Fabio Andina, «Sechzehn Monate», Rotpunkt

1944. Giuseppe Vaglio ist dreiunddreissig, Familienvater, Schreiner in einem kleinen Dorf in Norditalien. Durch die Schrecken des Krieges wird er Fluchthelfer, denunziert, verhaftet, eingesperrt, ins KZ Mauthausen verschleppt. Sechzehn Monate später schafft er es in sein Dorf zurück. Fabio Andina, preisgekrönter Schriftsteller und Enkel jenes Mannes, zeichnet ein literarisches Denkmal.

Ob in der Türkei oder in den USA, ob in Weissrussland oder bei den Uiguren; Von Freiheit, von Meinungsfreiheit, keine Spur. Wer in seinem Handeln nicht den vom Staat vorgegebenen Weg einschlägt, muss mit Repressalien rechnen. Dabei scheinen all jene Erfahrungen, die man mit totalitären Regimen machte, wirkungslos. Man(n) lernt nicht. Ob im Stalinismus oder im Nationalsozialismus, im Maoismus oder Militärdiktaturen wie damals in Spanien. Man taucht ab in ein System der Unterdrückung, der totalen Kontrolle, einer Staatsideologie. Freiheiten werden eingeschränkt, Selbstverantwortlichkeit wird zum Risiko, Empathie und Nächstenliebe zum Verbrechen.

Als Mitte des letzten Jahrhunderts ganz Europa im faschistischen Würgegriff erstarrte und man Andersdenkende, Andersgläubige und Anderslebende systematisch verfolgte, einsperrte und wie Ungeziefer vernichtete, wurde es für Menschen, die jenen Unterdrückten halfen, lebensgefährlich, nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familien. Es wuchs ein System der gegenseitigen Überwachung, der Denunziation. Nachbarn wurden zu stillen Informanten. Man beglich so offene Rechnungen, zahlte heimlich zurück, sonnte sich im Gefühl der scheinbaren Macht, ohne zu merken, wie sehr man sich in Abhängigkeiten verstrickte.

Fabio Andina «Sechzehn Monate», Rotpunkt, 2025, aus dem Italienischen von Karin Diemerling, 216 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03973-052-0

Der kleine italienische Ort Cremenaga liegt zwischen dem Lago di Lugano und dem Lago Maggiore, direkt an der Grenze zur Schweiz. Dort lebte Giuseppe Vaglio, der Grossvater des Schriftstellers Fabio Andina, mit seiner Drei-Generationen-Familie und lebte von seinem Schreinerhandwerk. 1943 begann er Menschen, vor allem Juden, die vor den Grausamkeiten der Faschisten fliehen mussten, über die Grenze, durch den Fluss Tresa, einen Fluchtweg in die Schweiz zu finden. Ein ebenso risikoreiches Unternehmen für Flüchtende und Fluchthelfer. Am 5. März 1944 wurde Giuseppe Vaglio, verraten durch Nachbarn aus dem Dorf, von der SS festgenommen, zuerst in verschiedene norditalienische Gefängnisse gesteckt und später ins österreichische Konzentrationslager Mauthausen überführt. Nach Monaten der Misshandlung und Zwangsarbeit wurde er anfang Mai 1945 von us-amerikanischen Truppen befreit und gelangte zu Fuss und als Passagier am 6. Juli 1945, sechzehn Monate nach seiner Verhaftung, wieder in sein Dorf.

Als Giuseppe Vaglio in sein Dorf zurückkehrte, war er ein anderer, gezeichnet von seinen Erlebnissen, in prekärem psychologischem Zustand. Man schwieg weitgehend in der Familie über jene Zeit und was damals passierte. Und als Giuseppe Vaglio im Alter von fünfundsiebzig Jahren starb, war Fabio Andina, sein Enkel, zwölf und interessierte sich wenig für das, was damals geschehen war. Erst viel später, mit Hilfe Grossvaters „Arbeitsbuch für Ausländer“ begann Fabio Andina Recherchen über jene sechzehn Monate anzustellen, Recherchen, die daraus nicht nur einen äusserst lesenswerten Roman werden liessen, sondern die Heimatgemeinde seines Grossvaters veranlasste, mit einer Skulptur im Dorf an die Taten jener zu erinnern, die Flüchtenden halfen und all jenen, die dafür mit viel Schmerz und Leid bezahlen mussten.

„Sechzehn Monate“ erzählt aus wechselnden Perspektiven von den Tagen der Verhaftung bis zu jenem Tag, an dem Giuseppe Vaglio zu seiner Familie zurückkehrte. Eine Reise ins Ungewisse, für ihn immer hart am Tod, für seine Frau und seine Familie im permanenten Strudel von Verzweiflung, Angst und drohender Hoffnungslosigkeit. Ganz offensichtlich ging es Fabio Andina nicht darum, eine möglichst detailgetreue Nacherzählung jener dunklen Monate zu evozieren. Fabio Andina empfindet nach, was in den Herzen seiner Grosseltern passiert sein musste. Er lebt mit Literatur ein Leben nach, zeichnet mögliche Spuren. Er tut dies mit aller Behutsamkeit und dem grossen Respekt an Menschen, denen man keine Wahl liess, die man auch nach 1945, nach dem Zusammenbruch des Tausendjährigen Reiches sich selber überliess, ohne ihnen zu Lebzeiten für das erduldete Leid einen Funken von eben jenem Respekt zu zollen. „Sechzehn Monate“ ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Liebe!

2025 wird Fabio Andina für «Sechzehn Monate» («Sedici mesi») der Schweizer Literaturpreis 2025 verliehen. Aus der Begründung der Jury: Anhand von weitergegebenen Erinnerungen, Briefen aus der Familie und historischen Nachforschungen rekonstruiert der Autor die Lebenslage seiner Grosseltern mütterlicherseits, Giuseppe und Concetta, während dieser unfreiwilligen Trennung.
In knapper, verinnerlichter Sprache wirft die Erzählung einen genauen und bewegenden Blick auf den Alltag und die Gedanken des jungen Ehepaars, das zu einer langen Zeit der Trennung und des Leidens gezwungen wurde.

Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er im Bleniotal. Sein «Roman Tage mit Felice» erschien 2020 auf Deutsch, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. 2021 folgten der zweisprachige Prosaband «Tessiner Horizonte – Momenti Ticinesi» (mit Zeichnungen von Lorenzo Custer) und 2023 der Roman «Davonkommen», der die Vorgeschichte des namenlosen Erzählers von Tage mit Felice enthüllt. Auf Italienisch liegt zudem der Erzählband «Sei tu, Ticino?» vor.

Karin Diemerling hat in Mainz, Hamburg und Florenz Germanistik und Romanistik studiert und übersetzt seit rund 25 Jahren aus dem Englischen und Italienischen. Sie lebt bei Winterthur.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Malik Andina

Romain Buffat „Grande-Fin“, die Brotsuppe

Ein kleiner, verschlammter Lieferwagen wird aus dem Wasser gezogen. Das Auto, mit dem der Vater zuletzt gefahren war. Das Auto am Tor zu seinem Verschwinden. Romain Buffat erzählt eine Reise in ein unbekanntes Land, in jenes eines verschwundenen Lebens. Kunstvoll und poetisch.

Mehr als zehn Jahre hat es gedauert, bis sich Jérôme aufmacht, seine Koordinaten zu ordnen, Versöhnung mit einem Vater zu suchen, der sich aus dem Staub machte, als er zu jung war, um es einfach hinzunehmen. Jérôme macht sich in einer wochenlangen Reise quer durch die Staaten auf die Suche nach einem Sound, einem Lebensgefühl, dem Lebensgefühl seines verschwundenen Vaters, der ein Leben lang einen Traum mit sich herumtrug. Jérôme fährt kleine mit der Bahn von Chicago nach San Francisco mit der Absicht unterwegs in Denver ein Konzert von Bruce Springsteen zu besuchen. Nicht weil es seine Musik wäre, aber jene mit der das Leben seines Vaters durchsetzt war.

Als sie noch eine Familie waren, Vater, Mutter, seine Schwester, gab es kleine Reisen, Ausflüge im klapprigen Auto seines Vaters. Autofahrten mit dem Sound von Bruce Springsteen, einem Lebensgefühl, dass der Vater aus seiner eigenen Jugend wie eine geschlossene Kapsel mit sich herumtrug, einen Einschluss, der in der Bedrohlichkeit seiner Gegenwart zu einem gleichsam Dauerschmerz und Dauertrost war.

Jérômes Vater war Drucker, lebte während Jahren mit der Angst, in Zeiten grosser Veränderungen im Druckereiwesen seine Arbeit zu verlieren. Ein Alp, der sich wie ein lang wirkendes Gift auf Ehe und Familie auswirkte, den Vater nicht nur seinem Sohn entfremdete, auch die Ehe zwischen den Eltern zersetzte. Erst schien sein Vater zu einem Monster zu werden, später wurde er zu einem im stiller werdenden Fremdkörper, bis zu seinem inszenierten Verschwinden.

Jede Reise hat einen Kern, den man sucht und unablässig umkreist. Hat man ihn dann gefunden, wird alles völlig offen und nicht voraussehbar.

Romain Buffat «Grande-Fin», Die Brotsuppe, 2025, aus dem Französischen von Yves Raeber, 204 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-03867-102-2

Jérôme weiss, dass er sich nur von diesem Alp befreien kann, wenn er sich seinem Vater gegenüberstellt. Nicht unbedingt physisch, aber in seine Erinnerungen, seinem Denken. Jérôme rollt mit dem Zug durch jenes Land, dass für seinen Vater Sehnsuchtsort, Traumland war. Ein Lebensgefühl, das so gar nichts zu tun hatte mit der Enge seines eingepferchten Daseines eines bedrohten Ernährers. Ein Leben, in dem die Musik von Bruce Springsteen alles repräsentierte, was das Leben zwischen Druckerei und Familie zerquetschte. Aus dem es keinen Ausweg zu geben schien, erst recht nicht nach der Kündigung und drohender Arbeitslosigkeit.

Im Handschuhfach im Auto seines Vaters lag damals eine Musikkassette mit Springsteens Album „Nebraska“. Eine Aufnahme, die Jérôme später digitalisierte, mit dem Rauschen der Vergangenheit. Er nimmt sie mit auf seine Reise, eine Musik, die er immer und immer wieder hört, als spüre er darin den verlorenen Atem seines Vaters. Er ist nicht die Hoffnung, ihm irgendwann über den Weg zu laufen, ihn zu finden. Aber Jérôme schreibt, um jene Ordnung zu gewinnen, die man ihm schon als Kind nie schenken konnte. So weit weg er sich von seinem Dorf Grande-Fin entfernt, je näher kommt er seinem eignen Kern. Der Versuch einer Versöhnung mit einem Vater, der sich schon lange vor seinem Verschwinden von seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern entfernt hatte. Eine Versöhnung, die erst möglich wird, wenn man sich mit sich selbst versöhnt hat.

Interview

Vaterbücher gibt es zuhauf. Es ist, als müsse sich jede Generation immer und immer wieder mit jenen Männern auseinandersetzen, von denen man ins Leben „gestossen“ wurde. Erfrischend wird eine literarische Auseinandersetzung dann, wenn sie sich möglichst weit von allen Klischees entfernt. Erstaunlicherweise ist Ihr Buch auch eine Liebeserklärung, die Hinwendung des Erzählers an seinen Vater, mit dem er auch hätte abrechnen können. Zeichnete sich diese „Schreibrichtung“ schon von Beginn weg ab?

Ich war mir der Klischees bewusst, die Väterbücher enthalten, und das ist ein Topos, den ich bereits in Schumacher angesprochen habe. Jedes Mal versuche ich, Erzählweisen zu finden, um die Klischees zu umgehen. In Grande-Fin entschärfe ich die Erwartungen der Leserinnen und Leser schon auf den ersten Seiten, indem ich zeige, dass die Suche nach dem Vater nicht so sehr im Zentrum des Textes stehen wird. Von da an lautet die Frage nicht mehr so sehr: Wird Jérôme seinen Vater finden, sondern: Was sieht Jérôme, woran erinnert er sich, wie kommen diese Erinnerungen an die Oberfläche?

© Romain Buffat

Ich bin Vater. Einer meiner Söhne wurde vor wenigen Tagen zum ersten Mal Vater. Ich weiss sehr gut, wie gross die Ideale sind und wie umfassend die Angriffsfläche, um tausendfach das Falsche zu tun. Der Vater ihres Protagonisten war beim Start in seine Familie ganz sicher voller Ideale, davon überzeugt, als Vater nicht nur zu bestehen. Trotzdem liess er aus lauter Verzweiflung seine Familie, seine noch jungen Kinder im Stich, bestimmt im Wissen darum, dass er sein altes Leben nicht so einfach würde abstreifen können. Können sich Wunden tatsächlich schliessen?

Ich weiß nicht, ob Wunden heilen können, und ich glaube, dass Jérôme diese Reise nicht so sehr unternimmt, um Wunden zu heilen, sondern um zu versuchen zu verstehen, zu versuchen zu sehen, was sein Vater zum Zeitpunkt seines Verschwindens gesehen haben könnte. Er unternimmt eine Reise, in die Vereinigten Staaten, aber auch eine Reise in dem Sinne, dass er sich auf den letzten Seiten buchstäblich an die Stelle seines Vaters setzt. Es ist eher eine Reise des Verstehens als der Heilung. Mehr als die Frage der Heilung hat mich vielleicht die Frage nach einer Art Wiedersehen interessiert. Es ist kein Wiedersehen im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Überlagerung von Erfahrungen und Sichtweisen: Jérôme hat gesehen, was sein Vater gesehen hat, er hat gehört, was sein Vater gehört hat. In der letzten Szene fand ich es interessant, dass sich Jérômes Gesten (zumindest imaginär) mit denen seines Vaters verbinden. Es ist mir egal, ob Jérôme seinem Vater etwas vorwirft (das müssen die Leser*innen interpretieren), mich interessiert, dass Jérôme sich irgendwann so sehr mit seinem Vater identifiziert, dass er vielleicht die Gründe verstehen kann, die seinen Vater dazu gebracht haben, alles aufzugeben – die Fiktion ist zu solchen Schwindel erregenden Höhen fähig.

Musik repräsentiert ein Lebensgefühl. Wenn ich höre, was ich in meiner Jugend hörte, kann ich mich zurückversetzen. Jérôme hört auf seiner vierwöchigen Reise durch die Staaten immer wieder die Musik seines Vaters, Bruce Springsteen. Wahrscheinlich hörten sie auch Bruce Springsteen während des Schreibens. Wenn ja, wäre das Buch ohne ein anderes geworden? Ich kenne AutorInnen, die jede Firm der sinnlichen Beeinflussung vermeiden.

Beim Schreiben dieses Romans habe ich viel Nebraska, Tunnel of Love, Darkness on the Edge of Town und The Ghost of Tom Joad von Bruce Springsteen gehört (und immer wieder gelesen), den ich übrigens seit 2010 fast obsessiv höre, wie jemand, der Harry Potter oder Faulkner immer wieder liest oder Twin Peaks immer wieder schaut und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Ich hierarchisiere meine Einflüsse nicht, Springsteen ist für meine Arbeit genauso wichtig wie Annie Ernaux oder Claude Simon.

Die Springsteen-Songs, ihre Atmosphäre, die Geschichten, die sie erzählen, die Figur Springsteen als Sänger der Arbeiterklasse (aus der Jerômes Familie stammt) prägen den Text völlig. Aber damit Springsteen seinen Platz im Text hat, muss die Musik homodiegetisch sein, das heißt, sie muss Teil des fiktionalen Universums sein und nicht nur Hintergrundmusik für den Autor und die Leser*innen, die Musik muss ein materielles Element im Leben der Figuren sein – ich habe kein Interesse an den Playlists, die manche Autor*innen zu Beginn ihres Werks liefern, um uns zu sagen, in welcher Stimmung sie schreiben, das finde ich uninteressant, das ist, als würde man den Inhalt seines Frühstücks verraten. Für mich muss die Musik in den Text einfließen, wie im Kino, ich höre gerne, was die Figuren hören – Geigen, die uns sagen, wann wir traurig oder erleichtert sein sollen, mag ich weniger.

In Grande-Fin sind einige Szenen wie Neufassungen bestimmter Songs oder Springsteen-Lyrics, es gibt eine Reihe von Anspielungen. Zum Beispiel ist die fast existenzielle Scham, die Jérômes Vater empfindet, als er seine Familie in einem alten, kaputten Auto transportiert, eine Neuinterpretation des Songs Used Cars. Und die Szene, in der Jérômes Vater nachts in seiner Küche Angst hat, weil er gerade seinen Job verloren hat, findet sich in Springsteens Diskographie.

© Romain Buffat

Ihr Roman ist ein Vaterbuch, ein Familienroman, ein Eheroman, ein Railtripp, eine Liebesgeschichte. Sie waren selbst lange unterwegs, wie Jérôme quer durch Amerika. Für Jérômes Vater war es ein Sehnsuchtsort. Für Sie auch? Ein Leben in den unvereinigten Staaten zwischen „Trumpisten“ und allen anderen?

Ich glaube nicht, dass für mich Amerika ein Sehnsuchtort ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dort lange überleben könnte. Aber dieses Land berührt mich, weil es uns alle in gewisser Weise berührt – man muss sich nur unsere Fassungslosigkeit ansehen, die wir bei jeder Ankündigung von Trump seit seiner Amtseinführung empfinden. Es dauerte nicht länger als einen Monat, bis sich Mitglieder der SVP Trump und seinem Wunsch, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen, anschlossen. Als Schweizer wachen wir jeden Morgen auf und schauen nach Westen, ob wir nun fasziniert, verängstigt, desillusioniert oder wütend sind, das ist eine Tatsache. Wir warten immer auf die Reaktion der Amerikaner, weil wir Westler sind, und wir lieben ein bisschen wie die Amerikaner. Wir sind ein sehr liberales Land, unsere Lebensweise ist ökologisch nicht tragbar und wir hängen fast religiös am Privateigentum.

Amerika ist in meinem Roman sehr praktisch: Durch den Rückgriff auf den Vergrößerungsspiegel Amerika wird deutlicher, was Jérôme Vater aushält: den Rhythmus und die Erschöpfung bei der Arbeit, ein Produktionssystem, das Leben zerstört.

Meine literarische Arbeit seit Schumacher ist ein Versuch, eine ganze Reihe von Referenzen (Literatur, Kino, Musik) zu dekonstruieren. Nicht, dass ich alles loswerden möchte, was ich gelesen, gesehen und gehört habe, das amerikanisch war, aber ich dekonstruiere, um die Materie dessen zu beobachten, was einen Grossteil meiner Vorstellungen ausmacht. 

© Romain Buffat

Sie lehren am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Wie gross bei vielen die Bereitschaft ist, unsäglich viel Zeit und Energie für ihren Traum eines SchriftstellerInnenlebens zu investieren, weiss ich aus vielen Begegnungen. Auch von der Hoffnung, dereinst mit dem Schreiben den Lebensunterhalt bestreiten zu können, schwindelt mir. Dass Sie mit Ihrem ersten Roman bereits einen Preis zugesprochen bekamen und nun mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet werden, ist aussergewöhnlich. Meine etwas freche Frage: was machen Sie besser?

Es interessiert mich nicht so sehr, ob ich es besser mache als andere, und ich möchte diese Frage nicht in Form eines Wettbewerbs stellen. Abgesehen von einigen Freunden weiß ich nicht wirklich, wie andere arbeiten. Aber ich spreche gerne darüber, wie ich arbeite: Ich arbeite viel, und mit Arbeiten meine ich Lesen und Schreiben, und wenn ich andere Autor*innen lese, bin ich bereits in einer Art des Schreibens. 

Wenn ich schreibe, bin ich sehr anspruchsvoll und misstrauisch gegenüber meinen Texten. Ein erster Entwurf stellt mich nie zufrieden, und wenn ich mit einem ersten Entwurf zufrieden bin, ist das immer ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, dass ich mich einer Form von Bequemlichkeit und Faulheit hingegeben habe.

Jeden Tag, wenn ich mit dem Schreiben beginne, nehme ich die Absätze, die ich am Vortag geschrieben habe, und schreibe sie um, korrigiere und passe sie an. So beginnt jeder Tag mit Korrekturlesen und Umschreiben, es ist für mich fast unmöglich, den Tag mit einem neuen Absatz zu beginnen. Irgendwann schreibe ich dann einen neuen Absatz, ohne mir des Übergangs vom Umschreiben zum Schreiben von etwas Neuem wirklich bewusst zu sein, das Neue ist immer mit dem Umschreiben verbunden. Ich kann nicht bei Null anfangen. Außerdem schreibe ich mit Landkarten vor Augen, mit Fotos, Filmszenen, Gegenständen, begleitet von Büchern, die mir wichtig sind.

Die Tatsache, dass Schreiben für mich fast immer Neu- und Umarbeiten bedeutet, führt dazu, dass meine Texte, wenn ich sie einem Verleger gebe, unzählige Male überarbeitet wurden, bis die erste Version nicht mehr zu hören ist. Für mich ist es immer eine fünfte oder sechste Version.

Romain Buffat, 1989 in Yverdon-les-Bains geboren, lebt in Lausanne. Er gehört zum »collectif d’auteur·e·s Hétérotrophes«. Sein erster Roman «Schumacher» wurde im französischen Original 2018 mit dem Prix littéraire chênois und 2019 mit dem Terra Nova Preis der schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

Romain Buffet gewinnt den Schweizer Literaturpreis 2025 für «Grande-Fin». Aus der Jurybegründung: In einer feinen, rhythmischen Sprache schlängelt sich der Roman durch die Zeiten und die Landschaften und zeichnet dabei das Porträt einer Arbeiterfamilie. Jérômes Reise ermöglicht Erinnerungsarbeit, aber vor allem auch einen Neuanfang für die Protagonistinnen und Protagonisten. Ein feinfühliger Railtrip, der die Leserinnen und Leser mitzunehmen weiss.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für den verlag die brotsuppe hat er «Ruhe sanft» von Thomas Sandoz, «Allegra» von Philippe Rahmy sowie «Ohne Komma» von Myriam Wahli vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» (Béton Armé) von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.

Eva Maria Leuenberger «die spinne», Droschl

Eva Maria Leuenbergers dritter Gedichtband war auf der SWR-Bestenliste! Schon erstaunlich für einen Gedichtband! Aber die Dichterin hat schon mit ihrem Debüt «dekarnation» mehr als nur aufmerksam auf sich gemacht. Jeder ihrer bisher erschienenen Gedichtbände ist Meilenstein der Dichtkunst, jedes ihrer Bücher ein Kunstwerk.

Man kennt die Bilder aus dem Netz: Ein Wal steigt aus dem Wasser und knallt auf eines der Boote, auf denen Touristen zu den Tieren gefahren werden. Ob eingebildet oder nicht entsteht zuweilen der Eindruck, als habe die Natur genug von der Spezies Mensch, die so gar nicht einsehen will, dass der Besitzanspruch dieser Gattung den Planeten irreparabel zu schädigen begonnen hat. Kein Wunder wird die Kunst zu einem Sprachrohr der Ohnmacht, der Verzweiflung, der Ratlosigkeit. Seien dies in der Belletristik oder im Film grassierenden Weltuntergangsszenarien oder Dystopien oder die grossflächigen Bilder eines Anselm Kiefer. Kunst, die keinen Hehl daraus macht, dass das Gefühl, im Kollektiv jene rote Linie längst überschritten zu haben, bis zur Depression und vollkommenen Lähmung führen kann.

Eva Maria Leuenberger «die spinne», Droschl, 2024, 96 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99059-164-2

In Eva Maria Leuenbergers neuem Gedichtband «die Spinne» spricht eine Stimme mit einem flügellahmen Wesen, das im Bett liegt und zur Decke starrt. Dort sitzt die Spinne, ein Wesen, das bedrohlich in der Ecke hockt, seine klebrigen Fäden spinnt, sich ins Leben, ins Denken jener Person beisst, die dort liegt, sie, im Langgedicht «flügchen» heisst. Die Spinne war schon in Gotthelfs Novelle Synonym für die Bedrohung. «flügchen», eine leuenberg’sche Wortschöpfung, ein Wesen, dem man die Flügel nahm, die Fähigkeit zu fliegen, so wie die in die Spinnfäden eingewickelten Fliegen.

Angesichts all der unleugbaren Tatsachen, dass sich die Welt in eine Richtung verändert, die in der Gegenwart und Zukunft mit zerstörerischer Kraft auf unser Tun und Unterlassen reagieren wird, ist «die spinne» seltsam milde formuliert. Eva Maria Leuenbergers Langgedicht ist weder ökopolitische Kampfschrift noch in Depression verfallene Selbsterklärung. «die spinne» beschreibt jenes Gefühl der Machtlosigkeit, der Lähmung, das sich wie eine steinerne Decke über eine ganze Generation zu legen droht, denen man die Zukunft genommen hat, eine Zukunft, in der alles offen, alles möglich ist.

«Du liegst und liegst und liegst.» Man spürt den Schmerz, die Ratlosigkeit, das Unausweichliche in diesem Gedicht, weil es zur einzigen Antwort geworden ist, auf das zu reagieren, was sich wie ein Klotz an Körper und Geist hängt. Gleichzeitig ist Eva Maria Leuenbergers Gedicht der Versuch eines «Trotzdem», denn kein Wort trifft man in ihrem Langgedicht häufiger als «trotzdem», der Kontrapunkt zu einer anderen Formulierung, die sich im Text immer und immer wieder findet: «man gewöhnt sich an alles.»

«die Spinne» ist leicht, trotz des Schwere. Ein Langgedicht, das sich laut fast wie Prosa liest. Eine eingängliche, unkomplizierte, eindringliche, verletzliche, zarte Stimme, die mich nicht herunterziehen will, die aber sehr wohl das Zeug hat, genau den Nerv zu treffen. «die spinne» ist der Beweis, wie aktuell, wie lebensnah und ungekünstelt Lyrik sein kann!

Eva Maria Leuenberger wurde 1991 in Bern geboren und lebt in Biel. Sie studierte an der Universität Bern sowie an der Hochschule der Künste Bern. Veröffentlichungen u.a. in manuskripte und in Literarischer Monat. Sie ist zweifache Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017). 2016 erhielt sie das »Weiterschreiben«-Stipendium der Stadt Bern, 2020 wird «dekarnation» – als erstes Lyrikdebüt – mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichnet. 2025 wird Eva Maria Leuenberger mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet!

Eva Maria Leuenberger & Pamela Méndez «rupture», eine Performance im Literaturhaus Thurgau vom 6. November 2020

Beitragsbild © Anja Fonseka