Laudatio für Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams» (Lenos Verlag)
Wenn die «kleiderlosen Frauen» Werkstatt zwei verlassen und in den Hängeraum kommen, sind sie «genauso, wie sein sollen». Die Körper anatomisch korrekt, die «Haut haarlos, / die Finger- und Fußnägel weiß bemalt, / gewisse Körperstellen auffallend und ausgeprägt». Makellos, findet Ling, die Arbeiterin mit dem makellosen Punktestand.
Wir sind im südöstlichen China, inmitten einer Art Frauen-Manufaktur, und damit ist nicht gemeint, dass Frauen am Fliessband stehen. «Lebensecht» sollen die Puppen sein, die hier fabriziert werden, und seit die Firma vor allem in die Köpfe investiert, seit die Puppen das Sprechen und Denken, ja sogar etwas menschliche Fehlbarkeit erlernen, werden die Maschinen immer authentischere Menschenimitate.
Wenn die Frauenkörper bei Ling eintreffen, streicht sie zur Kontrolle an Beinen und Rumpf entlang, «sauber und glatt» muss alles sein. Mit den Fingerkuppen tastet sie über die Schultern, den Halsansatz, entfernt überflüssige Fetzen. Sie fasst in den Anus, misst die «Länge der Öffnung mit dem Kontrollstock», «dreht das Objekt um, greift in die Vagina», und wenn sich, während wir all das lesen, in uns ein Unbehagen regt, eine Beklemmung, vielleicht sogar ein tiefes Unrechtsempfinden, dann hat unsere empathische Solidarität mit der Puppenfrau längst eingesetzt. Wir haben sie schon vermenschlicht, noch ehe sie zusammengebaut ist. Martina Clavadetschers Roman wird viele weitere Male unsere Gewissheit bei der Unterscheidung von Mensch und Maschine irritieren.
Das liegt auch an Iris. Denn sie ist es, die wir in Manhattan von ihrer «Halbschwester Ling» erzählen hören (und die sich im Erzählen Stück für Stück von ihrem Mann und den gesellschaftlichen Rollenerwartungen lossagt). Und am Kern, im Zentrum des Buches, stossen wir auf Ada im alten Europa: Ada Lovelace, die erste Programmiererin der Welt, der in der patriarchalen Gesellschaft der verdiente Ruhm verwehrt war. Clavadetscher also hat über Zeiten und Kontinente hinweg drei Geschichten von drei Frauen ineinander verschachtelt, die unterschwellig miteinander in Resonanz treten.
Das Erzählen selbst gehört zu den grossen Themen dieses Buches. Gleich am Anfang steht ein Erzählerinnenwettstreit zwischen Iris und den beiden Damen mit den anspielungsreichen Namen Wollstone und Godwin (Mary Shelley lässt grüssen). Fortwährend beobachten wir die Figuren beim Verfertigen ihrer Geschichten. Und in welche Sprache und Form Clavadetscher das alles verpackt, ist das eigentliche Ereignis dieses Romans. Der aus Zeilenumbrüchen und sprachlichen Kippfiguren einen Lese-Thrill erzeugt. Der bis in kleinste Details von Klang und Rhythmus durchkomponiert ist. Der seine komplexe Architektur in eine durch und durch sinnliche Sprache hüllt.
«Die Erfindung des Ungehorsams» ist ein kunstvoller Text über künstliche Intelligenz jenseits der handelsüblichen Anti-Technik-Dystopie. Ein feministischer Empowerment-Roman von grosser literarischer Originalität. Und eine Hommage an die urmenschliche Kraft des Erzählens und Erfindens.
Im Namen der Jury gratuliere ich Martina Clavadetscher zu so viel Ungehorsam gegenüber dem literarisch Konventionellen und zur Nomination für den Schweizer Buchpreis 2021.
Daniel Graf