Eine Reise in die Tiefe – «Leoparda» von Anja Schmitter im Literaturhaus Thurgau

Anja Schmitters Romandebüt «Leoparda» erzählt den Alp einer jungen Frau. «Leoparda» ist Verwandlungsgeschichte, Beziehungsroman, Klima- und Gesellschaftskritik und Ausbruchsversuch. Eine Spiegelung über die Abgründe, aus denen man sich nur mit Übermenschlichem befreien kann.

Die Liebe – Die Hitze – Die Reise – Die Hoffnung

Die eigentliche Buchtaufe zu Anja Schmitters Debüt „Leoparda“ findet am 12. Oktober in der Buchhandlung Sphères in Zürich statt. Dass Anja Schmitter dem Literaturhaus Thurgau eine Vorpremière schenkt, verdankt das Haus nicht zuletzt der Tatsache, dass die Autorin nicht weit von Gottlieben in Landschlacht aufgewachsen ist (für Nichtthurgauer zwei eigenartige Ortsnamen, im Zusammenhang mit dem Buch der Autorin aber irgendwie passend!).

Anja Schmitter: «Die erste Lesung zum ersten Roman vergisst man wohl nie. Umso schöner ist es, dass meine Erinnerungen daran ein wunderbares Bild ergeben, gestaltet durch die herzliche Gastfreundschaft des Literaturhauses Thurgau, durch die Zimmer aus altem Holz, Holz, das tausend Geschichten erzählt, durch die spannenden Gespräche mit Gallus, durch den Spaziergang am graublauen Rhein, die Seeluft, durch mein allererstes, so freundliches Publikum, den Apéro mit Wein, Zopf, Lachen und Gesprächen. Und durch die Zugfahrt von meinem Heimatort nach Gottlieben, eine Zugfahrt, die nur 18 Minuten dauerte. Tausend Dank für diese schönen Erinnerungen!»

Was für Aussenstehende fast wie eine Inszenierung anmutetet; Anja Schmitter feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag, präsentiert sich mit ihrem ersten Roman, hat mitgemischt als Dramaturgin bei „Lysistrata“ beim diesjährigen Seeburgtheaterspektakel am Bodensee in Kreuzlingen – war beeindruckend. Zumal der Roman in vielen seiner Themen absolut in die Zeit passt und mit Sicherheit nicht fremd bleibt: Drohten sie auch schon einmal, aus der Haut zu fahren? «Moderner» könnte man das auch „austicken“ nennen. Mit Kleo, der Protagonistin in Anja Schmitters Debüt, passiert das einer jungen Frau wörtlich, ganz langsam, als schleichender Prozess. Es löst sich die alte Haut in Fetzen, keine harmonische Metamorphose – aus der jungen Frau wird ein Mischwesen, halb Mensch, halb Leopard. 

Kleo trennt sich von ihrem langjährigen Freund, sie hängt ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel, sie muss feststellen, dass sie von der Welt ihrer Eltern mehr als nur abgenabelt ist und dass sie selbst den Draht zu ihrer besten Freundin Feli verliert. Eine Szenerie wie ein Abgrund. Und um sie herum flimmert eine unbarmherzige Hitze über einer nach Verwesung stinkenden Stadt.

Über und in Kleo, die eigentlich Kleopatra Frei heisst, eine elterliche Laune wegen einer Ägyptenreise, bricht die Welt zusammen. Kleo ist Lehrerin. Ihre Begeisterung, ihr Enthusiasmus und ihre Euphorie in ihrem Beruf sind arg abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts ganz bildlich gesprochen an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo propagiert in einer schwierigen Phase mit ihrem Freund Ernst die Vorzüge einer «offenen Beziehung», weil sie sich selbst aus der Enge befreien will. Als sie dann aber feststellen muss, dass sie Ernst völlig unerwartet im Bett mit einer andern finden muss, bleibt von der Proklamation „Offene Beziehung“ nicht mehr viel übrig. Kleo taucht ab, schliesst und igelt sich ein.

Anja Schmitters Roman ist zweigeteilt, auch wenn man erst im Laufe der Lektüre merkt, dass man im zweiten Teil des Romans angekommen ist. Kleo geht mit Feli, ihrer Freundin und Therapeutin, an die Limmat, oder zumindest dem, was in der Hitze des Sommers von ihr übrig geblieben ist, schwimmen, im brackigen Wasser, neben toten Fischen. Kleo holt sich einen Sonnenbrand. Vielleicht ist dieses „holt“ ganz wörtlich zu verstehen. Mit dem Sonnenbrand beginnt eine Transformation.

Im zweiten Teil ist Kleo nicht mehr jene, die sie einmal war. Sie gibt vor, irgendwo in den Ferien zu sein, weit weg. Dabei schläft sie in ihrem zur Höhle gewordenen Zuhause, wie eine Katze zusammengerollt auf dem Boden und streift nachts mit Leopardenfrisur und -haut durch die Stadt, faucht Menschen an, verliert sich immer mehr in einem Dazwischen. Es ist, als wäre «Leoparda»  ein Album der Alpträume.



Ganz besondere Bilder spielen in ihrem Roman tragende Rollen, sei es eine Amaryllis, die nicht mehr zu wachsen aufhört und sich irgendwann zu sehr aus dem Fenster lehnt, Möwen und Raubvögel, die alte Nachbarin am Rollator, das Lochergut, der Zoo kurz vor dem Kollaps, Eltern, Meister der Fassade. Kleos Mutter will nicht einmal das Burnout des Vater verraten, um die ins Wanken geratene Tochter zu «schützen» – und Männer: Ernst, der Verflossene, der tut, was Kleo nicht kann, Amir, ein Afghane, der sich durch einen Übergriff Kleos Nähe verwirkt und Adriano, ein angeblicher Bildkünstler, der ihr arg an die Haut will – und nicht zuletzt ein gebrochener Vater, der nur noch seine Sonnenblumen malt.

Beitragsbilder © Gallus Frei

Anja Schmitter mit ihrem Debüt «Leoparda» im Literaturhaus Thurgau

Es ist heiss. Flüsse trocknen aus, der Gestank von Verwesung hängt über der Stadt. Es ist überall heiss; in den Köpfen, in den Herzen, in Beziehungen, bei der Arbeit oder ganz privat. In Anja Schmitters Debüt kocht es über und eine junge Frau wird zum Tier.

Kleo Frei ist junge Lehrerin. Aber schon nach kurzer Zeit hat sich Begeisterung, Enthusiasmus und Euphorie in ihrem Beruf abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo steckt auch mit Ernst, ihrem Lebenspartner in einer Sackgasse. Und als sie ihn um mehr Raum bittet, die Vorzüge einer offenen Beziehung anpreist und wenigstens Türen schaffen will, „erwischt“ sie Ernst bei ihm zuhause im Bett mit einer anderen. Ausgerechnet ihn, von dem sie das Gefühl hatte, es gäbe für ihn nur sie. Auch in der Beziehung mit ihren Eltern, beide im Schuldienst, weiss sie sich seit ihrer Trennung von Ernst nicht mehr zu helfen. Da sind Erwartungen, die sie nicht abschütteln kann. Da spielt ein Schmierentheater, das nichts mit der Wirklichkeit gemein hat. Da wabern Beteuerungen, denen sie nicht mehr glauben kann. Und irgendwann ist das Mass voll.

Mit Sicherheit kennen sie solche Situationen. Solche, in denen ihnen alles über den Kopf wächst, in denen alle Fluchtwege abgeschnitten sind, es keine Alternativen mehr zu geben scheint. Man will aus der Haut fahren. Man spürt das Tier in sich. Man würde am liebsten in die Nacht hinausschreien, oder fauchen wie ein zorniges Raubtier.

Anja Schmitter «Leoparda», Lenos, 2022, 226 Seiten, CHF 26.50, ISBN 978-3-03925-025-7

Kleo heisst eigentlich Kleopatra. Eine Laune ihrer Eltern. Das Resultat einer Reise ins Land der Pharaonin. Aber Kleo ist keine Prinzessin mehr. Ernst hat sie entthront, vom Sockel gestossen. Den Kindern im Klassenzimmer fehlt es nicht nur am Respekt. Und die Eltern verkriechen sich hinter einer Fassade, die nichts von dem erzählt, was wirklich geschieht.
Einziger Halt ist Feli, Kleos Therapeutin, die längst zur Freundin geworden ist, sich aber in einer ganz anderen Welt befindet wie sie selbst; gebraucht in Beruf und Beziehung, offensichtlich verankert. 

Bis in Kleo etwas zu wachsen beginnt. Bis sich nach einem Sonnenbrand die alte Haut in Fetzen zu lösen beginnt. Bis die Amaryllis, die ihr Ernst wie jedes Jahr zu jedem Geburtstag schenkt, die jedes Jahr jämmerlich verreckt, wie Unkraut in die Höhe schiesst. Bis sie den Beruf mit Getöse an den Nagel hängt. Bis über der Haut ein Flaum wächst. Bis sie beim Friseur auch noch in ihre Haare ein Leopardenmuster legt. Bis es in ihrer Wohnung zu müffeln beginnt und aus der jungen Frau der Zorn, die Verzweiflung, Archaisches hervorbricht und Kleo die Reste einer heilen Welt mit ihren Krallen, ihrem Fauchen und ihrer Jagd zu demontieren beginnt.

„Leoparda“ ist eine Verwandlungsgeschichte, eine Metamorphose, die Geschichte eines Ausbruchs. Was im ersten Teil ihres Romans ganz eng an die Realität und mit Sicherheit auch aus der Welt der jungen Autorin geschrieben ist, nimmt im zweiten Teil immer surrealere Formen an. Als würde Anja Schmitter mit den Augen jenes Mischwesens, halb Frau, halb Leopardin sehen. Eine Wahrnehmung, die sich verschoben hat, nicht nur optisch. „Leoparda“ beschreibt nicht zuletzt die Perspektivlosigkeit einer Generation, die man mit einer ganzen Breitseite unlösbar scheinender Probleme konfrontiert, vom globalen bis ins ganz private Klima. „Leoparda“ liest sich im ersten Teil wie eine Dystopie, im zweiten Teil wie ein Alptraum, von der Verletzlichkeit einer ganzen Generation.
Anja Schmitter, geboren 1992 in Münsterlingen. Nach einem Studium der Germanistik und Komparatistik in Zürich, Bordeaux und Wien studierte sie im Master Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Anja Schmitter war als Autorin bei einem Gefängnistheater in Zürich tätig und als Dramaturgin beim See-Burgtheater in Kreuzlingen. Sie lebt in Zürich und schreibt Fiktion und literarische Reportagen, u.a. für das Magazin Reportagen. «Leoparda» ist ihr erster Roman.

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

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Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau