Linn Ullmann letztes deutsch erschienenes Buch «Die Unruhigen» erzählt von ihren drei grossen Lieben. Jener zu «Hammars», dem Ort am Meer, an dem ihr Vater ein Haus gebaut hatte. Der Liebe zu ihrem Vater, dem Filmemacher Ingmar Bergmann und jene zu ihrer Mutter, der Schauspielerin Liv Ullmann. Drei Lieben, bei denen es kaum gemeinsame Liebe gab, kein Familienidyll, kein Bild von Vater, Mutter und Tochter.
Ob nacherzählt oder Fiktion, ob erinnert oder gewoben, spielt keine Rolle. «Die Unruhigen» ist ein ganz eigener Familienroman, ein behutsame Annäherungen an Menschen, die unglaublich viel Raum für sich beanspruchen. Ein Familienbuch. Das Buch einer Annäherung. Ein Buch der Tochter über ihre Liebe zu ihrem Vater, der Liebe zu ihrer Mutter, auch wenn die Liebe der beiden Eltern untereinander irgendwann abhanden kam.
«Ich bin ein vierundsiebzig Jahre alter Mann, und erst jetzt beschliesst Gott, mich aus dem Kinderzimmer zu werfen.»
Linn Ullmann nennt weder ihren Vater Ingmar Bergmann (Drehbuchautor, Film- und Theaterregisseur, 1918 – 2007) noch ihre Mutter Liv Ullmann (geb. 1938, Schauspielerin und Regisseurin) mit Namen. Nicht bloss aus Respekt, sondern weil ihr Erzählen fiktionalisiert ist. Es geht nicht darum, den voyeuristischen Blick jener zu stillen, die nach Enthüllungen gieren. Auch wenn «Die Unruhigen» kein Buch über eine «normale» Familie ist, denn der Vater ist berühmt, umgeben von Frauen, die Mutter ebenfalls berühmt und viel unterwegs, in der Kindheit des Mädchens lange nicht anwesend und die Tochter einmal da, einmal hier, umgeben von Kindermädchen, die in ihrer Not mit dem Kind die Flinte ins Korn werfen.
Am Ursprung des Buches lag ein gescheitertes Buchprojekt. Ein Buch, dass Linn Ullmann zusammen mit ihrem alt und krank gewordenen Vater schreiben wollte, ein Buch über Erinnerungen, Träume, Ängste und Bilder. Ein Buch, an dessen Beginn ein kleines Aufnahmegerät stand, dass die Fragen und Antworten zuverlässig hätte aufzeichnen sollen, Fragen, die angesichts der fortschreitenden Krankheit zu spät gestellt wurden und im Vergessen des Vaters verloren gingen. Aufnahmen, die in Nebengeräuschen zu verschwinden drohten, so unbrauchbar schienen, dass sie auf einem Dachboden vergessen gingen, bis der Zufall sie wieder in die Hände der Tochter zurückbrachte. So wie das verschwommene Foto auf dem Cover des Romans. Ein Bild, das die Autorin lange mit sich auf ihrem Mobilphone herumtrug.
«Er sagte, dass Dinge fort waren. Er sagte, dass die Worte verschwanden. Wäre er jünger gewesen, hätte er ein Buch darüber geschrieben, alt zu werden. Doch jetzt, da er alt war, schaffte er das nicht.»
So sassen Tochter und Vater in den letzten Monaten eines langen Lebens im selbst gebauten Haus auf der Ostseeinsel Fårö zusammen, um festzustellen, dass Erinnerung vergessen geht. Die Erzählerin will all die Bilder ihres Lebens nicht verblassen lassen, nicht noch unschärfer werden lassen.
«Die Unruhigen» ist komponiert, unterteilt in sechs Kapitel, wie die sechs Violoncellosuiten von Johann Sebastian Bach. So wie jede Suite ihren Ton, ihr Temperament hat, zeigt sich dies auch in den sechs Kapiteln des Romans, deren Tonarten nicht dem Zufall überlassen sind, die beweisen, wie behutsam und mit wie viel formalem Bewusstsein sich die Autorin ihrem Vater und ihrer Mutter annähern will.
«Um über wirkliche Personen zu schreiben wie Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Feinde, Onkel, Brüder oder zufällige Passanten, ist es notwendig, sie zu fiktionalisieren. Ich glaube, dies ist der einzige Weg, ihnen Leben einzuhauchen. ‹Sich erinnern› heisst, sich umzuschauen, immer wieder, jedes Mal von Neuem erstaunt.»

Linn Ullmann ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt. 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug-Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt „Das Verschwiegene“ – unter dem Titel „The Cold Song“ u.a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für „Die Unruhigen“ erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung wird im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung haben.
Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.
Beitragsbild © Ben Koechlin



Philipp Weiss, geboren 1982 in Wien, studierte Germanistik und Philosophie. Er schreibt Prosa und Theaterstücke, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2009 nahm er mit seinem Text «Blätterliebe» am Ingeborg-Bachmann-Preis teil. 2011 gewann er mit seinem Stück «Allerwelt» das Hans-Gratzer-Stipendium; das Stück wurde am Schauspielhaus Wien uraufgeführt, wo er in der Spielzeit 2013/14 Hausautor war. «Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne» gewann 2015 den Preis der Theatertage Lyon und erschien auf Französisch in den Éditions Théâtrales (Montreuil). «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist sein Romandebüt.
1961. In einer abgeschlossenen Wohnung im «Gastland» misst ein kleiner Junge in der Dunkelheit die Schritte durch die abgedunkelte Wohnung, während Mutter und Vater arbeiten. Bis 2002 galt in der Schweiz das «Saisonstatut», mit dem man ausländische Arbeitnehmer unter unwürdigen Umständen amtlich zur Unterschicht stempelte. Nicht zuletzt zwang man sie mit diesem Statut, ihre Kinder vor dem Auge der Öffentlichkeit und der Ämter zu verstecken. Die Geschichte der «versteckten Kinder» tauchte im Leben Vincenzo Todiscos immer wieder auf, bis er sich dazu entschloss, sich mit dem Abschluss einer eigentlichen Trilogie dem Thema literarisch auszusetzen.
Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. „Das Eidechsenkind“ ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

