Den Lauten lauschen – ein neues, internationales Poesie-Festival im Dreiländereck vom 27. – 29. September

„Was kann und was darf Kunst vor dem Hintergrund von Krieg und Terror? In Zeiten, wo links wie rechts die Fahnen Schwarz und Weiß gehisst werden und die Freiheit der Kunst auf die Parolen der Politik zurechtgestutzt wird, sollte man sich vielleicht an den radikalen Experimenten orientieren, mit denen die Dadaisten und Surrealisten vor hundert Jahren auf die Schlächtereien des Ersten Weltkriegs antworteten“

Das schreibt der renommierte Literaturkritiker Stefan Zweifel in einem aktuellen NZZ-Feuilleton- Essay. Zweifel hat die Moderation des Festivals übernommen, auch weil ihm die Konzeption gefiel, die die beiden Ideengeber und Initiatoren Luke Wilkins, ein in Basel ansässiger Schriftsteller und der Freiburger Lautpoet Alexander Grimm, entwickelt haben.

Als Herzstück des Konzepts könnte das Motto gelten, das der jüdische Philologe Victor Klemperer seinem Buch LTI, einer Analyse der Sprache des Dritten Reichs, voranstellte: Sprache ist mehr als Blut. Kommen die Widerstandskräfte einer Gesellschaft und auch die Möglichkeiten von kultureller und gesellschaftlicher Metamorphose nicht zu einem guten Teil aus der Sprache, der Literatur und der Dichtung? Könnte man also sagen, dass die Zukunft in der Sprache geboren wird? Die Dadaisten jedenfalls haben vorbildhaft vorgemacht, wie aus dem Klang der Sprache und aus der Sprengung des normativen Sinns der Sprache eine Kunstform entwickelt werden kann, von der aus die Gesellschaft neue Impulse bekommt.

Darauf möchte sich das Festival besinnen, indem es die Lautpoesie feiert und sie auf ihre revolutionären bzw. friedenserhaltenden Impulse hin befragt. Was im öffentlichen Diskurs zu den Eskalationsspiralen unserer Gegenwart viel zu wenig bedacht wird, jedoch zu den wichtigsten Prämissen der deutschen, vielleicht auch europäischen Nachkriegsliteratur zählt: Es ist letztlich die Sprache, in der ein Krieg und kriegerisches Denken entsteht, überwintert, aber in der beides auch befriedet und in der Reflexion – über dichterische Prozesse, die der durch die Gewalt entstehenden Sprachlosigkeit literarische Methoden entgegensetzen – in ästhetische Energie aufgelöst werden kann.

Die Laupoesie, die sich weniger der sprachlichen Semantik als dem Klang, der Musikalität der Worte und Laute und der Lust an ihrer Sinnfreiheit widmet und dabei die Wahrnehmung öffnet für die Absurdität der Welt, bietet einen großen Reichtum solcher literarischen Methoden. Dabei sind etwa so wunderbar anregende und das Zwerchfell kitzelnde Poeme wie Kurt Schwitters Ursonate entstanden, die vom Freiburger Schauspieler Heinzl Spagl auf dem Festival aufgeführt wird. Spagl wird dabei unter Beweis stellen, dass das kunstvolle Stammeln und Grausen von Schwitters, angesichts seiner Erfahrung von kriegerischer Gewalt, auch heute noch kathartische Wirkungen im Publikum auszulösen vermag.

Die Gleichzeitigkeit von Schwerem und Leichtem, von verzweifelter Ratlosigkeit und schwarzem Humor ist das Verwandtschaftsmerkmal der Auftritte vieler Lautpoet*innen. So möchte das Festival Erlebnisse mit Sprache ermöglichen, in denen das Rabenschwarze mit dem Spontanen, dem Gutgelaunten und Zukunftsoffenen ineins fällt. Zugleich erforscht das international ausgerichtete Festival auch, wie sich Lautpoet*innen, die mit dialektalem Material arbeiten, zueinander verhalten: Was gibt es für klangliche Schnittmengen zwischen französischer, elsässischer, schweizerischer und deutscher Lautpoesie? Gerade auch das Dialektale, Muttersprachliche bietet einen unerschöpflichen Reichtum an Klangfarben, der auf dem Festival in all seinen Nuancen ausgelotet werden soll.

Das Festival ist Teil des von der Baden-Württemberg Stiftung lancierten Literatursommers 2024 und wird mit einem opulenten und prominent besetzten Programm vom 27. – 29. September im Literaturhaus Freiburg, im Schopf2 (den Kulturhallen der Kreativpioniere Freiburg e.V.) und vom Literaturhaus Basel (in einer Location auf dem Jazzcampus) aus der Taufe gehoben. Indem es sowohl in Freiburg als auch in Basel über die Bühne geht und bedeutende schweizerische, deutsche und französisch-sprachige Dichterinnen eingeladen hat, möchte es eine neue literarische Öffentlichkeit im Dreiländereck schaffen. Auch hierfür ist die Lautpoesie prädestiniert, da sie sich leicht über Sprachbarrieren hinwegsetzen oder einfach eine neue gemeinsame Sprache erfinden kann.

Violaine Lochu – Foto © Valérie Sonnier

Bereits im Vorfeld haben die Festival-Macher viel Zuspruch bekommen und konnten neben aufsteigenden Lautpoesie-Sternen wie Dagmara Kraus oder Violaine Lochu auch Koryphäen wie Urs Allemann, Michael Lentz oder Christian Uetz gewinnen. Ein weiteres Highlight werden die Auftritte zweier Elefantengedächtnisse der europäischen Gewaltgeschichte Alexander Kluge und Klaus Theweleit sein. Theweleit wird aus seinem aktuellen Buch a-e-i-o-u lesen und das Publikum auf eine rasante Reise zu den kriegerischen Ursprüngen des Vokalalphabets im homerischen Mittelmeerraum mitnehmen und Alexander Kluge hat exklusiv für das Festival dadaistische Kurzfilme produziert, wozu er mit Stefan Zweifel ein Werkgespräch führen wird.

Für Abwechslung im Programm sorgen Konzerte mit Musiker*innen, die ästhetische Verfahren anwenden, die mit der Lautpoesie verwandt sind, wie etwa das Ernst- Eggimann-Konzert des Oberton-Chors Partial. Das vollständige Programm findet sich hier.

«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.