«Schreiben ist praktizierte Utopie.» BuchBasel 2018

Wir brauchen Bücher, die zum Nachdenken bewegen, vielleicht sogar zwingen. Nicht nur blosse Unterhaltung. Während Antisemitismus, Unterdrückung jeglicher Art, Frauenfeindlichkeit und Pöbeleien salonfähig zu werden scheinen, sollen Bücher herausfordern, Texte wachrütteln, Kopf und Herz bewegen. Literatur ist Eingemachtes, Eingekochtes, Konzentriertes, destilliert, handgemacht, authentisch, wenn auch nicht immer leicht verträglich.

Während drinnen zwischen den Vitrinen bloss ein paar schwarze Kabel am Boden verraten, dass dort, wo sie enden, hinter weissen Stehlen, vor den Schaufensterscheiben, Autoren lesen, stehen vor dem Warenhaus drei Reihen Metallstühle mit Kunstfellen und ein Lautsprecher im Strom der Menschen. Michelle Steinbeck ist die erste, die liest. Und sie passt. Sie ist hipp mit ihren knallroten Lippen und den schmalen Fesseln unter dem minimalistischen Tischchen. Schaufensterlesungen!

«Ich wusste gar nicht, dass Schaufensterpuppen lesen können», meint einer der Vorübergehenden, einer derer, die nicht stehen bleiben, sich aber wenigstens hinreissen lassen. Michelle Steinbeck liest aus ihren neuen Gedichten «Eingesperrte Vögel singen mehr», macht die Lesung hinter Glas zur einstudierten Performance, kein Aquarium, aber ein Literarium, für einmal abgetrennt vom Publikum. Sie liest und sieht dabei nur sich selbst im Spiegel der grossen Scheibe in die Schwärze der einbrechenden Nacht, hört nichts, nur sich selbst, nicht einmal den Zwischenapplaus.
Während man aus dem Warenhaus volle Taschen trägt und drinnen im Erdgeschoss an Handgelenken schnuppert, ziert sie sich nicht, scheut sich nicht, durch ein Fenster ins Unbekannte zu schauen, durch ein Fenster, das den Blick nicht freigibt.

Julia von Lucadou, Bild © Christian Werner

Schaufensterlesungen – durchaus ein Gag, aber niemals das, was Literatur will. Literatur selbst ist Schaufenster. Nicht abgenabelt von dem, was auf der Strasse passiert, in keinem Elfenbeinturm entfremdet, von dem Felicitas Hoppe in ihrer Eröffnungsrede erzählt. Gute Literatur hat keine glatte Oberfläche, sie ist nicht durchsichtig, abgeschnitten vom Wahrhaftigen. Das beweisen all die Namen im Programmheft des Internationalen Literaturfestivals, die Schauplätze, an denen Literatur entstanden ist und von denen Literatur erzählt.

Ein paar hundert Stühle zur Eröffnungsfeier im Festsaal des Basler Volkshauses, ganze Batterien von langstieligen Gläsern, die bereitstehen und Publikum, dass sich auf den Füssen steht. Gespräche, wer das Rennen macht, den Schweizer Buchpreis 2018 erhalten soll. Peter Stamm, den man mit Nichtbeachtung vielleicht vergrämen würde, Heinz Helle, der doch schon einmal auf der Liste stand, Vincenzo Todisco, dessen Text beim Lesen schmerzen kann oder die Erstlinge der wilden Jungen, Gianna Molinari und Julia von Lucadou? Ob die Jury das Richtige tut, das Notwendige oder das Mutige?

So hat zumindest die Festivalleitung Mut, weil sie sich mit Literatur einmischen will. Sie beweist, dass sich Literatur in keinen Elfenbeinturm einsperren lässt, dass sie aber sehr wohl weit über Grenzen hinausschauen kann, räumlich und zeitlich. So überzeugen Formationen wie «Kosovë is everywhere», Sprachklangräume mit Dominic Oppliger & Marco Papiro, Klangwortverflechtungen mit DJ Tom Nagy und der Buchpreisnominierten Julia von Lucadou. Literatur ist ganz da!