In den 60ern: Ein Kloster mit Internat hoch in den Bergen – das Kloster Maria Schnee. Arthur Goldau, elfjähriger Junge – Zögling 230. Ein Geheimnis um einen Diamanten – das letzte Stück österreichischer Monarchie. Und eine Sprache wie ein naives Fresko!
Sein Debüt von 1981 „Die Tessinerin“, die Novelle „Das Gartenhaus“ von 1989, der Umstand, dass der Autor seit der Gründung des legendären Ammann Verlags, den Egon Ammann zusammen mit seiner Ehefrau Marie-Luise Flammersfeld gegründet hatte und all die schwergewichtigen Romane und Theaterstücke, die in den letzten 30 Jahren entstanden, machen Thomas Hürlimann zu einem literarischen Schwergewicht. Erstaunlich genug, dass es dem Grossmeister bisher nicht vergönnt war, mit einem seiner Romane in der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises zu erscheinen.
„Der Rote Diamant“ ist ein Monolith. Wer sich an den Farben der Sprache ergötzen kann, wem die Verspieltheit und fast kindliche Unbeschwertheit Vergnügen bereiten, wer nicht in jedem Buch, auf Biegen und Brechen mit der Keule den Gegenwartsbezug eingehämmert braucht – der lese diesen literarischen Diamanten. Der Roman entspringt purer Schreiblust, ist von jemandem geschrieben, der sich einen Deut um Strömungen, Moden und Aktualitäten kümmert, der sich an nichts und niemanden anzuhängen braucht, der nur „einfach“ erzählen will.

Ein Junge wird von seiner Mutter nach einer abenteuerlichen Fahrt in einem Kloster weit oben in den Bergen parkiert. Noch ein paar Ermunterungen und die Mutter hat ihn in den kalten Mauern zurückgelassen, in einer Erziehungsstätte, die all dem widerspricht, was man in der Gegenwart unter „Individualismus“ und „Kompetenzorientierung“ auf die Fahnen von Erziehung und Schule geschrieben hat. Das Kloster Maria Schnee ist eine Galeere, in der man die Zöglinge im Takt eines Klosters durch das Halbdunkel von Tradition und Konformität steuert. Selbst in diesem Halbdunkel soll alles ausgeleuchtet, überwacht, gleichgeschaltet und nivelliert sein. Aber Arthur ist nicht der einzige Junge in den dicken Mauern des Klosters, der sich zusammenrottet, der eine Nische sucht, nicht zuletzt in den Jahrzehnte alten Gerüchten um einen sagenumwobenen Diamanten, den man nach dem Zusammenbruch der habsburgischen Monarchie in einem Winkel des Klosters, im Schutz der Schwarzen Madonna in Sicherheit gebracht hatte.
„Ich hatte Angst vor der Freiheit.“
Im Kloster, in dem man alles tut, um dem Ewigen Tag zu huldigen, in dem alles Rütteln an versperrten Pforten nach Innen und Aussen der Verbrüderung mit der Ewigen Sünde gleicht, in der jedes Heimweh, jeder Fluchtgedanke im Keim erstickt werden soll, ist oberstes Gesetz: Gefässe sollen sie werden, ausgehöhlt und glatt geschliffen vom Ewigen Tag: Vasen.
Und doch gibt es sie, die Nischen: Ganz oben im Dachstuhl der Kathedrale. Eine ehemalige Bauhütte, grob gezimmert, ausser Acht gelassen. Dort treffen sich Viper, Alpha Wickie, Beau, Clown Giovanni, Primus Lenin, Ultimos Nebel, rauchen den ein oder anderen Joint und debattieren sich hinter das Geheimnis jenes Roten Diamanten. Bis es zu diesem einen Moment kommt, bis dieser ominöse Stein sein Geheimnis lüftet, verstreicht viel Zeit. Viel mehr als die Gang oben im umgekehrten Schiff der Kathedrale ahnen kann.
Jahrzehnte später, mittlerweile ist nicht nur das Kloster ein Ort des Zerfalls geworden, treffen sich die einen wieder in den toten Mauern der ehemaligen Schule. In den Ruinen des Klosters lüftet sich das Geheimnis im Schall und Rauch eines letzten Showdowns, im Herz jenes Klosters, das mit allem, was Tradition und Beständigkeit ausmachte, zu einem Nekropol einer erloschenen Vergangenheit wurde.
„Der Rote Diamant“ ist als Buch ein schillernder Diamant. Eine eigenartige Mischung aus klösterlicher Schauergeschichte, Abenteuerroman, aufgemotztem 5-Freude-Kinderroman, (Alp-)Traumgeschichte und Entwicklungsroman. Wer Bücher unter dem Gesichtspunkt liest, was sie einem und der Zeit zu sagen haben, kann nach der Lektüre durchaus ratlos zurückgelassen werden. Wer Bücher liest, um einem Sound zu lauschen, der Fabulierkunst zu folgen, wer einfach nur Freude hat an starken Farben, intensiven Eindrücken, einer theatralischen, nicht wirklichen Welt, der lese „Der Rote Diamant“ und lese in den aufschäumenden Bildern eines Mannes, der einst selbst in den Mauern eines Kloster zur Schule ging, die Geister nicht loswird, daran aber ganz und gar nicht zu Grunde geht! Im Gegenteil: In den Trümmern spriesst es!
Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln und studierte in Zürich und an der FU Berlin Philosophie. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb er die Romane «Heimkehr», «Vierzig Rosen» und «Der große Kater» (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen «Fräulein Stark» und «Das Gartenhaus» sowie den Erzählungsband «Die Tessinerin». Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Nach vielen Jahren in Berlin lebt er wieder in seiner Heimat.
Beitragsbild © leafrei.com


Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese
Lioba Happel «POMMFRITZ aus der Hölle», edition pudelundpinscher
Simon Fröhling «DÜRRST«, Bilgerverlag
Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont

grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!