. Damals vier Kinder, bis in die Gegenwart, in der sie sich längst verloren haben, nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Was damals die Presse über die Kindheit der vier Kinder schrieb, scheint in keiner Weise mit dem in Verbindung zu stehen, was die vier Kinder in die andere, neue Welt mittrugen. Damals ein Fressen für die Presse. Dabei war es ein Übergriff in das Leben der vier Kinder. Vielleicht sogar die Vertreibung aus dem Paradies.

„Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.“

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

In epischer Länge über fast 1000 Seiten breitet Rolf Lappert vier Leben aus wie jene Künstler, die in riesigen Hallen auf dem Boden eine Ordnung in das zu bringen versuchen, was das Leben anschwemmt. Selbst die vier Protagonisten versuchen Ordnung in ihr Leben zu bekommen, sei es durch einen Neuanfang mit anderem Namen, einer anderen Identität, sei es durch eine lange Suche nach sich selbst, einer Aufgabe, einem Sinn oder dem Wunsch, sich möglichst unsichtbar zu machen, sich zurückzuversetzen an den Ort, an dem man nur sich selbst zu sein brauchte, kein Imago.
Ich als Leser taumle durch diesen Kosmos, berührt, verwundert, überrascht, verunsichert. Selbst ich als Leser versuche zu ordnen, während Rolf Lappert ausbreitet und auslegt, Perspektiven ändert, Textsorten collagiert, in Zustände abtaucht und in langen Sätzen genussvoll mäandert.

„Sie wäre jetzt glücklich, sagte sie sich, wenn nur ihre Welt unentdeckt geblieben wäre, wenn niemand sie weggebracht und ins Leere geworfen hätte wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in den Fluss.“

Obwohl sich die vier nach ihrer Umplatzierung nie mehr treffen, bleiben sie einander verbunden, weil jene Jahre im Kampstedter Bruch, jenem Hof in Abgeschiedenheit, so etwas wie ein Nest war, Familie, auch wenn nicht nach amtlichem Muster. Sie taumeln durch eine Welt, die ihnen fremd bleibt, die nie das zu erzeugen schafft, was die vier gemeinsam in ihrer begrenzten Freiheit erlebten.

„Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind.“

„Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ ist ein grosses Vergnügen für all jene, die wie ich gerne in einem Stoff baden, denen ein Buch, das gefällt und zu einem innigen Begleiter wird, nach der Lektüre nicht einfach so weglegen, in ein Regal hineinschieben oder gleich dem Nachbarn ausleihen. Rolf Lappert gelingt es, ein Meer an Geschichten, Bildern, Dialogen, Ideen, Strängen und Personen auszubreiten. Er breitet eine Welt aus, stösst mich hinein. Zugegeben, die Wellen schwappen hoch, fast immer hoch, aber Literatur ist Konzentrat. 

„Die Welt ist schlecht, sagen sie, und wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu glauben.“

In den Roman eingeflochten sind Erinnerungen, das „Winnipeg Logbuch“, Erinnerungen aus der Sicht der Kinder, als sie noch zusammen in der Kommune lebten: Manchmal haben wir ein leeres Marmeladeglas dabei, damit tragen wir Ameisen von einem Haufen zu einem anderen. Dann beobachten wir, wie die Eindringlinge getötet werden. Zum einen eine Erinnerung, zum anderen eine Metapher für all die Geschehnisse, die man ihnen als Kinder androht und die ihnen in gewisser Weise auch geschehen. Der Roman ist ein Roman über das Fremdsein, über die Einsamkeit, der Einsamkeit, in die man die vier Kinder verbannt, die Einsamkeit, mit der jeder in seinem Leben als Individuum zu kämpfen hat.

Ein grosser Genuss bei der Lektüre seines Romans ist die Genauigkeit seines Schreibens, seine Lust des Beschreibens. Als wäre er ein Maler, der mit Pedanterie jeden einzelnen Farbpunkt setzt, immer mit dem Blick auf das Grosse, Ganze. Und doch ist dieses Beschreiben nicht Mittel zum Zweck, nicht bloss Kulisse. Ich bade im Filigranen Lapperts Sprache, Lappert Farben, dem verspielten Mikrokosmos, der seinen Roman nicht einfach dick, sondern mächtig macht.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor (Mannezimmer). Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter».

Verlagsinformationen zum Buch

«Das Wunder von Kalifornien» von Rolf Lappert auf Gegenzauber

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

 

Franz Hohler bezaubert im Literaturhaus: ein ganz Grosser!

Franz Hohler ging mit mir spazieren. Mit mir und 33 weiteren Glücklichen, die einen Platz im Literaturhaus Thurgau ergattern konnten. Wir waren über eine Stunde unterwegs – durch das literarische Gesamtwerk des Autors.

von Cornelia Mechler

Lebhaft, zurückhaltend, witzig und nachdenklich: Franz Hohler verlieh jedem seiner Texte, die in über 40 Jahren entstanden sind, eine eigene Stimmungslage. Er rezitiert im Stehen, gestenreich, sehr oft auswendig. Als Zuschauer:in ist man gebannt, möchte keine Sekunde verpassen, denn man weiss: So ein Abend bleibt ewig in Erinnerung.

Und man weiss auch: Hier steht ein ganz Grosser auf der Bühne, dem so rasch niemand das Wasser reichen kann. Und wenn sich der Autor dann an den Tisch setzt, um den «Weltuntergang» zu inszenieren und eindrücklich vorherzusagen, dann ist dies so unterhaltsam wie beängstigend zugleich. Das Stück entstand vor mehr als 40 Jahren – und ist doch so aktuell, dass es man es kaum fassen mag. Es folgt noch das «Totemügerli» auf «berndeutsch» und eine Kurzfassung auf «rätoromanisch».

Ach, man möchte, dass dieser Abend niemals enden möge. Als er es dann doch tut, signiert der Autor noch immer bestens gelaunt die vielen Bücher, die ihm gereicht werden. Man geht, geschichtenbepackt und glücklich, nach Hause – und man freut sich auf ein freies Pfingstwochenende. Endlich Zeit, um weiter im Werk von Franz Hohler herumzuspazieren. Aber Achtung, wenn man einmal anfängt, dann könnte es rasch eine Langstreckenwanderung werden!  

noch vor der Veranstaltung, die sich strickt an die Regeln hielt

Programm Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhau Thurgau

 

Ein literarischer Spaziergang mit Franz Hohler

Am 20. Mai führt uns Franz Hohler durch sein reichhaltiges literarisches Gesamtwerk und damit auch durch die letzten 50 Jahre. In seinen Geschichten löst sich die Wirklichkeit unmerklich auf und macht Ereignissen Platz, die sich unserer kühlen Logik entziehen. Mit ungewöhnlich wachem Blick für beunruhigende Details erzählt er von der Brüchigkeit und der Tragikomik unseres Alltags, aber auch von seiner Poesie. Ein heiterer Abend mit einem hintergründigen Kritiker steht bevor, ein ebenso fröhlicher wie nachdenklicher Spaziergang durch unsere Zeit.

«Gäbe es Franz Hohler nicht, müssten wir uns dringend mit der Aufgabe beschäftigen, ihn zu erfinden.» Emil Steinberger

«Hohler ist ein gewiefter Fabulierer, seiner Phantasie hält unsere Realität nicht Stand.» St. Galler Tagblatt

«Franz Hohler ist ein Reisender in Sachen Literatur, einmal als Minnesänger, dann als Beobachter, als Erzähler, als Mahner, als Unterhalter und nicht zuletzt als eine der Identifikationsfiguren der Schweizer Literatur. In den vergangenen Jahren leuchtete der Stern Franz Hohler immer heller und wurde zu einem Fixstern, unübersehbar, als wäre er schon immer da gewesen.» literaturblatt.ch

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Rezension von «Fahrplanmässiger Aufenthalt» auf literaturblatt.ch

Kurzgeschichte «Enten» auf der Plattform Gegenzauber

Wegen der sehr beschränkten Platzzahl im Literaturhaus Thurgau ist die Veranstaltung leider ausgebucht!

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau