24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 3/3

Literaturfestivals sind Orte der Begegnungen, für Schreibende und für Lesende. Und wenn sich dann die beiden Seiten gar mischen, Gespräche entstehen über die „Lager“ hinaus, dann stellt sich dieses Gefühl von Berauschung ein, die das Lesen allein nicht erzeugen kann. Dann wird Literatur greifbar, Sprache zu Stimme Geschichten zu Geschichte.

Dem 24. Internationalen Literaturfestival gelang es zwar nicht, sich den schwindenden Besucherzahlen der meisten Literaturfestivals entgegenzustellen. Dafür beugt sich Leukerbad aber auch nicht dem Geschmack der Masse, der Lust nach Ablenkung und Abschweifung.

Hier ein Streifzug durch meine ganz persönlichen Höhepunkte:

Nell Zink, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Wer „Virginia“ noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Dass Nell Zink, die im länglichen Virginia aufgewachsene Amerikanerin, in Medien derart grosse Aufmerksamkeit geniesst, erstaunt nicht. Sie, die schon lange in Deutschland lebt und immer wieder in der Schweiz an Festivals anzutreffen ist, beweist mit ihrem Erfolg, den Bestsellern, dass sich der Durchbruch als Schriftstellerin nicht unbedingt mit 30 einstellen muss und man literarisches Schreiben nicht unbedingt mitten im Literaturkuchen erlernen muss/kann/soll. Ihre Romane sind eigenwillig, intelligent und schlicht sensationell erzählt.
In ihrem neusten in deutscher Sprache erschienenen Roman „Virginia“ leben die Mutter Peggy und ihre Tochter auf der Flucht aus einer gescheiterten Ehe mit erschwindelten Ausweispapieren als „Schwarze“ unerkannt in einem kleinen Ort in der Pampas, in Virginia, vergessen von der Weissen Seite der Amerikaner. „Virginia“ ist ein Familienroman mit überragendem Sound, ein Amerikaroman über das Leben in einer Kleinstadt im Schatten der grossen amerikanischen Metropolen, ein Identitätsroman über die Fragwürdigkeiten zugeschriebener und zugespielter Identitäten. Ein Roman über zwei Welten, Schwarz und Weiss, zwei Kasten, über eine Frau, die aus der einen Kaste ausbricht, um in der andern unterzutauchen, über Zufall und Glück, die Unmöglichkeiten von Schicksal, Geschlecht und Sexualität. Ein sprachliches Feuerwerk, das man auch in der deutschen Übersetzung von Michael Kellner geniessen kann.

Tanja Maljartschuk, Rolf Hermann und Pedro Lenz lesen Texte von Aglaja Veteranyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Aglaja Veteranyi, 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie hineingeboren, wählte 2002 in Zürich in einer seelische Krise den Freitod . Doch in Leukerbad war sie da. Nicht nur auf dem Büchertisch, wo aus dem Nachlass beim Verlag “der gesunde Menschenversand“ zwei neue Bücher zum Entdecken und Vertiefen, zum Geniessen und Eintauchen bereitlagen, nicht nur durch ihr bekanntestes Werk „Warum das Kind in der Polenta kocht“, dass sich bei vielen Leserinnen und Leser tief in die literarische Erinnerung eingegraben hat und von der schwierigen Kindheit der Schriftstellerin erzählt, sondern weil Pedro Lenz, Tanja Maljartschuk und Rolf Hermann ganz oben auf dem Berg in einer Mitternachtslesung unter dem grossen schwarzen Zelt einer sternenklaren Nacht die Texte einer Künstlerin vortrugen. Aglaja Veteranyi, die sich das Lesen und Schreiben als Kind selbst beigebracht hatte, Artistin und Tänzerin war und sich die deutsche Sprache zu ihrem wichtigsten Instrument machte, schuf als Vielschreiberin Kunstwerke, die beim Lesen ebenso schmerzen wie bezaubern, verwirren wie erheitern. „Café Papa. Fragmente“ und „Wörter statt Möbel. Fundstücke“ sind gesammelte Texte aus Notizbüchern, Makulaturblättern, Texte voller Witz und Tiefe, Einsichten in die Welt einer Künstlerin, für die Sprache viel, viel mehr als ein Medium war, sondern Manege selbst. Tanja Maljartschuk, die in der Ukraine aufwuchs und studierte, in Wien lebt und schreibend noch immer in das im Würgegriff unversöhnlicher Fronten gefangene Herkunftsland eingreift, nennt Aglaja Veteranyi eine Ecke ihres literarischen Dreigestirns, neben Robert Walser und Peter Bichsel.

Maria Cecilia Barbetta, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Zehn Jahre nach ihrem gefeierten Debüt feiert die aus Argentinien stammende und deutsch schreibende Autorin Maria Cecilia Barbetta mit „Nachtleuten“ einen fulminanten Erfolg. Und wer die Schriftstellerin in ihrer leidenschaftlichen und authentischen Art lesen und erzählen hört, ist noch um ein Vielfaches mehr bezaubert und betört vom Feuerwerk aus Sprache, Sprachwitz, Originalität und der scheinbaren Leichtigkeit, die das Erzählen der Meisterin ausmacht. Maria Cecilia Barbetta besuchte die deutsche Schule in Buenos Aires, studierte später Deutsch und kam mit 24 mit einem Stipendium nach Deuschland. „Ich habe mich verliebt in die deutsche Grammatik“, beteuert die Autorin. In „Nachtleuchten“ erzählt Maria Cecilia Barbetta von ihrer Heimatstadt Buenos Aires, von ihrem Viertel Ballester, wo sie aufgewachsen ist. Ein Kosmos der Vielfalt, ein Schmelztiegel der Kulturen. Ballester ist die Urmutter aller Geschichten und Figuren. Figuren und Orte, die sich aber überall finden, in jeder Stadt, in jedem Ort, auch in Berlin, wo die Autorin seither lebt. „Nachtleuchten“ spielt 1976, am Vorabend des politischen Umsturzes, in einer Zeit, als das grosse Verschwinden begann und in der im Laufe der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 Zehntausende ArgentinierInnen verschwanden. „Nachtleuchten“ ist ein sinnliches Feuerwerk!

Durs Grünbein und Stefan Zweifel, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Und wer sich traut, sollte aus dem umfangreichen Werk des deutschen Dichters und Essayisten Durs Grünbein lesen. Der häufige Gast in Leukerbad beweist in eindrücklicher Manier, dass Lyrik nichts mit weltfremden und entrücktem Dichten zu tun haben muss. Seine Gedichte erzählen Geschichten, leuchten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellen Fragen, konfrontieren, springen in der Perspektive. Seine Essays spiegeln den Weitblick des Autors, fordern heraus und zeigen, wie Geschichte, Wissenschaft und Gesellschaftskritik konstruktiv provozieren können.

Das 24. Literaturfestival Leukerbad hat überzeugt und gezeigt, dass Literatur nicht im Elfenbeinturm geschieht. Leukerbad ermuntert und treibt an, denn was in den Umbrüchen der Gegenwart geschieht, spiegelt sich in der Literatur.
Der Handschlag zwischen zwei übergewichtigen Politikern ist eine grosse Geste mit kleiner Wirkung. Literatur sind kleine Gesten mit grosser Wirkung.

„Literatur kann gefährlich sein.“ Christos Chryssopoulus

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

Highlights aus den 41. Solothurner Literaturtagen

Fast gleich viele wie im letzten Jahr, als es einen neuen Besucherrekord zu verzeichnen gab! Die Solothurner Literaturtage leben, glänzen und tun genau das, was die Besuchenden an diesem Festival zu schätzen wissen.

Aber Solothurn ist auch „Familientreffen“ der kleinen Schweizer Literaturszene. Die Schriftsteller-Nationalmannschaft spielt die sich ewig wiederholende Revanche gegen Rakete Solothurn (1:1!), im Park auf der anderen Aareseite performen die alten Hasen Bänz Friedli, Patrick Tschan, Wolfgang Bortlik, Maurizio Pinarello und Franco Supino ihre Texte unter dem ausladenden Geäst der Uferplatanen, in denen sich ebenso lautstarkes schwarzes Gefieder eingenistet hat. An langen Tischen zwischen der Geburtsstädte der Solothurner Literaturtage, dem Restaurant Kreuz, in dem 1978 Autoren wie Peter Bichsel und Otto F. Walter das Festival gründeten und dem Landhaus branden engagierte Gespräche zwischen den „wilden Jungen“, den „Literaturaktivistinnen“, die sich mit Recht gegen Verkrustungen, betonierte Hierarchien und die ewig Gestrigen auflehnen und aufregen. Und zwischen allen sitzt, plaudert und pafft der ungekrönte König von Solothurn, der mittlerweile 84jährige Peter Bichsel.

Ferdinand von Schirach, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Es gab sie, die grossen Namen, auch wenn die aktuelle Deutsche Buchpreisträgerin Inger-Maria Malke mit ihrem preisgekrönten Roman „Archipel“ fehlte. Ferdinand von Schirach, Judith Schalansky, Thomas Hürlimann oder der in Paris lebende Türke Nedim Gürsel oder alt gediente Säulen der Schweizer Literaturszene; Lukas Hartmann, Milena Moser, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder die nimmer müden Ernst Halter und Beat Brechbühl.

Aber was muss unbedingt gelesen werden:
„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Kein Nahrungsratgeber, obwohl die beiden momentan meistverkauften Bücher im deutschsprachigen Raum solche sind. Ferdinand von Schirach verkauft seine Süchte auch nicht als Eingangstore in die grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.

Wild wie die Wellen des Meeres“ von Anna Stern und „Balg“ von Tabea Steiner. Wie gut, waren sie da! Zwei engagierte junge Autorinnen in so gänzlich verschiedener Lebens- und Schreibsituation. Anna Stern, eine Akademikerin, die sich in ihrem Brotberuf wissenschaftlich mit Umweltfragen beschäftigt, Tabea Steiner eine „junge Wilde“, die sich auf ganz vielen Bühnen und Wirkungsfeldern innerhalb des Literaturbetriebs bewegt. Anna Stern erzählt vom Fluchtversuch einer jungen Frau, eine Geschichte, die sich geographisch aus der Heimat entfernt und Tabea Steiner jene eines Ausgegrenzten, das eingezwängte Dasein in dörflicher Enge. Beide Bücher sind auf literaturblatt.ch besprochen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die beiden Titel im September auf der ominösen Shortlist des Schweizer Buchpreises erscheinen würden.

Franco Supino, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Auch wenn Simonetta Somaruga ihrem Mann bei seiner Lesung am Sonntag einen Besuch abstattete und ich mich einmal mehr wunderte, dass eine Ministerin in der Schweiz wie jede andere als Privatperson durch die Solothurner Innenstadt spazieren kann, ohne dass an jeder Ecke ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat jeden Anwesenden mit durchdringendem Blick nach seinem Gewaltpotenzial scannt und mir der neue Roman ihres Mannes ausgesprochen gut gefällt (Eine Rezension und Interview mit Lukas Hartmann folgt!), war es der Rückkehrer Thomas Hürlimann, der mit seiner ersten Lesung aus seinem vor einem Jahr erschienen Roman „Heimkehr“ den Solothurner Literaturtagen einen grossartigen Abschluss bescherte.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!

Beitragsbild zeigt Viola Rohner © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen