Im Mai und September 1976 erschütterten mehrere Beben das Friaul im Nordosten Italiens. Mehrere hundert Menschen kamen damals ums Leben, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht. Symbol dafür war die Kirche von Venzone, von der nur ein paar Mauerreste übrig blieben. Ein Ereignis, das einen ganzen Landstrich traumatisierte und die Zukunft einer ganzen Gegend erschütterte. Ein Ereignis, dem die Dichterin Esther Kinsky literarisch nachfühlt!
Heute steht die Kirche von Venzone wieder, Stein für Stein wieder aufgebaut. Als man die Steine und Brocken auf dem Platz vor der Kirche auslegte, fand man Markierungen, die zu einem Fresko im Chor der Kirche gehörten. Zeichen, die Pilger über Jahrhunderte in die Mauer der Kirche ritzten; ein Band von Zeugnissen. Die Abbildung dieser Zeichen findet sich nicht nur auf dem Cover des neuen Romans „Rombo“ der vielfach preisgekrönten Dichterin Esther Kinsky, sondern auch zu Beginn eines jeden Kapitels. Zeugnisse, Hinterlassenschaften von Menschen, die einmal dort waren. Pilger auf dem Weg. All jene Menschen, die ihr Leben 1976 als Folge der Erdbeben verloren haben, oder die Hab und Gut einbüssten, hinterliessen ebenfalls Zeichen. Zeichen, die sich flüchtigen Besuchern dieser Gegend, der Dörfer dort nicht auf die Schnelle erschliessen. Zeichen, die sich in die Seelen der Menschen eingeritzt haben, unauslöschlich. Zeichen, die die Menschen in die Armut, in den Wahnsinn oder in den Tod trieben. Zeichen, die von der Zeit überwuchert, nie verschwanden.

Wäre Esther Kinsky nicht Esther Kinsky, hätte man sich den Beben damals und seiner Nachwirkungen auch journalistisch annähern können; als Sensationsbericht, Überlebensbericht. Man hätte über die verschwundenen Hilfsgelder schreiben können, über misslungene Hilfsprojekte. Über Menschen, die trotz allem geblieben sind. Über solche, die ihre Heimat möglichst weit hinter sich lassen wollten. Aber Esther Kinsky geht es nicht um Sensationen, Enthüllungen, um Verdrängtes. Esther Kinsky spürt dem Geschehen und seiner Nachwirkungen seismographisch nach. Als ob sie all ihre Sinneswahrnehmungen über dieser Gegend auslegen würde, behutsam, zart, um dem Grollen, das solche Beben begleitet, dem „Rombo“ nachzuspüren.
Der Protagonist in ihrem Roman ist die Gegend selbst, die Menschen als Kollektiv, die Landschaft, die Flanken der Berge, die Tiere, die Vögel, die Schlange, der Wind, das Wetter. Zwischen den poetischen Landschaftsbeschreibungen, die sich lesen wie zarte Annäherungen, Liebkosungen, sprechen die Menschen, die damals die Beben erlebten, denen sich die Erlebnisse von damals unauslöschlich ins Bewusstsein einätzten. Menschen, denen das Beben sehr oft viel mehr als nur ein Haus, eine Existenz wegnahm. Menschen, die durch die Beben bis in ihr Allerinnerstes erschüttert wurden, die die Wunden von damals wie helle Narben mit sich herumtragen. „Rombo“ ist die Anamnese einer ganzen Gegend. Esther Kinky hört den Menschen zu und hört hin; hinein in die Gegend, die Landschaft, als würde sie mit ihrer Hand die Erde berühren und mit geschlossenen Augen nach- und mitfühlen, tastend, schauend, horchend.

„Rombo“ ist ein Erinnerungsbuch, ein Buch das ganz eigen ist, kein Roman, keine Erzählung, kein Bericht. „Rombo“ ist ein Album der Erinnerungen, manchmal mit real beschriebenen Fotos angereichert, mit Erzählungen, Erinnerungen. Erstaunlicherweise nie verbittert, dafür mit viel Liebe. Esther Kinsky spürt nach, lässt sich ein, verbindet sich mit einer tiefen Erschütterung, die ihre Nachwirkungen bis in die Gegenwart zeigt, wenn Menschen noch heute mit dem Gefühl von Staub im Mund aus ihren Träumen aufschrecken. „Rombo“ ist Literatur gewordene Empathie!
Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und wuchs im Rheinland auf. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet.
Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…
An einem Literaturfestival will man sich überraschen lassen. Dass man das auch von einer bekannten Autorin kann, beweist Esther Kinsky, deren Roman mich aus unerklärlichen Gründen abschreckte. Vielleicht, weil niemand kritisiert, vielleicht wegen der Beschreibung «Geländeroman». So wie mich Geländeautos abschrecken, mich schlicht nicht interessieren, vermochte es «Hain» von Esther Kinsky nicht. Welch ein Irrtum!
«Hain» erzählt aus der Sicht einer Icherzählerin von drei Reisen nach Italien, Begegnungen mit ihrem Vater und dessen Geschichte. Drei Reisen in ein Italien, das die Autorin kennt, weil es sie bei Stipendienaufenthalten an Orte in Italien verschlug, von denen sie mehr an die Rückseiten italienischer Sehenswürdigkeiten, Landschaften sah. Ein «Geländeroman»? Gelände ist Textur, Oberfläche, mit der man in Berührung kommt. «Landschaft» als Begriff bleibt viel distanzierter. Und «Hain» greift an und unter die Oberfläche, lässt sich sprachlich auf eine Gegend ein, das Licht dieser Gegend erkennend, immer neues Sehen erlernend.
Schreiben bilden sich Erinnerungsschichten. Esther Kinsky skizziert und malt in sprachlichen Bildern, in bestechender Feinarbeit, sie ist Teil ihrer selbst.
vier Generationen, Geschichten ineinander verwoben, so wie man sich Geschichten erzählt, niemals geordnet, chronologisch. Vier Generationen jüdischer Geschichte an verschiedensten Schauplätzen, erzählt von einer jungen Autorin, die zu bannen versteht, die ihr Handwerk aus dem Theater mitbrachte, bei der man spürt, dass sie als Dramaturgin weiss, wie Dialoge funktionieren, die mit Witz und durchaus jüdischer Erzählweise gespickt mit unendlich vielen Kleinstgeschichten Grosses werden lässt, die weiss, wie Generationen aufeinanderprallen, Erinnerungen, die in der Zeit, in den Generationen stets neu überschrieben werden.
Esther Kinsky bringt auf Anhieb etwas zum Schwingen, zwingt mich, ihre Gedichte immer wieder zu lesen, einzelne Gedichte laut, so laut, dass andere Fahrgäste im Zug den Kopf zu mir drehen. Esther Kinsky ist Dichterin, führt Selbstgespräche über Leid, Fremdsein und Tod.
