„Kids“ ein interaktiver Kurzfilm von Mario von Rickenbach und Michael Frei

Ausstellung im Muda (Museum of Digital Art), Pfingstweidstrasse 101 in Zürich vom 3. Februar bis 4. März 2018

Michael Frei trifft mit seinen hybriden Formen aus Game und Animation einen Nerv der Zeit. Sein neues Projekt «Kids», in welchem er grundlegende Fragen der Gesellschaft behandelt, produziert er zusammen mit Mario von Rickenbach. Es soll im laufenden Jahr als Game auf den Markt kommen. Was an der Ausstellung in Zürich sichtbar wird, ist die Entstehung, das Making-of. Zudem kann das Game sowohl virtuell wie haptisch ausprobiert werden.

„Die Magie des ersten Satzes“ – eine Matinee

Eine literarische Matinee mit acht Autorinnen und Autoren. Kuratiert von Peter Höner und Michèle Minelli.

Die Magie des ersten Satzes. Welches Geheimnis verbirgt er? Wann wird ein Anfang zu einer guten Geschichte? Womit weckt eine Figur vom ersten Auftritt an Interesse? Wie entstehen aus Worten Welten?

Tobias Bonderer, Veronika Bucher, Heike Felber, Hansjürg Geiger, Diana Krüger, Manuela Müller, Johannes Nolte und Roli Trümpi wagen den Sprung ins leere Blatt.

Eine literarische Matinee, die den Anfang ins Zentrum rückt. Lesungen, Intermezzi, Gespräche kuratiert von Peter Höner und Michèle Minelli, Schreibwerk Ost.

Sonntag, 18. Februar, von 10.30 bis 13 Uhr im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG!

www.schreibwerk-ost.ch

Joachim Sartorius „Für nichts und wieder alles“, Kiepenheuer und Witsch

Joachim Sartorius ist ein Reisender. Seine Gedichte in seinem neusten Band „Für nichts und wieder alles“ sind Reisen weit weg, bis nach Aleppo, Reisen in die Vergangenheit, Reisen in unmittelbare Nähe. Suchbilder mit ungewisser Tiefenschärfe. Meisterhafte Sprachgebilde, die mich warm in die Arme nehmen.

Joachim Sartorius Gedichte sind keine Versuche. Mit scheinbarer Leichtigkeit dichtet er sich in Tiefen, die mir sonst verschlossen bleiben. Es sprudelt Witz genauso wie Weisheit, Gelassenheit und eine Spur Melancholie. Joachim Sartorius experimentiert nicht. Seine Gedichte verbergen nicht, verstören nicht, lassen einem nie ratlos zurück. Vielleicht bleibt eine Spur Zweifel. Genau soviel Zweifel, um das Gedicht noch einmal und noch einmal zu lesen. Seine Gedichte beweisen Schönheit, umgarnen mich. Er nimmt mich mit. Ich werde Sehender durch seine Sprache. Durch seine Präzision des Schauens, den klaren Strich, der Helligkeit des Lichts.

Gross genug, alt genug

Wenn im Holunder die Glühwürmchen
sich öffnen und schliessen, folge diesem Licht,
folge der mit kleinen Sternen verkrusteten Nacht,
unserem einzigen Himmel, folge dem Flackern.
Die Erde ist alt genug, dass man nicht schreien muss.

Nervöses Licht auf den Stufen,
ein Leuchtturm ist dieser Glühwurm, folge seinem
Geflacker, er taumelt, er weiss wohin. Kaum
hat er die glänzenden Flügel aus dem Etui
gezogen, die blaue, laue Luft empfangen,

sich aufgewölbt, sind die Blätter schon hart,
ist er schon angezählt. Drei Nächte, falls kein
Regen kommt. Alt genug jetzt, sendet er dir
sein Licht. Stolpere nach. Schon tanzt, Rauchlocke
über dem schwarzen Waldsaum, dein Alter heran.

Sicellino, Juni 2010

Ich staune und bin tief berührt. Und einmal mehr verblüfft darüber, wie lange es dauerte, bis ich für solche Texte überhaupt zugänglich wurde. Es ist wohl nicht die Reife, die fehlte. Aber mit Sicherheit die Geduld, sich auf Lyrik einzulassen. Den Genuss der Sprache dem blossem Verstehenwollen vorzuziehen.

Peinliche Pilze

Es gibt kein Brot an diesem Tisch.
Um diesen Tisch sitzen Dichter.
Sie sprechen in der Hustensprache,
essen peinliche Pilze, gehen frieren.
Angst nutzen sie als Trampolin.
Ihr Augenschein ist Ohrenschein.

Nacht für Nacht hören sie das Gewicht
der alten Poesie und ihrer vielen Wohnungen.
Ihre Hände waren zu voll und sind
jetzt leer. Sie wissen: Die toten Dichter
halten ihren Schmerz für zu klein,
kläglichen Kram, fast blind, vertrieben

in alle Winkel der lieben Finsternis.

Joachim Sartorius liest neben vielen anderen Gästen am 3. Lyrikfestival NEONFISCHE 2018 im Aargauer Literaturhaus Lenzburg. Am Wochenende vom 3. und 4. März lesen und performen neben Joachim Sartorius Robert Schindel, Kathrin Schmidt, Ernst Halter, Raphael Urweider, Frédéric Wandelère, Klaus Merz, Meret Gut, Jürg Halter, Cornelia Travnicek, Tim Holland sowie die Übersetzerinnen Elisabeth Edl und Marion Graf.

Joachim Sartorius, geboren 1946 in Fürth, wuchs in Tunis auf und lebt heute in Berlin und Syrakus. Er ist Lyriker und Übersetzer amerikanischer Dichtung. Er veröffentlichte sechs Gedichtbände, zuletzt 2008  „Hôtel des Étrangers“, zahlreiche Bücher, die in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern entstanden, und die Reiseerzählungen. Sein lyrisches Werk wurde in vierzehn Sprachen übersetzt. Er ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Informationen zum Lyrikfestival NEONFISCHE

Iris Wolff „So tun, als ob es regnet“, Otto Müller Verlag

Iris Wolffs Sprache schmeichelt einem. Sie mäandert, trägt ganz behutsam Schicht für Schicht ab. Iris Wolff will keine Geschichte zu Ende erzählen. Sie wirft einen Stein in die Geschichte einer Familie und es ziehen Wellen weg vom Zentrum des Geschehens, entschwinden aus Sichtweite, um sich mit anderen Wellen zu kreuzen. Ein schmaler Roman, der ein ganzes Jahrhundert birgt, in einer Sprache erzählt, die fasziniert und in höchstem Masse bezaubert.

«Roman in vier Erzählungen» ist dem Buch vorangestellt und jedem dieser vier Erzählungen, die ganz fein miteinander verbunden sind, durch die Linie einer Familie, diesem Band, wonach man sich sehnt, diesem Band, dass so leicht reissen kann, ein einzelner Satz aus der jeweiligen Erzählung. Ein Satz wie ein Thema. Ein Roman über fast hundert Jahre bis in die Gegenwart, verankert in vier Zeiten, in Momenten, Zwischenzeiten, ausgeleuchtet ein paar Seiten lang, um den Faden viel später wieder aufzunehmen, in ganz anderem Licht. Iris Wolff konzentriert Geschichte genauso wie Sprache. Sie schreibt so, wie Erinnerung geschieht, in Bildern, das eine ausleuchtend, das andere im Dunkeln lassend.

So wie ich mir bei manchen Büchern gewünscht hätte, man hätte sich auf das Wesentliche konzentriert, weniger wäre mehr gewesen, eine Stimme hätte zu Mässigung gemahnt, so gross war das Bedauern darüber, dass das Lesevergnügen nach 163 Seiten schon zu Ende war. Ich hätte der stillen Stimme der Autorin noch lange zugehört und bin mir sicher, dass da etwas Grosses zu wachsen begonnen hat!

Ein junger österreichischer Soldat wird zusammen mit einem Offizier von der winterlichen Front weg in ein Karpatendorf abkommandiert. Weg von der eisigen Kälte, weg vom Tod und der dauernden Angst, hinein in ein Dorf, in eine Familie. Weg vom Grabenkrieg im weiten, waldigen Gebirge in eine warme Stube, ein weiches Bett, an einen reich gedeckten Tisch. Jacob, der Soldat, freundet sich mit der jüngsten Tochter an, erzählt ihr Geschichten, zuletzt auch jene seines Bruders, der weit weg seine Schuhe am Rand einer tiefen Schlucht auszog. Eine Geschichte später, Jahre dazwischen, treffen sich der Grossvater Elemér und seine Enkelin Henriette im Garten, beide schlaflos, von Unruhe gepackt in der «Gesellschaft der Schlaflosen». Eine Familie droht durch die Geschichte zerrissen zu werden und Herniette weiss, dass sie nicht ist, wie die anderen, nicht einmal wie ihre Schwestern. Noch einmal Jahre später, als der Mond durch Amstrong in Besitz genommen wird, Vicco an der Distanz zu seiner Mutter Henriette zu zerbrechen droht, Liane kennenlernt und mit ihr bis zum Schwarzen Meer im Trabi fährt. Und noch einmal Jahre später, Henriette ist als Grossmutter und ganz besondere Frau bloss noch Erinnerung, die junge Hedda auf einer Insel im Meer erfährt, dass ihr Vater Vicco an Krebs erkrankt ist. Hedda beobachtet ein Paar, das in einen Fischerkahn steigt. Ein Boot, das nie zurückkehrt. So wie die Wellen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.

Man möchte es laut hinausrufen; Hier glänzt Sprache auf, hier schreibt und erzählt jemand in einer Sprache, die poetisch funkelt. Hier ist ein Buch, das man nicht versäumen darf, das man nach der Lektüre für eine Weile an die Brust drückt, weil man es nicht loslassen will. Unbedingt lesen!

Iris Wolff liest aus ihrem Roman am 12. Januar im Bodman-Haus in Gottlieben TG, um 20 Uhr.
Moderiert wird die Lesung von Julia Knapp.

Iris Wolff geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 2013 Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Neben dem Schreiben ist sie am Kulturamt der Stadt Freiburg im Breisgau tätig. Ihr erster Roman „Halber Stein“ erhielt den Ernst-Habermann-Preis 2014.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

«Literatur am Tisch» mit Jens Steiner und seinem Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger»

Am Montag, 15. Januar 2018, liest und diskutiert Jens Steiner. Alle Interessierten sind zu dieser ganz «privaten» Runde eingeladen. Um 19 Uhr zu Wein, Brot und Käse am grossen Esstisch an der St. Gallerstrasse 21 in Amriswil TG! Einzige Voraussetzung für eine Teilnahme: Sie sollten das Buch gelesen haben! Melden Sie sich an und seien Sie dabei. 30 CHF inkl. Konsumation. info@literaturblatt.ch.

Rezension auf literaturblatt.ch!

Unregelmässig findet an unserem grossen Esstisch «Literatur am Tisch» statt: Eine Autorin oder ein Autor wird zusammen mit seinem neusten Buch zu Tisch geladen, ebenfalls maximal 10 Gäste, die das Buch gelesen haben. Man trinkt ein Glas Wein (oder mehr), geniesst Häppchen aller Art und unterhält sich, setzt sich angeregt und manchmal auch kritisch mit dem Buch, dem Schreiben, dem Lesen und der Literatur auseinander. Kosten für Teilnehmende inkl. Nachtessen und Getränke mind. 30 Fr., Beginn 19 Uhr

«Literatur am Tisch» soll Leserinnen, Leser und Autorinnen und Autoren an einen Tisch bringen, die Möglichkeit bieten, sich in ein echtes Gespräch, einen für beide Seiten zum Gewinn werdenden Austausch einzulassen. Traditionelle Lesungen oder Gespräche lassen Lesende auf Distanz, bieten kaum die Gelegenheit, eigene Lesarten, Gedanken miteinzubringen.»

«Lesungen auf einer Bühne sind das eine. Im intimen Rahmen von Gallus› und Irmgards Literatur-am-Tisch-Abenden ist man der mitdiskutierenden Leserschaft ungleich ausgelieferter, da Künstlergarderobe als Rückzugsmöglichkeit, erhöhte Bühne als distanzschaffendes Element und blendende Scheinwerfer fehlen, welche die Fragestellenden anonymisieren. Im besten Fall – und so einer lag bei meinem Besuch vor – erlaubt so eine Konstellation ein vertieftes Eintauchen, eine angeregte, kritische Diskussion, bei der man als Autor gezwungen wird, sich wieder einmal ganz grundsätzliche Fragen zum eigenen Werk zu stellen. Besonders ergötzlich gestaltet sich so eine Auseinandersetzung bei gutem Essen und feinem Wein am Tisch der Gastgeber in Amriswil.» Frédéric Zwicker

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen. Der Runde am 17. August war die bei vielen vorhandene jahrelange Erfahrung mit Diskussionen und Reflexion über Texte anzumerken. Mit Sorgfalt bitten die Gastgeber Gallus und Irmgard zu Tisch, und schon ganz bald ist man mitten in publizistischen und literarischen Fragen: Wer bestimmt das Cover eines Buches? Warum trägt es genau den Titel? Wie viel hatte die Autorin dazu zu sagen? Wie ist die Idee zum Text entstanden, wie erlebte ich die Schreibarbeit an einem Thema, das einem wohl nicht anders als unter die Haut gehen muss. Warum diese Erzählperspektive? Und wie spiegeln sich die Leser/innen im Text, den sie lesen? Diese und viele andere Fragen haben wir diskutiert. Dabei war es für mich immer wieder auch spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren. Danke!» Bettina Spoerri

Martina Clavadetscher als Drehbuchautorin: „Die Einzigen“

Die Koproduktion von Schweizer Radio und Fernsehen und der Zürcher Produktionsfirma Tilt Production GmbH erzählt von einem jungen Unternehmensberater, der in Muotathal über die Wurzeln seiner Identität stolpert. Dabei kämpft er genauso wie ein mit ihm schicksalshaft verwobenes Gothic-Girl darum, die Enge des Tals aufzubrechen und mit der Vergangenheit Frieden zu schliessen. – Regisseurin des SRF Schweizer Films „Die Einzigen“ ist Maria Sigrist, das Buch stammt aus der Feder von Martina Clavadetscher. Gedreht wurde das Drama, das sich immer wieder an das Genre eines Western anlehnt, zwischen dem 6. Juni und dem 7. Juli 2017 in Muotathal.

Martina Clavadetscher, Nominierte für den Schweizer Buchpreis 2017 und Autorin des Romans „Knochenlieder“, erschienen bei Edition Bücherlese, ist zum ersten Mal Drehbuchautorin eines Langfilms.

Auf seinem Weg von Mailand zurück nach Frankfurt will der ehrgeizige Unternehmensberater Jan Keplitz (Johannes Franke) einen kurzen Pflichtstopp in Muotathal einlegen, um das Erbe seines ihm unbekannten Vaters schnellstmöglich abzuwickeln. Doch nach einem Beinahe-Unfall mit dem stummen Gothic-Girl Tonja Imhof (Annina Walt), der Begegnung mit dem skurrilen Stammtischpersonal des Ortes und einem handfesten Streit mit dem ruppigen Dorfpolizisten Gwerder (Ingo Ospelt) – wie sich bald herausstellt: Jans Onkel – wird schnell klar, dass er aus dieser für ihn so andersartigen Welt erst mal nicht mehr herauskommt.
Jan erfährt bald, dass Tonja seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr redet. Und während die Gerüchteküche im Dorfladen brodelt und sich Judith (Noëmi Steffen), Tonjas ältere Schwester, einschaltet, bewegt er sich mehr und mehr in den Spuren seines Vaters – bald steht er an einem dramatischen Wendepunkt in seinem Leben. „Die Einzigen“ ist ein Film über das Verlassen werden – sei es durch einen Vater, eine Ehefrau oder durch den Tod eines geliebten Menschen. Und er geht darum, wie man diesen Verlust überwindet und wieder ins Leben mit den Anderen zurückfinden kann.

Der Fernsehfilm „Die Einzigen“ wird am Mittwoch, 13. Dezember 2017 um 20.10 auf SRF zwei ausgestrahlt. Danach kann er während 7 Tagen über srf.ch auf dem Mediaplayer abgerufen und nachgeschaut werden.
Die DVD ist ab dem 14. Dezember 2017 im SRF-Shop erhältlich.

Gertrud Leutenegger «Das Klavier auf dem Schillerstein», Nimbus

Titelgebender Text ist Gertrud Leuteneggers Rede zur Verleihung des Grossen Schillerpreises an den Tessiner Schriftsteller Giovanni Orelli, gehalten 2012. Mittlerweile ist der grosse Tessiner gestorben. Mit dem Text setzt Gertrud Leutenegger dem Dichter ein Denkmal. Einem Dichter, der sich wie Gertrud Leutenegger nicht um Strömungen bemühte, der nicht nach Exklusivität und Originalität suchte, sondern schon in der Art seines Schreibens zum Subversiven wurde.

Gertrud Leutenegger ist in ihrem Denken und Schreiben eine Schwester Giovanni Orellis. Sie kann etwas, was mir selbst vollständig entgeht. Ob sie sich mit den Schriften, dem Schreiben und Streben des Dichters Novalis auseinandersetzt, der untergegangenen Welt der stillen Dichterin Cathrine Colomb oder einer Fahrt im Postauto von Chiasso hinauf in die Berghänge weg vom Tessiner Mendrisiotto – Gertrud Leutenegger taucht in einer Intensität in Welten ein, der ich allerhöchstens in ihren Texten folgen kann. In dieser Feststellung offenbart sich eine Mischung aus Neid und Scham. Gertrud Leutenegger ist erfüllt, durchtränkt von Sprache, Klang und Textmusik. Es ist zu befürchten, dass sie wie der Dichter Giovanni Orelli zu einer aussterbenden Sorte Mensch gehört, die sich nicht betäuben wollen, die sich nicht einmal davor schützen müssen. Gertrud Leutenegger ist im menschlichen Spektrum diametral entfernt von all jenen, die sich in rasenden Zügen, mit Kopfhörern zugestöpselt und mit dem Finger über Minibildschirme wischend durchs Leben zerren lassen. Gertrud Leuteneggers Texte, auch ihre Romane, entschleunigen, zeigen, was Leben und Denken wäre, würde ich mich nicht dauernd wegtragen lassen. Die Schriftstellerin beschreibt im Buch «Das Klavier auf dem Schillerstein» auch eine Reise im Zug mit dem Dichter Gerhard Meier und seiner Frau Dorli nach Graz. Gerhard Meier, auch ein grosser Stiller, ein Massiv an Verborgenem und zu Entdeckendem, ein Gigant hinter der Maske des Kleinbürgerlichen, ein grosser Schweizer Schriftsteller. Ein einziger Satz auf jener Reise war es damals, vor Jahrzehnten, der die Dichterin noch immer umtreibt, der einen tiefen Krater in ihr Bewusstsein gerissen hat und genauso gut als Titel für dieses wunderbare Büchlein gepasst hätte:

«Man muss hysterisch an der Freiheit interessiert sein.»

Was Gerhard Meier genauso wie Gertrud Leutenegger unter Freiheit verstehen, unterscheidet sich erschreckend von dem, was uns die Gegenwart in Medien und Konsum einzubläuen versucht. Ohne es zu wollen ist Gertrud Leutenegger ein Hohelied auf die Langsamkeit gelungen, wider aller Betäubung und jedem hohlen Rausch.

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014).

Am Freitag, den 1. Dezember 2017, um 20 Uhr, liest Gertrud Leutenegger aus „Das Klavier auf dem Schillerstein“ im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG, Moderation: Bernhard Echte, Verleger Nimbusverlag

Fee Katrin Kanzler liest, Gallus Frei-Tomic moderiert

am 30. November, 19 Uhr, Raum für Literatur,
Hauptpost / St. Gallen, St. Leonhardstrasse 40 / 3. Stock,
Eintritt 15 CHF / ermässigt 10 CHF / GdSL-Mitglieder gratis

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

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