Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2021? #SchweizerBuchpreis 21/11

Am 7. November werde ich im Theaterfoyer in Basel sitzen, im Gegensatz zum vergangenen Jahr glücklicherweise wieder mit und im Publikum. Ein paar Reihen vor mir, in der ersten Reihe, werden die Nominierten sitzen, Martina Clavadetscher schon zum zweiten Mal, Veronika Sutter, Thomas Duarte und Michael Hugentobler. 

Eine eigenartige Situation, denn Punkt zwölf Uhr wird eine Sprecherin der Jury die Bühne betreten, ein Couvert hervornehmen und die Preisträgerin oder den Preisträger verkünden, auf die oder den dann Sekunden später die Blitzlichter der Presse regnen, wo sich Mikrofone sammeln und Medienbeiträge aus dem Moment gestampft werden. Mit einem Augenblick verschwindet das Interesse für jene, die «zurückbleiben». Man fotografiert zwar noch einmal alle zusammen, aber dann wird es mit einem Mal ziemlich ruhig um jene, die es nicht sein sollten. Man lädt zwar noch einmal zum gemeinsamen Essen ein, lässt Gläser klingen, aber die Namen der Nichtprämierten rutschen weg, werden zwar nicht gleich vergessen, verschwinden aber hinter der Strahlkraft des einen Namens.

«Ist das die dort vor dem Blumenbouquet? Die mit den hochgesteckten Haaren?»
«Wen meinst du? Die mit den Geschichten?»
«Nein, die mit den Puppen ohne Köpfe. Du hast es doch gelesen. Diesen verrückten Roman, der in der Zukunft spielt, aber eigentlich doch eben jetzt.»
«Ach ja, von der mit dem bündnerisch klingenden Namen. Doch, doch. Und die andere sitzt gleich daneben. Die mit den Geschichten.»
«Geschichten? Als ob das Geschichten wären. Das ist Geschichte. Und viel mehr als einfach Frauengeschichte.» 

Alles vergebens? Das ganze Brimborium bei dreien nur Schall und Rauch? Bei weitem nicht. Es gab Publicity für vier Autor:innen. Bei vier Bücher stiegen mit Sicherheit die Verkaufszahlen. Und wenn künftig Bücher der vier erscheinen, ist doch mit Sicherheit die Wiedererkennung stärker. Wenn es nicht zehn Jahre dauern sollte, bis ein neues Buch der Hervorgehobenen auf den Verkaufstischen liegt, werden sich einige erinnern oder zumindest die Verlage. Auch für sie sind solche Scheinwerferaktionen wichtig. Hand aufs Herz: Kannten Sie vorher den Verlag Edition 8? Literarische Perlen wachsen nicht nur in grossen Verlagen heran. (In der Lyrik schon gar nicht.)

Weil ich schon öfters bei der Verleihung des Schweizer Buchpreises im Publikum sass, musste ich auch schon beobachten, wie Enttäuschung spür- und sichtbar wurde. Da trösten auch Ermunterungen nicht, kein Blumenstrauss, schon gar kein Schulterklopfen. Und doch sind die Nicht-Preisträger:innen keine Verlierer:innen. Viele Lesende sind auf vier Namen aufmerksam geworden, die ihnen andernfalls vielleicht entgangen wären. Das eine Buch gewinnt ein Etikett, die drei anderen, jene mehr als deutliche Ermunterung, unverzagt in ihrem Schrieben weiterzumachen, zumal es Martina Clavadetscher beweist, dass man auch eine zweite (ja sogar eine dritte) Chance bekommen kann.

«Hast du Feuerland gelesen?»
«Klar doch. Der Mann kann Feuer legen!»
«Der Mann hinter dem Buch oder einer der Männer im Buch?»
«Sie alle. Halt Männerbücher!»
«Das vom Polizeiposten auch?»
«Klar doch. Ein Bekloppter und ein Polizist. Frauen sind dort nur Randerscheinungen.»
«So ganz verstanden habe ich den Roman nicht.»
«Den vom Wörterbuch oder den vom Buchhalter?»
«Eigentlich was von beiden. Die Tatsache, dass es Männern ganz offensichtlich schwerer fällt.»
«Was?»
«Pst – das Couvert!»

Mein Tipp: Ohne dass es für mich ein klar favorisiertes Buch geben würde, ohne dass ich mir einbilden würde, dass mein Blick in die Zukunft ein sicherer sein würde, habe ich doch auch im letzten Jahr danebengetippt. Mein Tipp hat auch nichts mit meiner eigenen Wertung zu tun. Ich glaube, dass die Romane von Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler den Preis unter sich ausmachen werden. Die Umfrage bei SRF gibt Martina die besten Karten. Meine ganz persönliche Rangliste entspricht der Reihenfolge der oben abgebildeten Bücher von links nach rechts.

Ich gratuliere allen vier, denn die vier Namen beweisen eindrücklich, wie vielfältig die Schweizer Literaturszene ist, erst recht neben den Namen, die immer und immer wieder genannt werden. Die Vielfalt zeigt sich sowohl sprachlich, inhaltlich wie formal. Schweizer Literatur braucht sich hinter keiner falschen Bescheidenheit zu verstecken. Auch wenn ich wie jedes Jahr meine ganz persönlichen Favoriten vermisse!

Sondersendung auf Radio SRF2 Kultur

Illustration © leafrei.com

Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, #SchweizerBuchpreis 21/6

„Grösser als du“ ist mit ‹Geschichten› untertitelt. Aber wie schafft es ein „Geschichten-Buch“ in die Shortlist des Schweizer Buchpreises? Veronika Sutter Buch ist alles andere als harmlos. Weder inhaltlich noch sprachlich. Wie gut, dass es auch in der dritten Reihe leuchtet, blitzt und funkelt! 

Geschichten bekam ich von meiner Mutter vorgelesen, wenn ich krank war. Wahrscheinlich glaubte meine Mutter an deren heilende Wirkung. Selbst ich glaube an die heilende Wirkung von Literatur, auch wenn Veronika Sutters Geschichten so gar nichts gemein haben mit den Geschichten, die immer ein gutes Ende hatten, wenn meine Mutter sich an mein Bett setzte und vorlas. Veronikas Geschichten sind alles andere als Geschichtchen. Und ob sie heilsam waren, zumindest für mich, weiss ich nicht, denn sie lösten einiges aus, nicht zuletzt eine ganze Portion Wut.

„Grosser als du“ sind 16 Erzählungen (Geschichten als Bezeichnung ist zu harmlos!) die alle zwischen den Jahren 1991 und 2019 spielen, zwischen den beiden grossen Frauenstreiks. 1991 nahmen Hunderttausende an jenem Streik teil, der für viele, nicht bloss für Frauen, zu einer Zäsur wurde, war es doch erst 20 Jahre her, seit die Männer in der Schweiz über das Frauenstimmrecht abstimmten und noch immer ein Drittel dieser Männer dafür gewesen wäre, es besser beim Alten zu lassen. 20 Jahre, in denen wohl das Frauenstimmrecht funktionierte, aber von gleichen Rechten keine Rede sein konnte. Dass damals Hunderttausende auf die Strasse gingen, nicht nur in Zürich, machte vielen Mut, nicht zuletzt jenen, die in ihrer eigenen Geschichte noch weit davon entfernt waren, sich auf Augenhöhe mit der Männerwelt zu behaupten. Frausein muss immer noch Selbstbehauptung sein, auch wenn es mittlerweile, ein halbes Jahrhundert später, Männer gibt, die sich von der Wucht der Weiblichkeit überrumpelt und bedroht fühlen.

Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, 2021, 192 Seiten, CHF 22.80, ISBN 978-3-85990-421-7

In Veronika Sutters Buch sind aber nicht 16 lose Erzählungen aneinadergefügt, die alle irgendwie mit den beiden Streiks, mit Frauenschicksalen zu tun haben. Wer zu lesen beginnt, merkt nach und nach, dass die Erzählungen miteinander verknotet sind, dass es Momentaufnahmen im Leben von Gloria, Karo und Helen oder Aldo und Walter sind, die miteinander verwoben sind. Momentaufnahmen, die zeigen, wie weit Frauen und Männer bis in die Gegenwart voneinander entfernt sind, wie tief Verletzungen sind und wie sehr sich Menschen hinter ihrem Schweigen, hinter Fassaden und ihren ungestillten Sehnsüchten verstecken.

Was bleibt, wenn man nach einer Flucht aus einer übergriffigen Beziehungen, in die man fast bewusstlos hineinrutschte? Was passiert, wenn sich perfekte Missverständnisse wie Druckwellen ausbreiten? Wenn sich fremde Welten für einen Augenblick nicht wirklich begegnen, dafür sich umso mehr in diesem einen Moment abstossen? Wenn der Tod so kalt wird wie die Gurkensuppe, in der das Gesicht der Mutter liegt. Wenn sich Syphillis in die Seele frisst. Wenn die Enkelin Gloria am Sterbebett ihrer Grossmutter Annie sitzt und sich abhängen lassen muss von der Urgewalt ihrer Junkiemutter Selma.

Veronika Sutters Bilder, die Szenerien ihrer Geschichte gehen unter die Haut, lösen Emotionen aus, bei mir im ersten Teil des Buches sogar Wut. Männer sind fast ausnahmslos Monster, trunkene Schläger, blinde Grobiane. Ich mache der Autorin keinen Vorwurf. Mein Problem, ich bin ein Mann. Und weil Veronika Sutter in ihrer Brotarbeit wohl immer wieder mit Schicksalen, Frauenschicksalen konfrontiert wird und es unbestreitbar wichtig ist, dass man(n) darüber schreibt, sind Erzählungen wie diese von Veronika Sutter Notwendigkeit, wenn man(n) sich nicht vor Tatsachen und Schicksalen verschliessen will.

Aber auch sprachlich ist Veronika Sutters Buch eine Kostbarkeit, auch wenn sich Helvetismen in den Text eingeschlichen haben, für die mir Erklärungen fehlen. 

Fazit: „Grösser als du“ hat die grosse Bühne verdient. Nicht nur, weil das Buch mit wichtigen Themen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit aufrüttelt, sondern weil das Buch klug konstruiert und die Dramatik des Buches Lesern in die Knochen fährt!

Veronika Sutter, 1958 geboren und im Sihltal aufgewachsen, arbeitete Veronika Sutter als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und Journalistin. Seit dem Studium in Kommunikationsmanagement ist sie in der Öffentlichkeitsarbeit für Non-Profit-Organisationen tätig. Sie engagierte sich im Vorstand der Stiftung Frauenhaus Zürich und bei Greenpeace. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich. «Grösser als du» ist ihr erstes Buch.

Beitragsbild © leafrei.com

5 Bücher, 5 Namen #SchweizerBuchpreis 21/1

Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?

Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!

Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf.
(Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)

Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. 
Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft.
(Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)

Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur!
(Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)

Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen.
Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.»
Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)

Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.»
(Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)

Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».

Illustrationen © leafrei.com