All jenen, die sich in der Ostschweiz auf Literatur einlassen, all jenen, denen das Literaturhaus Thurgau ans Herz gewachsen ist, müsste man Zsuzsanna Gahse nicht vorstellen. Dass Zsuzsanna Gahse 2019 den Schweizer Grand Prix Literatur überreicht bekam, gibt ihr neben all den anderen Preisen, die sie erhielt, jenen Platz, an dem die Autorin seit 1983 über vier Jahrzehnte, damals mit ihrem Prosadebüt „Zero“ beginnend, unablässig schreibt.
Als ich vor vielen Jahren die Schriftstellerin und Dichterin zum ersten Mal traf und mit meinen Büchern nach der Lesung bei ihr zum Signieren hinstand, bestätigte sich, was zuerst bei der stillen Lektüre und dann in der ersten Begegnung mit der Künstlerin sicht- und spürbar wurde; jene Liebenswürdigkeit, jene Sorgfalt, jene Empathie, die die Künstlerin ihrem Gegenüber zeigt, sei das nun in ihren Büchern, oder in den Begegnungen über die Bücher hinaus.
Dass Thomas Kunst, Dichter, Kleistpreisträger und auch schon Gast im Literaturhaus Thurgau spontan bereit war, zu ihrem neuen Prosaband „Zeilenweise Frauenfeld“ eine Rezension auf meiner Webseite literaturblatt.ch zu schreiben und diese zu einer Liebeserklärung an die Kunst der Autorin werden liess, zeigt die Verbundenheit mit einer Schriftstellerin, die die Welt mit einem ganz eigenen Blick zu sehen vermag: „Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.“

Zsuzsanna Gahse schreibt ausserhalb üblicher Kategorien. Ihre Bücher sind nicht nur haptisch Schwergewichte in einem immer leichter werdenden Bücherangebot. Matthias Zschokke, einer der Nominierten für den Schweizer Buchpreis, schrieb mir auf die Frage, was denn Literatur ausmache: “Literatur ist das Andere. Wobei mir wichtig scheint zu ergänzen, … das Andere, ohne das sein zu wollen.» In diesem Sinne repräsentiert Zsuzsanna Gahse genau das.
Müsste ich Zsuzsanna Gahses Buch beschreiben, ist es für mich wie ein Sprachfries, quer durch einen Zivilisationsgarten. Als würde sich das Personal ihres Buches auf einem breiten Band bewegen und ich wäre der Zuschauer, der aber nur immer kleine Fetzen des Geschehens wahrnehmen kann. Nicht dass ich glaube, dass die Dichterin keine Geschichten erzählen würde; Kleinstgeschichten und Geschichten, die sich durch das ganze Buch spinnen, gibt es viele. Aber Zsuzsanna Gahse scheint es nicht darum zu gehen, eine Story zu erzählen, mich mit einer linear erzählten Chronologie eines Geschehens zu fesseln. Ihr Buch erscheint mir viel eher als eine Sehschule. Sie schaut auf das Geschehen. Sie ist Beobachterin. Die Erzählerin ist Beobachterin. Ermittlerin. Sie spinnt die Fäden zwischen den Personen, die sie sieht. Es sind Betrachtungen. Aber auch Selbstbetrachtungen. So wie Schreiben doch immer Selbstbetrachtung ist. „Manchmal erkenne ich mich selbst nicht, wenn ich mich in einem Schaufenster gespiegelt sehe.“
Es gibt einzelne Sätze, die ebenso faszinieren wie verunsichern: „Schmuggeln ist Ansichtssache.“ Oder „Welsch ist eine somnambule Bezeichnung.“ Oder „Selbstbegeisterung ist ein Enzym.“ – Sätze, die stolpern lassen, die sich nicht so einfach überlesen lassen. Sätze mit einer ungeheuren theatralischen Kraft: „Mitten auf dem Fussgängersteg stand eine feuerfeste Frau. Eine Unbekannte, mit interessanten Furchen im Gesicht. – Sie hielt eine Ansprache mit ausgebreiteten Armen.»

Zsuzsanna Gahse zur Lesung im Literaturhaus Thurgau: «Wie Bilder laufen lernen, wie ein geschriebener Text filmisch wirken kann oder sogar szenisch, als würde man soeben ein Theaterstück erleben: Solche Partikel haben mir in unserem Gespräch besonders gefallen. Und weil wir gut und gerne eine weitere Stunde hätten reden können, wünsche ich uns eine baldige Fortsetzung.»
Irgendwo schreibt Zsuzsanna Gahse, dass nicht jedes beliebige Buch klüger oder empfindsamer macht. Ihres mit Sicherheit.

Jochen Kelters Lyrik ist alles andere als verklärt und weltentrückt, sondern kämpferisch, manchmal scharf, sonnenklar und ganz und gar nicht altersmilde. Jochen Kelter ist kein Mann der leisen Töne, auch wenn in diesem Band Gedichte zu finden sind, die wie zarte Lieder einen liebenden Blick verraten. Gedichte, die man am liebsten mit Farben an die Wand schreiben würde, um sie beim Aufstehen in einen neuen Tag als erstes zu lesen. Gedichte, die mich beflügeln!
Jochen Kelter sieht keinen Frieden, wo sich das Grauen offenbart, sei es im Klaren oder im Verborgenen, im Kleinen oder im Grossen. Und doch geht es dem Dichter nicht darum, seinen Weltschmerz auszubreiten. Jochen Kelter ist grosser Stilist, jung und spritzig geblieben in der Art wie er nach der Musik in seiner Sprache sucht. Da ist nichts antiquiert oder verstaubt.
Dass sich mit Zsuzsanna Gahse und Jochen Kelter zwei Schwergewichte über Dichtung und Wahrheit unterhielten, zwei, die mit diesem Haus ganz tief verbunden sind, garantierte einen vielstimmigen, spannenden Abend.
Sein neuster Streich, eben erst bei Septime herausgekommen, ist der Roman „Monte Rocha“. Die Geschichte von Aurélio Fuertes, der im Hotel Rocha Monte hoch über dem Meer mit Sicht auf die Vulkaninsel seine Lebensstelle als Haustechniker bekommen zu haben glaubt. Ein Luxushotel. Aber das Haus tropft 220 Tage im Jahr im Nebel, während auf der Insel sonst die Sonne scheint. Nach nur einer Saison schliesst das Hotel und man verpflichtet den Haustechniker Aurélio Fuertes zusammen mit seinem Gehilfen José bis zur Übernahme durch einen neuen Besitzer, sich dem Haus anzunehmen. Aber aus der Übergangszeit werden Jahre, Jahrzehnte. Aurélio Fuertes bleibt, weil er es versprochen hat, nicht nur seinem damaligen Arbeitgeber gegenüber, sondern seiner Familie und nicht zuletzt sich selbst.
Eigentlich war das Hotel schon in der Planung zum Scheitern verurteilt. Dieses Hotel erscheint wie der missratene Versuch einer Arche, hoch auf einem Berg. Nur bleibt dieser Noah allein. Die Arche sticht nie in See, bleibt für immer leer. Nur Aurélio Fuertes bleibt. Er bleibt Jahrzehnte und sinkt in Einsamkeit. Aurélio bleibt, während er fast alles verliert; seine Frau, seine Familie, seine Kinder, Freundschaften, seine Hoffnung. „Rocha Monte“ erzählt von einem Mann, der immer mehr verschwindet, mit Sicherheit auch von einem „lost place“. «Roche Monte» ist vieles, auch die Geschichte eines Robinsons.
Der Autor erzählt im ersten, langen Teil seines Romans die Geschichte Aurélios. Im zweiten, kürzeren Teil, lässt er die Nebenfiguren zu Wort kommen, seine geschiedene Frau Lucia, seinen Arbeitskollegen José, dessen Frau Pineda, die Kinder, die ihren Vater gar nie richtig kennenlernten, Nevio, einen seiner Söhne. Damit setzt Peter Höner Aurélio in ein feinmaschiges Netz, ein Netz, dass dieser leer zurücklässt.
Monika Helfer lebt zusammen mit ihrem Mann Michael Köhlmeier im vorarlbergischen Hohenems eine symbiotische Lebens- und Schreibgemeinschaft in einem mit Efeu bewachsenen Haus, in dem alles der Familie, den Erinnerungen und dem Schreiben gewidmet ist. Monika Helfer und Michael Köhlmeier, beide beim gleichen Verlag, werden auch vom gleichen Lektor betreut, leben dort das Leben von zwei von Sprache Beseelten.
Zentral in diesem Buch ist aber die Geschichte einer Freundschaft, der Freundschaft zwischen Moni und Gloria. Sie beide wachsen im Vorarlbergischen auf, Monika in einem kleinbürgerlichen Haushalt, in einer von Arbeit und Strebsamkeit geprägten Familie, Gloria in einer Villa zusammen mit ihrer Mutter, einer Frau, die sich mit aller Selbstverständlichkeit in ihrem Luxus bewegt, auch wenn die beiden in diesem grossen Hauses nur drei Zimmer mit Leben füllten.























