«Was für ein besonderer Abend», Karl Rühmann mit der Schauspielerin Martina Schütze

Ein General und eine Frau. Ein Soldat und eine Mutter. Karl Rühmann, der 2020 mit seinem Roman «Der Held» auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand, performte zusammen mit der Schauspielerin Martina Schütze Passagen aus dem Roman, liess Literatur lebendig werden.

Hintergrund des Romans «Der Held» ist der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995. Ein Krieg, dessen Ursprung und Verlauf für viele in vielen Belangen undurchsichtig ist, weil er nicht in Vorstellungen passt. In der Vorstellung, dass Kriege immer solche sind von Angreifern und Angegriffenen, Guten und Bösen, Tätern und Opfern. Die Tatsache, dass in diesem Roman diese Unterscheidung ebenso unmöglich wird, unterstreicht die Verwirrung, die dieser Roman auslösen kann.

General Morodan ist «Der Held», freigesprochen vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Ein Held für sein Volk, sein Land, sein Dorf, die Veteranen seiner Armee. Oberst Bartok ist kein Held, zumindest kein offizieller, nicht freigesprochen, im Gegenteil aller Wahrscheinlichkeit nach ein Verurteilter. Schuldig – unschuldig nach der Rechtssprechung ist ganz etwas anderes als schuldig – unschuldig vor sich selbst und den Mitmenschen.
General Morodan und Oberst Bartok sind beide Insassen dieses Gefängnisses, warten auf ihren Prozess. Sie begegnen sich auf dem Gefängnishof, korrespondieren brieflich, auch nach der Freilassung des Generals. Sie korrespondieren in einer Art und Weise, dass ihnen die Zensur nicht zu Leibe rücken kann, weder dem einen in seiner Freiheit noch dem andern im Gefängnis. Diese Briefe deuten an, verschlüsseln vieles.
Ana, die Haushälterin des Generals ist die eigentliche Erzählstimme im Roman, einem Briefroman zwischen General und Oberst, Freigesprochenem und Verurteiltem. Ana richtet ihre Stimme an ihren toten Mann, einem «gefallenen» Soldaten, der auf der Seite des Generals kämpfte und nicht überlebte. Ana liest als Haushälterin heimlich die Briefe zwischen General und Oberst in der Hoffnung hinter das Geheimnis um den Tod ihres Mannes zu kommen. 

Martina Schütze, Schauspielerin und Bilderbuchautotin

So sassen Schriftsteller und Schauspielerin voneinander abgewandt auf der Bühne, der General und Ana, tauchten ein in Leben, in Rechtfertigung und Schmerz, beide auf der Suche nach ihrer Wahrheit. Dass eine Schauspielerin in eine solche Rolle schlüpfen kann, scheint selbstverständlich. Dass ein Schriftsteller derart überzeugend in die Haut seines Protagonisten schlüpfen kann, ist ausserordentlich. So war es auch nicht erstaunlich, dass man gebannt den beiden Akteueren zuhörte, erst recht, als sie selbst für Fragen in ihren Rollen blieben.

«Die Lesung klingt noch nach, die Fragen über die Wahrheit schwirren noch im Kopf umher. Mir hat das Konzept sehr gut gefallen, gern würde ich es weiterziehen. Wie wertvoll wäre das für Schulklassen.» Martina Schütze 

«Was für ein besonderer Abend: Eine szenische Lesung im Bodmanhaus mit der wunderbaren Martina Schütze. Danke, Gallus, für die Gelegenheit, ein etwas anders geartetes Programm zu wagen, und auch für deine klugen Fragen, die unser Gespräch beflügelt haben. Das Bodmanhaus ist ein besonderer Ort und ein grossartiges Zuhause für Geschichten und für die Fantasie.» Karl Rühmann

Karl Rühmann, Illustration von Lea Frei / leafrei.com

Rezension von «Der Held»

«Der alte Wolf»

Rezension «Glasmurmeln, ziegelrot»

«Ich pass von oben auf dich auf» von Martina Schütze, Herder Verlag

Es rockt im Literaturhaus, am Sommerfest!

Ob Bodman- oder
Literaturhaus, es bleibt
Gott lieb, ganz sicher!
(Heiku von Klaus Merz zum 20-Jahr-Jubiläum des Literaturhauses Thurgau)

Frédéric Zwickers Roman «Radost» ist ein Roadtripp zwischen den Welten. Zwischen der Kleinräumigkeit der Schweiz, der Verlorenheit Sansibars und dem Zauber einer Kulturstadt wie Zagreb. Fabian, ein arbeitslos gewordener Journalist, soll die Biografie von Max schreiben, eines Mannes, den er auf einer seiner Reisen an die Küste Afrikas kennenlernte, dem er wahrschiedlich das Leben rettete, dem er nach Jahren wiederbegegnet und ihm verrät, wie sehr er Gefangener einer Familie und einer Krankheit ist. Fabian beginnt zu schreiben, zu recherchieren, macht sich auf, bei sich und auf dem Rad bis nach Zagreb, auf den Spuren eines Mannes, der ihm immer mehr zum Freund und Spiegel wird.

Frédéric Zwicker brachte aber viel mehr als seinen neuen Roman mit ans Sommerfest in den Garten des Literaturhauses. Seit einem Jahr rockt «Hekto Super» zu den Texten Frédéric Zwickers, zuvor noch unter dem Namen «Knuts Koffer«, lange kroatisch und nun deutsch. «Verzwickte Lyrics mit Ohrwurm-Potenzial, getragen von treibenden Beats, einer Prise Retro-Synthie, knackigen Gitarrenriffs und Bass mit ordentlich Fuzz.» Hinter «Hekto Super» stecken neben Frédéric Zwicker (Gitarre und Gesang), Christoph Bucher (Bass) und die Brüder Florian (Schlagzeug und Gesang) und Tobias Vogler (Keyboard und Gesang). Gemeinsam haben sie mit ihren bisherigen Bands und Projekten tausende Kilometer im Tourbus zurückgelegt, die Bühnen Europas bespielt und über zehn Alben veröffentlicht. Nach vierzehn Jahren mit «Knuts Koffer» bricht mit «Hekto Super» für den Rapperswiler Autor und Musiker Frédéric Zwicker und seine Mitmusiker ein neues Kapitel an.

«Sommerfest hiess es, Sommerfest war es. Eitel Sonnenschein, im Garten Musik, feiner Wein, gutes Essen, gut gelaunte Gäste (auch die Mücken, die sich ganz besonders für das reichhaltige Buffet zu begeistern wussten), bezauberndes «Personal». Herzlichen Dank an Brigitte, Gallus, Karl und alle anderen Beteiligten für einen zauberhaften Abend. Ich wusste von einem früheren Besuch, dass das Bodmanhaus – oder Literaturhaus Thurgau – in Gottlieben ein besonders literarisches Plätzchen ist. Die Qualität des Abends war deshalb nicht überraschend, nur höchst erfreulich. Mit Ausnahme des Spital-Intermezzos unseres tapferen Bassisten genossen wir ein wunderbares Sommerfest. Und auch für mich als Lesenden waren sowohl das Publikum als auch die Moderation durch Gallus auf höchstem Niveau mehr als zufriedenstellend. Herzlichen Dank für die Gastfreundschaft!» Frédéric Zwicker

Aus der Rede:
«Als ich vor einem Jahr hier im Garten zum ersten Mal zum traditionellen Sommerfest begrüsste, schien das ärgste dieser langen Krise, in der wir uns auch ein Jahr danach noch befinden, ausgestanden. Es kam ganz anders. Vier Monate war es im Literaturhaus still. Noch im Dezember, bei der letzten Veranstaltung vor der zeitweiligen Stilllegung, schrieb Joachim Zelter nach seiner Lesung im Literaturhaus: «Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor:innen und lebendiger Zuhörer:innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean.»

Der Geist des Literaturhauses wirkte auch in der Stille. Der Geist eines Ortes, an dem man sich bald wieder begegnete und begegnet; die Kunst den Geniesser:innen, die Literatur den Leser:innen, Klang, Wort und Bild allen offenen Herzen. Man machte mir zwar zwischendurch Mut, mich auch auf die digitale Schiene du begeben, Streaming-Lesungen zu organisieren, den Betrieb zu digitalisieren. Aber das war und sollte das Ding all jener Institutionen bleiben, die ein Budget zur notwendigen Professionalität aufzubringen in der Lage sind.

Das Literaturhaus Thurgau ist trotz aller Einschränkungen ein Bollwerk gegen die Verkleinerung der Welt geblieben. Wer Zeitungen liest, wer Medien konsumiert, muss irgendwann das Gefühl bekommen, die Welt sei auf einige wenige Themen eingeschmolzen. Und um eben diesem Gefühl entgegenzuwirken, braucht es Orte wie dieses Haus, die der Literatur eine Stimme geben. Denn Literatur macht Türen auf, Türen nach Innen und nach Aussen, ins Kleine und ins Grosse. Betrachten Sie das neue Bibliotheksregal im Literaturhaus, das ich zusammen mit Sandra Merten und meinem Sohn bauen durfte. Literatur ist so vielfältig wie die Farben ihrer Buchrücken. Hinter jeder Farbe steckt eine Offenbarung.

Bis vor einem Jahr war ich immer nur Besucher in Literaturhäusern, von Stans bis Hamburg. Aber Literaturhäuser, ob klein oder gross, innovativ oder traditionell, sind viel mehr als Veranstaltungsorte, Hüllen für Lesungen, Ausstellungen oder Konzerte. Literaturhäuser sind Brutstätten. Wissen Sie, dass Peter Stamm vieles aus seinem neuen Roman «Das Archiv der Gefühle» in den Mauern dieses Hauses schrieb? Peter Stamm ist Mitte September Gast im Literaturhaus und wird seine Schweizer Buchtaufe seines Romans hier feiern. Wissen Sie, dass Dorothee Elmiger, die mit ihrem letzten Buch «Aus der Zuckerfabrik», mit dem sie auf der Shortlist des Deutsch Buchpreises stand, hier im zweiten Stock in der Gäste- und Schreibwohnung in und an ihrem Werk arbeitete? Das Literaturhaus Thurgau ist seit Jahrzehnten von Sprache, Schrift und Wort durchtränkt, vom Erdgeschoss, der Werkstatt der Handbuchbinderei von Sandra Merten bis hinauf unters Dach zum Veranstaltungsraum, wo heute Frédéric Zwicker aus seinem Roman «Radost» lesen wird und der Autor selbst als Leadsänger seiner Band «Hekto Super» beweist, dass literarische Texte auch rocken können.

Zudem sehen Sie im Haus auch immer wieder die gezeichneten und signierten Porträts all jener, die im vergangenen Jahr im oder auf Einladung des Literaturhauses Thurgau gelesen haben. Zeichnungen der jungen Illustratorin Lea Frei. Zeichnungen, die aus meiner Sicht repräsentieren, was in einem kleinen Literaturhaus zum Wesentlichen wird; Wir können nicht mit Quantität überzeugen, nicht einmal mit Ausgewogenheit, schon gar nicht mit grossen Namen, die die Massen mobilisieren. Aber wir versuchen sowohl Sie, unsere Gäste, wie auch alle Künstler:innen, die in diesem Haus auf irgend eine ihr eigene Weise zu wirken wissen, mit Nähe, Freundschaft und Herzlichkeit zu begegnen. Die Illustrationen von Lea Frei sind so einzigartig wie das Literaturhaus selbst.

Dass ich als Intendant den Takt dieses Hauses so sehr mitbestimmen kann, freut und ehrt mich sehr. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Zufriedenheit und Euphorie jede der vergangenen Veranstaltungen erwirken konnte. Nicht nur bei mir natürlich! Dass ein solches Schiff seine Segel setzen kann, braucht es viel mehr als einen Steuermann. Die eigentliche Kapitänin auf diesem Schiff ist seit mehr als zwanzig Jahren Brigitte Conrad. Kein Kapitän, der auf der Brücke steht und schreit, sondern ein Kapitän, der sich in seine Koje im Stillen über Pläne und Berechnungen beugt und nie den Kurs verliert, selbst dann, wenn Gegenwind bläst oder Flaute herrscht. Ich danke Brigitte Conrad von ganzem Herzen, nicht nur in meinem Namen, sondern im Namen aller, denen das Literaturhaus Thurgau über die Jahre zu einem Stück Welt geworden ist.

Ich bedanke mich bei der Bodman-Stiftung, bei der Kulturstiftung unseres Kantons, beim Kulturamt. Ich bedanke mich bei Sandra Merten, die neben der Handbuchbinderei auch die Webseite betreut, Gäste empfängt und immer und immer wieder mit anpackt.

Das Literaturhaus Thurgau bleibt im Sinne Klaus Merz hoffentlich noch lange Gott lieb!»

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Hildegard E. Keller mit «Was wir scheinen» im Literaturhaus Thurgau

Was es bedeutet, wenn Leidenschaft, Feuer und Begeisterung sich von der Bühne in den Zuschauerraum ergiessen, wenn nach einer Lesung alle beseelt und inspiriert den Nachglanz der Veranstaltung geniessen, das erlebte man bei der Lesung von Hildegard E. Keller mit ihrem Roman «Wie wir scheinen» über Hanna Arendt.

Ein letzter Sommer 1975 im Tessin. In Tegna, einem etwas abgelegenen Dorf unweit von Locarno, will Hannah Arendt noch einmal die Ruhe und Abgeschiedenheit in sich aufnehmen. Ausruhen vor der letzten grossen Reise. «Was wir scheinen» ist viel mehr als nur eine Biographie über eine Frau, die sich mit ihren Schriften exponierte und beinahe zerrieben wurde in den Mühlsteinen der Öffentlichkeit. «Was wir scheinen» (Der Titel ist der Anfang eines Gedichts von Hannah Arendt!) ist der Roman über eine Frau, die aufräumt, resümiert, nicht nur in ihren Papieren und Schriften, auch in ihren Erinnerungen, weil sie im Sommer 1975 genau spürt, dass es ihr letzter Sommer sein wird.

Von 2008 bis 2017 war Hildegard E. Keller in den USA, unterrichtete, auch Menschen, die von ehemaligen Flüchtlingen des zweiten Weltkriegs stammten. Zwischen zwei Welten, zwei Sprachen, zwei Kontinenten hat die Autorin über die Philosophin Hannah Arendt zu forschen begonnen und gewagt, der Frau auf dem steinernen Denkmal ihre Lebendigkeit zurückzugeben, einen frischen Blick auf die Frau, die man zu oft bloss auf die eine Schrift, die eine Reise, die eine Begegnung reduziert. Einen Blick auf die Frau, die Denkerin, die Dichterin, Privat- und Ehefrau, auf eine Freundin.

Was war der Preis, den Hannah Arendt zu bezahlen hatte für das Buch «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen», dass 1963, zwei Jahre nach dem Prozess in Jerusalem gegen den SS-Obersturmbandführer Adolf Eichmann erschienen war, die Reduzierung ihrer Arbeit auf den Begriff der «Banalität des Bösen»? Hildegard E. Keller spürt in ihrem Roman sehr nah der Frau nach, die auf dem steinernen Sockel allzu leicht vergessen wird, einer Frau, die von sich selbst sagte, sie sei eigentlich ein schüchterner Mensch.

Ein starker Abend mit zwei starken Frauen auf der Bühne. Grossen Danke an Hildegard E. Keller und die Moderatorin Cornelia Mechler.

«Der Untersee ist eine glückliche Landschaft. Am 1. Juli durfte ich im Fünfsterne-Literaturhaus meinen Roman WAS WIR SCHEINEN vorstellen, auf dem Podium mit der hellwachen, begeisterungsfähigen Cornelia Mechler. Gallus und Brigitte schmeissen den Laden aufs Allerbeste. Der Abend war unvergesslich, ich danke Gallus und seinem Team von Herzen.» Hildegard E. Keller

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser

Rolf Lapperts neuer Roman „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ kann einem erschlagen! Sein Roman ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies und den Lügen des Lebens. Erzählt mit weitem Horizont und der Magie eines Geschichtenzauberers!

Lesung mit Rolf Lappert am Donnerstag, den 3. Juni 2021, um 19:30 Uhr im Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 10 // CHF 8 Freunde des Bodmanhauses // CHF 5 ermässigt
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Rolf Lapperts Winnipeg liegt nicht in Kanada, sondern irgendwo in der BRD-Provinz, in Niedersachsen, weit weg von der nächsten Siedlung. Dort versucht sich eine Kommune, abgeschottet von der Aussenwelt, einen eigenen Weg durch das Leben zu bahnen. Bis Ämter und Behörden Wind davon bekommen, dass dort Kinder ohne Schule, ohne Kontakt zur Aussenwelt, fest eingebunden in den Tagesablauf der Selbstversorger zu „befreien“ sind. Die Erwachsenen werden festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt, die Kinder auseinandergerissen und in Pflegefamilien verteilt.

«Wir waren ein Wesen. Was einer dachte, wussten die anderen, was einer fühlte, empfanden wir alle.»

Rolf Lappert erzählt in „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ vier Leben; von Frida, Ringo, Leander und Linus, jenen vier Kindern, drei Jungs und einem Mädchen, die 1980 aus einer Landkommune behördlich befreit wurden. Damals vier Kinder, bis in die Gegenwart, in der sie sich längst verloren haben, nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Was damals die Presse über die Kindheit der vier Kinder schrieb, scheint in keiner Weise mit dem in Verbindung zu stehen, was die vier Kinder in die andere, neue Welt mittrugen. Damals ein Fressen für die Presse. Dabei war es ein Übergriff in das Leben der vier Kinder. Vielleicht sogar die Vertreibung aus dem Paradies.

„Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.“

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

In epischer Länge über fast 1000 Seiten breitet Rolf Lappert vier Leben aus wie jene Künstler, die in riesigen Hallen auf dem Boden eine Ordnung in das zu bringen versuchen, was das Leben anschwemmt. Selbst die vier Protagonisten versuchen Ordnung in ihr Leben zu bekommen, sei es durch einen Neuanfang mit anderem Namen, einer anderen Identität, sei es durch eine lange Suche nach sich selbst, einer Aufgabe, einem Sinn oder dem Wunsch, sich möglichst unsichtbar zu machen, sich zurückzuversetzen an den Ort, an dem man nur sich selbst zu sein brauchte, kein Imago.
Ich als Leser taumle durch diesen Kosmos, berührt, verwundert, überrascht, verunsichert. Selbst ich als Leser versuche zu ordnen, während Rolf Lappert ausbreitet und auslegt, Perspektiven ändert, Textsorten collagiert, in Zustände abtaucht und in langen Sätzen genussvoll mäandert.

„Sie wäre jetzt glücklich, sagte sie sich, wenn nur ihre Welt unentdeckt geblieben wäre, wenn niemand sie weggebracht und ins Leere geworfen hätte wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in den Fluss.“

Obwohl sich die vier nach ihrer Umplatzierung nie mehr treffen, bleiben sie einander verbunden, weil jene Jahre im Kampstedter Bruch, jenem Hof in Abgeschiedenheit, so etwas wie ein Nest war, Familie, auch wenn nicht nach amtlichem Muster. Sie taumeln durch eine Welt, die ihnen fremd bleibt, die nie das zu erzeugen schafft, was die vier gemeinsam in ihrer begrenzten Freiheit erlebten.

„Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind.“

„Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ ist ein grosses Vergnügen für all jene, die wie ich gerne in einem Stoff baden, denen ein Buch, das gefällt und zu einem innigen Begleiter wird, nach der Lektüre nicht einfach so weglegen, in ein Regal hineinschieben oder gleich dem Nachbarn ausleihen. Rolf Lappert gelingt es, ein Meer an Geschichten, Bildern, Dialogen, Ideen, Strängen und Personen auszubreiten. Er breitet eine Welt aus, stösst mich hinein. Zugegeben, die Wellen schwappen hoch, fast immer hoch, aber Literatur ist Konzentrat. 

„Die Welt ist schlecht, sagen sie, und wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu glauben.“

In den Roman eingeflochten sind Erinnerungen, das „Winnipeg Logbuch“, Erinnerungen aus der Sicht der Kinder, als sie noch zusammen in der Kommune lebten: Manchmal haben wir ein leeres Marmeladeglas dabei, damit tragen wir Ameisen von einem Haufen zu einem anderen. Dann beobachten wir, wie die Eindringlinge getötet werden. Zum einen eine Erinnerung, zum anderen eine Metapher für all die Geschehnisse, die man ihnen als Kinder androht und die ihnen in gewisser Weise auch geschehen. Der Roman ist ein Roman über das Fremdsein, über die Einsamkeit, der Einsamkeit, in die man die vier Kinder verbannt, die Einsamkeit, mit der jeder in seinem Leben als Individuum zu kämpfen hat.

Ein grosser Genuss bei der Lektüre seines Romans ist die Genauigkeit seines Schreibens, seine Lust des Beschreibens. Als wäre er ein Maler, der mit Pedanterie jeden einzelnen Farbpunkt setzt, immer mit dem Blick auf das Grosse, Ganze. Und doch ist dieses Beschreiben nicht Mittel zum Zweck, nicht bloss Kulisse. Ich bade im Filigranen Lapperts Sprache, Lappert Farben, dem verspielten Mikrokosmos, der seinen Roman nicht einfach dick, sondern mächtig macht.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor (Mannezimmer). Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter».

Verlagsinformationen zum Buch

«Das Wunder von Kalifornien» von Rolf Lappert auf Gegenzauber

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

 

Franz Hohler bezaubert im Literaturhaus: ein ganz Grosser!

Franz Hohler ging mit mir spazieren. Mit mir und 33 weiteren Glücklichen, die einen Platz im Literaturhaus Thurgau ergattern konnten. Wir waren über eine Stunde unterwegs – durch das literarische Gesamtwerk des Autors.

von Cornelia Mechler

Lebhaft, zurückhaltend, witzig und nachdenklich: Franz Hohler verlieh jedem seiner Texte, die in über 40 Jahren entstanden sind, eine eigene Stimmungslage. Er rezitiert im Stehen, gestenreich, sehr oft auswendig. Als Zuschauer:in ist man gebannt, möchte keine Sekunde verpassen, denn man weiss: So ein Abend bleibt ewig in Erinnerung.

Und man weiss auch: Hier steht ein ganz Grosser auf der Bühne, dem so rasch niemand das Wasser reichen kann. Und wenn sich der Autor dann an den Tisch setzt, um den «Weltuntergang» zu inszenieren und eindrücklich vorherzusagen, dann ist dies so unterhaltsam wie beängstigend zugleich. Das Stück entstand vor mehr als 40 Jahren – und ist doch so aktuell, dass es man es kaum fassen mag. Es folgt noch das «Totemügerli» auf «berndeutsch» und eine Kurzfassung auf «rätoromanisch».

Ach, man möchte, dass dieser Abend niemals enden möge. Als er es dann doch tut, signiert der Autor noch immer bestens gelaunt die vielen Bücher, die ihm gereicht werden. Man geht, geschichtenbepackt und glücklich, nach Hause – und man freut sich auf ein freies Pfingstwochenende. Endlich Zeit, um weiter im Werk von Franz Hohler herumzuspazieren. Aber Achtung, wenn man einmal anfängt, dann könnte es rasch eine Langstreckenwanderung werden!  

noch vor der Veranstaltung, die sich strickt an die Regeln hielt

Programm Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhau Thurgau

 

Ein literarischer Spaziergang mit Franz Hohler

Am 20. Mai führt uns Franz Hohler durch sein reichhaltiges literarisches Gesamtwerk und damit auch durch die letzten 50 Jahre. In seinen Geschichten löst sich die Wirklichkeit unmerklich auf und macht Ereignissen Platz, die sich unserer kühlen Logik entziehen. Mit ungewöhnlich wachem Blick für beunruhigende Details erzählt er von der Brüchigkeit und der Tragikomik unseres Alltags, aber auch von seiner Poesie. Ein heiterer Abend mit einem hintergründigen Kritiker steht bevor, ein ebenso fröhlicher wie nachdenklicher Spaziergang durch unsere Zeit.

«Gäbe es Franz Hohler nicht, müssten wir uns dringend mit der Aufgabe beschäftigen, ihn zu erfinden.» Emil Steinberger

«Hohler ist ein gewiefter Fabulierer, seiner Phantasie hält unsere Realität nicht Stand.» St. Galler Tagblatt

«Franz Hohler ist ein Reisender in Sachen Literatur, einmal als Minnesänger, dann als Beobachter, als Erzähler, als Mahner, als Unterhalter und nicht zuletzt als eine der Identifikationsfiguren der Schweizer Literatur. In den vergangenen Jahren leuchtete der Stern Franz Hohler immer heller und wurde zu einem Fixstern, unübersehbar, als wäre er schon immer da gewesen.» literaturblatt.ch

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren im Luchterhand Verlag.

Rezension von «Fahrplanmässiger Aufenthalt» auf literaturblatt.ch

Kurzgeschichte «Enten» auf der Plattform Gegenzauber

Wegen der sehr beschränkten Platzzahl im Literaturhaus Thurgau ist die Veranstaltung leider ausgebucht!

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

„Du blaust mir in die Seele“ Bild und Lyrik rund um den Bodensee

Das «Bodenseemeer», wie es oft auch genannt wird, ist bis heute eine der bedeutendsten Kulturlandschaften Europas. Das Redaktionsteam der Literaturzeitschrift orte, vertreten durch Regina Füchslin, Viviane Egli, Erwin Messmer und Cyrill Stieger und vier Autor:innen aus diesem fruchtbaren Kulturraum luden mit Lyrik und Prosatexten, gezielt und charismatisch ausgewählt, zu einer poetischen Segelpartie ein.

Ruth Erat

Einige dieser Texte wurden eigens für diese orte-Ausgabe „Du blaust mir in die Seele“ verfasst und spiegeln die intensive Verbindung der Schreibenden mit dem Bodensee wider. Im Heft mit an Bord sind 16 namhafte Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für stimmungsvolle Blicke auf den Bodensee in der Mitte des Heftes sorgt der international bekannte Fotograf Bernd Schumacher.

Gemeinsam mit den Dichter:innen Ruth Ehrat CH, Bruno Epple D und Dorothea Neukirchen D und dem Redaktor Erwin Messner aus dem Redaktionsteam der orte Literaturzeitschrift stellten die Schreibenden Texte vor, tauchten ein in die Sprachlandschaft um den Bodensee und diskutierten über ihr Schreiben.

Bruno Epple

So wie es Lyrik auf dem Büchermarkt nicht leicht hat, so unverzagt muss der Einsatz und die Motivation sein, heute und in Zukunft eine Literaturzeitschrift herauszubringen. Verkaufszahlen und Umsatz müssen ausgeblendet werden. Wichtig allein ist das Wort, der Wille, jenen Autor:innen Raum zu geben, denen sonst die Bühne fehlt, die man vergisst. Literaturzeitschriften hatten in der Vergangenheit eine ganz andere Rolle, ein anderes Selbstverständnis als heute. Zeitungen interessieren sich kaum mehr für Lyrik und Verlage, die Lyrik veröffentlichen, mit solchen Büchern finanzielle Experimente starten, tun dies in der Regel nur, um die Lyrik nicht dem Vergessen zu übergeben. Umso verdienstvoller, wenn sich eine Literaturzeitschrift über 200 Ausgaben lang darum bemüht, der Literatur eine Stimme zu geben.

Erwin Messmer

Ruth Erat wuchs auf in Bern und Arbon, wirkte als Lehrerin und Dozentin. Seit 2016 ist sie ausschliesslich als Malerin und Schriftstellerin tätig. 1999 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Seit 2015 ist sie im Arboner Stadtparlament.

Bruno Epple studierte Philosophie, Germanistik, Romanistik und Geschichte in Freiburg, München und Rouen, war lange Lehrer, zuletzt Gymnasialprofessor. Er ist freier Autor und Künstler, der Bilder malt und Skulpturen schafft.

Dorothea Neukirchen

Erwin Messmer, 1950 in Staad SG am Bodensee geboren, hat Lehr- und Konzertdiplome für Klavier und Orgel. Es folgten intensive Konzerttätigkeiten als Organist sowie Radio- und CD-Aufnahmen. Daneben schrieb er stets Gedichte, Prosaarbeiten, Essays und Buchkritiken.

Dorothea Neukirchen, 1941, ursprünglich Bühnenschauspielerin, dann Filmschauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin. Sie schrieb und inszenierte Kinofilme, Dokumentarfilme, Fernsehspiele und -serien. Neben Prosa schreibt sie auch Lyrik.

«Das Literaturhaus Thurgau war für uns von der orte-Literaturzeitschrift ein ganz wunderbarer Gastgeber und Veranstalter. Wir danken, dass wir unsere Arbeit und namentlich die Bodensee-Ausgabe unserer Literaturzeitschrift an diesem unvergleichlich schönen Ort und einem interessierten, wertschätzenden Publikum im Rahmen einer Sonntagsmatinée vorstellen durften. Das grosse Engagement und die literarische Kompetenz unserer Gastgeber, der rege Austausch und die tolle Organisation haben unsere Bodenseeautorinnen- und -autoren und uns beglückt.» Die orte-Redaktion

«Die Matinee in Gottlieben zum hier buchstäblich naheliegenden Thema, in der wir von der Schweizer Literaturzeitschrift «orte» unsere Bodensee-Nummer vorstellen durften, bleibt in frühlingsheller, positiver Erinnerung. Der Gastgeber des Thurgauer Literaturhauses bewies als Moderator einmal mehr, dass für ihn Poesie nicht toter Buchstabe ist, sondern Lebenselixier. Der Funke sprang sogleich auf die vortragenden Gäste über: auf Ruth Erat, Bruno Epple und Dorothea Neukirchen, und von diesen auf ein aufmerksames und dankbares Publikum.» Erwin Messmer

Webseite der orte Literaturzeitschrift

Beitragsbilder © Cyrill Steiger

Michael Kleeberg im Literaturhaus Thurgau

Michael Kleebergs Buch „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist keine Abrechnung, viel mehr eine eigentliche Liebeserklärung an seinen Vater, eine Klärung, die sich nicht einstellen wollte oder konnte, solange sein Vater noch lebte.

Michael Kleeberg strotzt vor Geschichten. «Kein Wunder, Schriftsteller.» Aber Michael Kleeberg liebt Menschen, geht auf sie zu, verwandelt eine Lesung in ein Gegenüber. Und wenn der Autor dann mit einem Glas Wein aus seinem Leben erzählt, von all den Begegnungen, Erfahrungen, Reisen, Freundschaften, dann spüre ich als Zuhörer seinen unendlichen Reichtum. «Glücksritter. Recherche über meinen Vater» erzählt nicht zuletzt davon, wem der Autor seine Quelle verdankt.

„Alle Graustufen des realen Lebens sind verschwunden und es wird nur noch Schwarz und Weiss gepredigt.“

Wenn Mütter oder Väter sterben, wenn man Häuser und Wohnungen räumen muss, wenn man bei jedem Ding, das man noch einmal in Händen hält, entscheiden muss, ob es auch zur eigenen Geschichte gehört oder ob es bloss noch Überbleibsel ist, zwängen sich unweigerlich Fragen in den Vordergrund. Väter und Mütter sind einem irgendwie immer nah. Und doch muss man sie gewinnen, denn verlieren muss man sie unweigerlich. 

Eine Einsicht Kleebergs Recherche war, dass seinem Vater Freundschaften nie wichtig waren, viel mehr Status und das Bild einer perfekten Familie. Erklärbar durch die Nachkriegszeit, in der eine ganze Generation sich auf das Äussere fokussierte, eine intakte Hülle. Sein Vater war über Jahre das, was das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland zum Muster erklärte; immer mehr, immer besser. Und selbst Jahrzehnte nach dem Krieg, während man die Erinnerungskultur in Deutschland an allen Rändern entzündete, blieben Männer und Frauen wie seine Eltern im Dunstkreis einer Normalität, die sie in Kindertagen wie die Muttermilch aufgesogen hatten, die eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Gräueln des Nationalsozialismus behinderte, wenn nicht sogar verunmöglichte.

Eine Recherche über die Mythen einer Familie, zu jenen die Überzeugung gehörte, man hätte es viel weiter bringen können, wenn einem das Glück nicht versagt geblieben wäre. «Glücksritter» als einer, der dem Glück hinterher galoppiert.

Michael Kleeberg beschreibt in seinem Buch unendlich zärtliche Momente. Zum Beispiel jenen, als sein Vater ihm als kleinem Jungen Geschichten zeichnete, Comics davon machte, liebevoll nachzeichnete, was er erzählte.
Ihm zu lauschen war wie der Blick auf seine inneren Bilderwelten und -landschaften. Genuss!

«Ich habe meinen Freunden aus Gottlieben geschrieben: «Grüße aus der Freiheit!» Und genau so habe ich es auch gemeint. Aus der Paranoia, dem Irrsinn und Denunziationswahn, die derzeit in Deutschland herrschen, herauszukommen (gegen manche von der deutschen Obrigkeit in den Weg gestellte Reisehindernisse) und zum ersten Mal seit sieben Monaten in einer von gesundem Menschenverstand geprägten Umgebung wieder vor echten Menschen lesen zu können, war ein Geschenk, für das ich Dir, lieber Gallus, nicht genug danken kann.
Es waren schöne Tage im Zeichen der Literatur, die wir beide lieben.» Michael Kleeberg

Programm Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Michael Kleeberg «Glücksritter. Recherche über meinen Vater», Galiani

Die Frage nach dem Woher und Wohin wird wohl in keinem Moment mehr gepusht, als dann, wenn Väter und Mütter sterben. Wenn es unmöglich geworden ist, Fragen direkt zu stellen. Wenn Wohnungen und Häuser geräumt werden und mit einem Mal nackte Mauern stehen, wo einst Geschichte lebte. Michael Kleeberg, grosser Romancier und Essayist, wäre nicht Michael Kleeberg, wenn er den Tod seines Vaters so einfach hinnehmen würde. „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist ein direktes, aber liebevolles Buch über einen Vater, der erst durch den Tod in wirkliche Nähe rückte.


„Glückritter. Recherche über meinen Vater“
Lesung mit Gespräch im Literaturhaus Thurgau,
Donnerstag 6. Mai 2021, 19:30 Uhr.
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Ich begegnete Michael Kleeberg zum ersten Mal 2002, als er mit seinem Roman „Der König von Korsika“ Gast bei den Solothurner Literaturtagen war. Damals hatte ich aber ein anderes Buch von ihm in meiner Tasche, das ich unbedingt signiert haben wollte, weil es damals wie heute eines jener Bücher ist, die meine Lesebiographie nachhaltig beeinflussten. Ein Buch, das in meiner Bibliothek zu den „Überbüchern“ zählt und mit der Widmung des Autors zur Reliquie: „Ein Garten im Norden“, ein modernes Märchen mitten in der Gegenwärtigkeit. Ein junger Mann bekommt von einem Antiquar ein leeres Buch geschenkt. Mit dem Buch verspricht er ihm: „Was immer Sie hineinschreiben, wird Wirklichkeit geworden sein, wenn Sie das Buch beendet haben.“

Mit „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist Michael Kleeberg vielleicht genau diesem Versprechen ein bisschen näher gekommen. Denn wer sich in der Art wie der Autor mit dem Leben und der Herkunft seiner Eltern, seines Vaters auseinandersetzt, muss der Wirklichkeit unweigerlich näher kommen. So wie ich selbst trägt jeder ein Bild seines Vaters mit sich herum, Erinnerungen und scheinbare Tatsachen, die über Jahrzehnte zementieren, einem glauben machen, man würde jene kennen, in deren Familie man geboren wurde. Es baut sich über ein Leben lang Stein auf Stein, eine Fassade, hinter die man aber aus Respekt, Furcht, Desinteresse oder zu grosser Distanz gar nicht zu schauen vermag. Eine Fassade, die aber Schatten wirft, einen Schatten, der bleibt, auch wenn der Tod vieles mit sich reisst.

Michael Kleeberg „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“, Galiani, 2020, 240 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-86971-140-9

Michael Kleebergs Recherchebuch über seinen Vater beginnt mit einer Geschichte aus den letzten Lebensjahren seines Vaters. Wie oft, wenn der Erzähler mit seiner Familie in die Ferien fährt, hütet der achtzigjährige Vater das Haus. Nach der Rückkehr durch einen beunruhigenden Mailwechsel wird offenbar, dass der Vater Opfer eines Trickbetrügers wurde, der ihm ganz offensichtlich mit dem Versprechen vom grossen Geld mehrere tausend Euro abknöpfen konnte. Er macht sich auf zu seinem Vater, seiner Mutter, stellt ihm Fragen, die brennen, weil der Sohn genau weiss, dass die alten Eltern finanziell nicht auf Rosen gebettet sind. Aber bei der Konfrontation wird klar, dass ein Sohn kein Freund ist. Dass sich gewisse Fragen als Sohn nur ganz schwer oder gar nicht stellen lassen.

Der Tod seines Vaters und die Geschichte um das in den Sand gesetzte Ersparte seiner Eltern, die Räumung einer Wohnung und die verschwiegene Demenz seiner Mutter werden die Ausgangspunkte einer Suche nach dem Woher. Der Vater, in den letzten Jahren des Krieges vierzehn, erlebt die Gräuel einer Kapitulation, die Vertreibung von seinem Zuhause, Jahre in einem Lager und den wechselvollen Aufstieg im Nachkriegsdeutschland. „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist ein Buch über einen glücklosen Vater, einen Mann, der ein Leben lang dem Glück hinterherritt, der sich von der grossen Geschichte und seiner eigenen Geschichte verraten fühlte. Von einem Mann, dem das Geld und Status das Wichtigste war und unbedingt wollte, dass sein einziger Sohn dereinst ein Doktor werden sollte. Von einem Mann, der die Geschichte nach seiner Fasson zu drücken wusste und sich nie den Tatsachen der Geschichte stellte. Von einem Mann, der ihm die Liebe zur Fantasie schenkte, der ihm Geschichten erzählte ohne sich je der eigenen Geschichte zu stellen.

„Glückritter. Recherche über meinen Vater“ ist keine Abrechnung, sondern eine Liebeserklärung.

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Karlmann», «Vaterjahre», «Der Idiot des 21. Jahrhunderts») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015) und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016). 2020 erschien sein Buch «Glücksritter. Recherche über meinen Vater».

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Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Sehnsucht nach Freiheit» ein Abend mit Cilette Ofaire im Literaturhaus Thurgau

Es war in vieler Hinsicht ein denkwürdiger Abend! Zum einen war es nach vier Monaten die erste Veranstaltung vor Publikum im ausverkauften Literaturhaus Thurgau, und zum andern spürten alle BesucherInnen an diesem Abend das Feuer für eine Autorin, die nur zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kam, weil der unermüdliche Streiter für das gute Buch, Charles Linsmayer, mit voller Leidenschaft in die Glut bläst!

Cilette Ofaires Roman «Ismé», der 1948 zum ersten Mal deutsch erschien, damals aber kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, ist viel mehr als der Reisebericht einer unerschrockenen Kapitänin in einer Zeit, in der sie wohl die einzige in einer solchen Funktion war. «Ismé» ist die Geschichte einer starken Frau, die alles daran setzte, ihr Leben nach ihrer Fasson zu gestalten, allen Widrigkeiten zum Trotz. «Ismé» ist auch eine Zeitdokument eines Abenteuers, das im Gegenwind von Geschichte und Bürokratie scheiterte. Und «Ismé» ist in seiner jetzigen Form, mit einer Biographie von Charles Linsmayer und dem abgebildeten, gezeichneten «Journal de bord», ein Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht.

«Ein kleines Schiff besitzen, damit die Ozeane durcheilen, sich
als ein freier Bürger der Welt fühlen – das genügt noch nicht, um weise zu werden. Dazu braucht man vor allem andern ein Herz, das fähig ist, zu lieben, eine Seele, die noch Wunder erleben kann, und ein Gewissen, das einem mit seiner Wachheit ständig in Erinnerung ruft, dass man ein Mensch unter Menschen ist und in Beziehung zum Universum steht. Aber auch das ist noch nicht genug. Es ist dazu noch nötig, dass das Leben, das konkrete, fordernde Leben, sich dieses Herzens, dieser Seele und dieses Gewissens bemächtigt, um sie zu zerreissen, zu zerbrechen, zu zerstossen, zu kneten oder anders zusammenzufügen. Dann, durch all diese Zweifel und Hoffnungen, Erleuchtungen und Verdunkelungen des Geistes hin-durch, zwischen den Erfahrungen der menschlichen Schwäche und dem allmählichen Erfassen jener unbekannten Macht, die den Lauf der Gestirne regelt, dann ist es, wenn man das kurze Erdenleben mit der Dauer der Ewigkeit in Beziehung zu setzen versteht, vielleicht möglich, ein klein wenig Weisheit zu erwerben.» (1959)

Ausschnitt aus dem «Journal de bord» von Cilette Ofaire vom 20. Januar bis 26. Februar 1939. An allen Tagen, an denen die Autorin weiter an ihrem Manuskript zu Ismé schrieb, ist ein Büchlein mit der Aufschrift «Ismé» gezeichnet.

«Es war schon was besonderes, dass ich zusammen mit Heidi Maria Glössner den ersten Abend im Thurgauer Literaturhaus bestreiten durfte, als die durch die Pandemie erzwungene Pause vorbei war. Wir stellten Cilette Ofaire und ihr Buch «Ismé» vor, und es war zu spüren, wie das Publikum sich dafür begeistern konnte. Besonders bewegend war es, als wir nach etwelchen technischen Bemühungen ab Tondokument die Stimme der Dichterin erklingen lassen konnten: In der einzigen Aufnahme, die überhaupt von ihr existiert.
Warum das so ist, ob es die alten Mauern und die hölzernen Balken ausmachen, die das jahrhundertealte Haus aufweist, oder ob es das ganz besondere Publikum ist: auf jeden Fall herrscht im Bodman-Haus Gottlieben immer eine ganz besonders intime, familiäre Stimmung.» Charles Linsmayer

Programm Literaturhaus Thurgau

Alle Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau