Romana Ganzoni «Die Taufe», Plattform Gegenzauber

An meine erste Taufe erinnere ich mich nicht. 1967, Scuol, Unterengadin. Sommer. Ich war wenige Monate alt, ein pausbäckiges Dutzendkind mit rabenschwarzen Augen. Von wem sind denn die? Auf den Fotos bettet mich meine schöne Mutter auf ihren Arm, sie trägt ein graues Deux-pièce, das man in den 60iger Jahren chic nannte, und auch meine Patin Miggi hält mich, die Halbschwester meines Vaters, die in der Familie als schön galt, in Wahrheit war sie recht gewöhnlich und dazu bösartig, aber sie war blond. In der Familie war nur sie blond. Neben Miggi steht mein Pate; er heisst Heinrich, genannt Bum-Bum, er ist Metzger, schnittlauchlang, dünne Arme, dünne Beine, mit Teigbauch, als hätte er einen dieser Sitzbälle, die später aufkamen, verschluckt, ein gutmütiger Pate, der viele Schnäpse verträgt und in der Nacht unter den falschen Fenstern singt.

Meine Taufe war, ausser dass ich in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wurde, ein Skandal. Denn es war eine katholische Taufe, meine Mutter hatte das verlangt, aus Angst vor der Hölle, mein Vater hatte zugestimmt, mein Grossvater war auch gekommen, der alte Katholikenhasser mit dem edlen Profil. Mein Vater und mein Grossvater lachen nicht auf den Fotos. Und ich auch nicht. Ich weiss gar nicht, ob pausbäckige Kinder lachen können, die Backen, die allen als süss gelten, damit sie sie unter einem Vorwand zwicken können, belasten doch diesen kleinen Mund ungemein. Aber nicht die Nase, noch heute weiss ich, wie der reformierte Bart meines Grossvaters, den ich später Neni nannte, roch. Er roch streng. Ich liebte den Grossvater mehr als alle anderen. Ich sagte in der Primarschule: Wenn ich sterbe, holt mich der Neni ab. Das glaube ich auch heute noch.

Die zweite Taufe erlebte ich 2014 in Klagenfurt. Das ist eine Provinzstadt in Österreich. Schon wieder Sommer. Die zweite Taufe nach der ersten Taufe, die mich einst aufgenommen hatte in die Gemeinschaft der Gläubigen – fälschlicherweise sind damit die Christen gemeint. In Wahrheit wurde ich in die geschriebene und gesprochene Sprache aufgenommen, die niedergelegt ist im Alten Testament, ein ewiger Bund, dort liegt das Wort und dampft, es ist voller Zorn, voller Wucht und Kraft, es ist rücksichtslos und hart. Wo kommt es her? Von weit, du Anfängerin! – War ja nur eine Frage.

Ich war mit der ersten Taufe offiziell in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen worden, und ich wollte die Gläubigste sein von allen. Das Alte Testament nahm mich ins Wort auf, damit ich meinen Glauben ausdrücken konnte, das Evangelium nahm mich in seinen Schlepptau, und, siehe da, es erzählte die beste Geschichte von allen. Ich las und hörte zu. Ich glaubte alles, fragte mich aber, obwohl man das nicht darf: Wer erzählt hier? Wer schrieb auf? Der Meistererzähler, der Erzählmeister? Ja, ganz recht, Gott erzählt, sagte einer. Gott erzählt? Gott schreibt? Nein, nein, Gott schreibt nicht, er hat keine Hände, er diktiert nur. Aha. Das hiesse, alle Erzähler äffen ihn nach, es dürfte keine Geschichten geben. Selbst erzählen, falls das überhaupt geht, und schreiben wäre ein Verstoss. Oder aber: Gott erzählt uns alle Geschichten, wir schreiben sie nur auf? Dann blieben wir unschuldig.

Und was ist mit den schlechten Geschichten? Kommen die vom Teufel? Ja, die kommen vom Teufel oder von seiner vorwitzigen Grossmutter, sie ist die Gefährliche, weil sie so gefällig tut. Die schlechten Geschichten sind ein Hohn auf den Meistererzähler, sie äffen den Erzählmeister nach, man sollte die Ohren verschliessen, sie nie zu Ende hören oder lesen und niemals weiterempfehlen. Sind denn die schlechten Geschichten die bösen Geschichten oder was bedeutet schlecht? Schlecht bedeutet schlecht erzählt, nichts weiter. Schlecht erzählen ist des Teufels Grossmutter.

Die zweite Taufe, die in Klagenfurt am Wörthersee, war die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die alles aufschreiben – mit Lizenz von oben. Nennen wir die, die alles aufschreiben, die Schreiber und Schreiberinnen; es ist eine Kaste, nicht ganz oben angesiedelt und auch nicht ganz unten. Eine graue Mittelschicht aus Halbverhungerten.

Ich reiste nach Klagenfurt, weil ich in die Provinzstadt nach Österreich eingeladen worden war, im Restaurantwagen nach Salzburg ass ich drei Gänge, weil ich bald zu den Halbverhungerten gehören würde. In Klagenfurt stieg ich aus dem Zug und stand herum, ich wartete auf einen, der mich aufnehmen würde in die Gemeinschaft derer, die zum lebenslänglichen Diktat antreten wollen, die alles aufschreiben, die Geschichten erzählen, und dabei hoffen, sie seien nicht auf die vorwitzige Grossmutter des Teufels hereingefallen.

Ich wartete, aber es kam keiner, und als ich schon davon ausging, dass keiner komme, kam einer, er hiess Burkhard, er stammte aus Deutschland, das war klar, denn er sprach Deutsch und deutlich, in perfekter Intonation. Er dirigierte mich vom Bahnhof auf den Domplatz und sagte: Lesen Sie vor, was Sie geschrieben haben! Ich las vor, was dastand, und als die Geschichte zu Ende war, schaute Burkhard aus Deutschland mich böse an und sagte: Next please! Sein Wort dampfte, weil er mich Scheisse fand. Und der Gestank seines Wortes war so mächtig, dass ich auch zu stinken begann, deshalb begab ich mich gleich nach der Nichtaufnahme in die Gemeinschaft der Schreibenden in mein Hotel Zum goldenen Brunnen, um ein Bad zu nehmen, aber da ich den Hotelprodukten nicht traute, ging ich etwas benommen, aber sehr badewillig in die Kramergasse, wo ein Wunder geschah.

Adam kam auf mich zu. Er sagte, er sehe, dass ich seine Produkte brauche, er lotste mich in seinen Laden, aber ich wäre auch freiwillig mitgegangen. Als er sagte, er heisse Adam und wolle mich beraten, wusste ich, jetzt wird alles gut. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Adam mir die neuste Handcrème der Wundermarke Kedem angeschmiert, die er als galaktisch anpries, in Wahrheit war der Geruch aufdringlich, oberkünstlich und unangenehm, ich begriff, dass ich so richtig angeschmiert war, denn mir kam Burkhard in den Sinn, der mir die Lizenz verweigert hatte, obwohl ich die Gläubigste von allen war.

Hatte er das etwa gemerkt? War alles nur eine Prüfung? Versteckte Kamera? Hatte er Adam geschickt, um zu schauen, wie ich auf ein zweites künstliches Angeschmiertsein reagieren würde? Ich dachte nach.

Adam fragte, ob ich eine Antifaltenbehandlung wünsche. Er schaute mir tief in die Augen. Nein, danke. Adam hüpfte im Geschäft herum, die Handcrème hielt er für verkauft, statt 25 Euro 19 für die Dame. Okay. Ich sagte, ich wolle baden. Einen Augenblick und tadaaa, sagte Adam. Und schon stand dieser Tiegel mit dem goldenen Deckel Salt Scrub Peach & Honey vor mir. Um Gottes Willen, nein! Da las ich: Made in Israel.

Salt Scrub aus dem Heiligen Land. Das konnte kein Zufall sein, und auch nicht, dass es saftige 60 Euro kostete. Qualität kostet, biblische ist unbezahlbar. Adam winkte ab, wir schauen dann noch mit Preis, sagte Adam, ein Ungare, der out of the Blue sagte, es sei schwierig mit den Israelis, oioioi, sehr schwierig, geschäftlich, sagte er. Ich wollte etwas sagen und so ein bisschen in Richtung Ungarn verbinden, da stand bereits das zweite israelische Top-Produkt vor mir: Body Butter Kiwi. 60 Euro. Adam machte aus 145 Euro deren 90 und strahlte.

Ich bezahlte und hastete ins Hotel, wo ich mir ein Bad einlaufen liess. Ich legte mich ins lauwarme Wasser. Nach einer geschätzten Viertelstunde stand ich auf, ohne das Wasser abzulassen, und rieb mich mit dem Pfirsich-Honig-Meersalz ein, ich griff in die Dose und verteilte das teure Mousse grosszügig auf meinem Körper. Peeling, das muss sein, zwei Mal pro Monat, hatte Adam gesagt. Ich zog das durch mit der Schälkur. Ich rieb die ganze Dose ein, ein halbes Kilogramm. Aus Israel, dem Heiligen Land, für weniger als 60 Euro. Ich war rot wie ein Hummer. Hummer sind schöne Tiere, ich esse sie nicht.

Ich setzte mich ins Bad und tauchte unter. Ich tauchte auf und tauchte nochmals unter, ich hielt die Luft an, bis es eng wurde, dann tauchte ich wieder auf, um sehr schnell, mit halb gefüllter Lunge, wieder unterzutauchen. Ich tauchte auf und sagte: Ich taufe dich, Romana, im Namen von Ingeborg Bachmann, die dich höchstpersönlich aufnimmt in die Gemeinschaft der Schreibenden, auf keinen weiteren Namen, vergiss das mit dem Pseudonym, das ist affig, ich taufe dich, weil Ingeborg Bachmann dich für würdig befunden hat, einzutreten in die Welt der Schreibenden, als du heute Morgen ihre Gedichte lasest und weintest. Sie hat dich erkannt als grosse Gläubige. Ich ermächtige dich, Romana, das zu sagen und Geschichten zu schreiben, bis du tot umfällst. Du sollst das nicht nur tun, du musst das tun, ich befehle es dir.

Ich glaubte mir, stand auf, duschte, wusch mir die Haare mit dem Billigprodukt, das das Hotel mir überlassen hatte, und stieg aus der Wanne. Nun schmierte ich mich ein mit der Kiwibutter With Dead Sea Minerals and Shea Butter (Paraben-Free) von Kedem aus dem Heiligen Land, ich schmierte meine Seele, ich ölte mich und versiegelte meinen Leib.

Romana Ganzoniwurde 1967 in Scuol, Unterengadin, geboren, wo sie auch aufwuchs. Geschichts- und Germanistikstudium an der Universität Zürich, Aufenthalt in London. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrerin widmet sie sich heute ganz dem Schreiben und lebt als freie Autorin in Celerina, Oberengadin. Seit 2013 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. 2014 Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Förderpreis des Kantons Graubünden. Seit 2015 Kolumnen in der Schweiz am Sonntagund im Kultur­Blog der Engadiner Post. «Granada Grischun» in der Reihe Edition Blau, Rotpunktverlag ist ihre erste Buchveröffentlichung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Laura Giannini

Zoë Jenny «Die Rache der Julia Cane», Plattform Gegenzauber

Es war ein wolkenloser Tag als Julia Cane an ihrem fünfunddreissigsten Geburtstag die Anwaltskanzlei Hemlyn & Partner in Richtung Regent Street verliess. Sie arbeitete als Assistentin in der Abteilung brand protection, die sich darauf spezialisierte, konkurrierende Modefirmen wegen Kopien und Fälschungen auf Höchstsummen zu verklagen. Sie erledigte ihre Arbeit effizient und zur vollen Zufriedenheit ihres Chefs, dessen Zustimmung ihr eine gewisse Befriedigung gab. Darüber hinaus hegte Julia keinerlei berufliche Ambitionen und erfüllte ihre Aufgaben mit einem Mindestmass an innerer Beteiligung, was man als eine gewisse Kälte und Gleichgültigkeit des Charakters hätte auslegen können – ein Eindruck, der aber durch ihre freundliche und zuvorkommende Art wett gemacht wurde. Ihre Mitmenschen und insbesondere ihre Arbeitskollegen empfanden Julia als ausgeglichen und angenehm.

Sie hatte die flachen Schuhe, die sie während der Arbeit getragen hatte, ausgetauscht gegen ein paar schwarze Louboutins, was nicht nur zu einer einer aufrechteren, eleganteren Gangart führte, sondern in ihr eine regelrechte Verwandlung auslöste. Die flachen Schuhe verstaute sie zusammen mit der Person, die sie tagsüber im Büro gespielt hatte, im Schrank und etwas anderes konnte sich in ihr regen, etwas, dass zu der schwarzen Seide und den roten Sohlen passte, die wie ein Signal aufleuchteten. Beim Austauschen der Schuhe hegte sie eine geradezu kindliche Freude, wie beim Betrachten dieser kleinen grauen Muscheln, die man ins Wasser legt und aus denen sich dann auf wundersame Weise Papierblumen entfalten.

In einem Schaufenster musterte sie beim Vorbeigehen ihr Spiegelbild. Sie sah jünger aus, kein Zweifel. Sie fand sogar, dass sie jetzt besser aussah als mit zwanzig, das hatte auch Mike bestätigt, als er einmal ein altes Foto von ihr sah. Was Mike jetzt wohl gerade machte? In Kalifornien war es jetzt früh morgens und am Lake Tahoe der Schnee noch unberührt. So stellte sie es sich jedenfalls vor, der Schnee glitzernd im hellen Morgenlicht. Eines Tages hatte er ihr aus heiterem Himmel mitgeteilt, dass man ihn für drei Monate als Skilehrer an den Lake Tahoe versetze. Alles bei Mike kam immer aus heiterem Himmel. Rätselhaft und unberechbar. Zuvor hatte er manchmal plötzlich nach Marrokko oder Tunesien reisen müssen. Sie konnte nachvollziehen, dass ein MI5 Agent in diese Länder ging, aber zum Lake Tahoe, als Skilehrer?
Das letzte Mal, als sie auf Skype gesprochen hatten, war sie überrascht gewesen, wie entspannt er aussah – braungebrannt und selbstbewusst. Seit er in Amerika war, sah er irgendwie amerikanisch aus.
Sie vermisste die Stunden in seinem Appartement in Vauxhall. Sein Appartement, das ihm vom MI5 zur Verfügung gestellt wurde, war komfortabel und unpersönlich wie ein Hotelzimmer. Im Schlafzimmer waren die Fenster stets geschlossen und die Jalousien runtergelassen. Dort verkrochen sie sich vor dem Lärm der Stadt. Mike blieb ein flüchtiges Teilchen im Gefüge ihres Alltags. Gerne hätte sie ihn öfter getroffen, sich sein Leben übergestreift wie man in ein Hemd schlüpft, das einem nicht gehört, aber dessen Geruch einen glücklich macht. Doch Mike blieb zurückhaltend.

„Es ist besser wir treffen uns nicht zu oft“, hatte er ihr einmal erklärt, als sie im Bett lagen, „wer mit mir privat viel zusammen ist, wird beschattet.“ Er machte eine Pause. „Nur kurzfristig natürlich. Du bist nicht von Interesse.“
„Was heißt beschattet?“, fragte Julia alarmiert.
„Wenn du nicht zu Hause bist, kommen sie in deine Wohnung und platzieren Wanzen.“
„Sie brechen in meine Wohnung ein?“
Im Halbdunkel setzte er sich auf und sah sie an, als ob er ihre Frage bedauere.
„Der MI5 muss nicht einbrechen. Wir haben die Schlüssel zu jedem Haus in diesem Land.“
Er lachte weil sie ihn ungläubig anschaute.
„Wir kommen wie Geister Julia, husch, husch …“, er schnippte mit dem Finger, sprang mit einem Satz vom Bett auf und ging ins Badezimmer. Sie hörte, wie er seine Zähne putzte.
Sie erinnerte sich, wie Mike ihr einmal erzählte, dass er bei der Arbeit auf dem Bildschirm zum Spaß seine Mutter beobachtete, wie sie in ihrem Garten die Wäsche aufhängte.

Als sie an diesem Abend nach Hause kam, durchsuchte Julia ihre Wohnung. Ihr Herz klopfte, als sie die Wände ihres Badezimmers abtastete. Sie holte eine Leiter und durchsuchte die Ecken an der Decke. Sie konnte nichts finden. Eine Woche später traf sie Mike in der Nähe von Thames House, wo er arbeitete. Sie war überrascht wie gross das Gebäude war, burgähnlich und abweisend. Da drinnen sitzen sie also und beobachten ihre eigenen Leute, schauen ihnen beim Sex zu, dachte sie. Haben die nichts Besseres zu tun? Alles ist zu erwarten.

Als Julia in die Regent Street einbog, konnte sie Ian schon von weitem sehen. Er kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Er roch nach Anzug, Aftershave und U-Bahn. Er schimpfte über die Jubilee Line, die wieder mal Probleme hatte, fast wäre er zu spät gekommen. Er musterte sie von oben bis unten. „Well well, birthday girl“, sagte er zustimmend, schob sie ins nächste Taxi und fuhr mit ihr ins West End.

Ian hatte Karten für Chicago. Mitte, dritte Reihe, beste Plätze. Sie schaute auf die Bühne mit halbnackten Frauen hinter Gitterstäben, Gefangene, die irgendwie freikommen mussten. Julia dachte an Mike. Beim Song All that Jazz legte Ian seine Hand auf ihr Knie. Er meinte es gut; ein Musical zu ihrem Geburtstag. Sie streichelte seine Hand, nachlässig wie man ein gutmütiges Tier streichelt, das einem irgendwann zugelaufen ist; während die andere Hand in ihre Handtasche glitt, zu ihrem Mobiltelefon, in der Hoffnung, dass es vibrierte, eine Nachricht von Mike anzeigte. Es bewegte sich nicht.
Vor ihr auf der Bühne hüpften Frauen in Strapsen herum, lasziv und verführerisch, stellvertretend für all die Frauen, die sich jetzt an Mike heranmachten. Wahrscheinlich hatte er schon längst eine andere, überlegte sie, vielleicht kam er auch gar nicht mehr nach London zurück, sondern wurde gleich wieder woanders hingeschickt. Sie ahnte es schon seit geraumer Zeit: Es wäre besser, ihn zu vergessen.

Ian hatte gut gewählt. Das Christophers war eines ihrer Lieblingsrestaurants. Sie mochte die grossen Lampen, die wie Ufos im Raum schwebten. Die beste American Brasserie der Stadt. Er bestellte Steak. Aberdeen Angus, blutig. Sie Maryland Crab cake. Rückblickend wusste sie nicht mehr, wann das Ganze eskalierte – als der Kellner das warme Schokoladentörtchen an den Tisch brachte? Es hatte ziemlich lange gedauert, ganze zwanzig Minuten, weil frisch zubereitet und Ian sagte noch während er mit der Gabelspitze vorsichtig in das Törtchen stach
„schau das ist perfekt, innen ist die Schokolade noch flüssig“, als das Wort fiel, das den Ablauf des Abends jäh veränderte: Mike.
Er wusste von ihrer „Schwärmerei“, wie er es bezeichnete. Was sie mit Mike hatte, qualifizierte sich in seinen Augen noch nicht einmal als Affäre.
„Manchmal ist es als ob ich dir beim Erwachsenwerden zuschaue, Julia.“
Sie kannte diesen mahnenden Unterton.
„Der“ – er sagte nie seinen Namen – „hat nur seine Karriere im Kopf, deshalb ist er ja jetzt auch in Kalifornien und nicht hier bei dir, hm?“ Er schaute sie dabei an, als ob sie etwas schwer von Begriff sei. Er klopfte mit dem Finger auf den Tisch: „Aber ich bin hier, nicht wahr?“
Vielleicht war es der Ton und der insistierend klopfende Finger. Er hätte ihr auch eine Ohrfeige geben können.
Nach dem Motto: Du wirst schon noch vernünftig werden. Dummerchen.
Dabei hätte sie das noch diskutiert, wenn er gewollt hätte, aber dann schoss es aus ihm heraus, so, als wären die Wörter schon lange in ihm gewesen und vorbereitet und kamen nun endlich aus dem Dunkel seiner Gedanken mitten auf den Tisch. Wie akkurat, mit perfider Präzision abgefeuerte Geschosse.
Sie sei ja jetzt nicht mehr fünfundzwanzig sondern fünfundreissig und dass sei ja ein Alter in dem sich eine Frau langsam doch Gedanken machen müsse, über ihre Zukunft.
Beim Wort „Zukunft“ sprang Julia vom Tisch auf und steuerte ohne zu zögern dem Ausgang zu. Die Treppe hinunter sich mit einer Hand am Geländer festhaltend, an der Martinibar vorbei, die jetzt voll besetzt war mit Liebespaaren, eilte auf die Strasse hinaus, wo zu ihrer Erleichterung schon eine ganze Reihe von Taxis wartete. Dort auf dem Rücksitz, in der dunklen Geborgenheit eines Londoner Taxis, erinnerte sie sich, dass sie schon das letzte Wochenende gestritten hatten.

Dabei hatte Ian seine guten Seiten. Er war Analyst bei Lehman Brothers gewesen und zufälligerweise hatte er dort sechs Monate, bevor die Bank vor den Augen der Weltöffentlichkeit kollabierte, die Kündigung eingereicht und zu Morgan Stanley gewechselt. Intuitiv ein guter move, das musste man ihm lassen.
Es war ihm erspart geblieben, wie seine Kollegen den Tisch zu räumen und bemitleidenswert vor laufender Kamera seine Habseligkeiten im Pappkarton wegtragen zu müssen. Mitleid müsse man allerdings keines haben, „denn das sind Typen, die immer wissen, wie es weiter geht“, hatte Ian gesagt und damit zweifellos auch sich selber gemeint: Auf Ian war Verlass.

Ian hatte noch eine Kaffeetasse von Lehman Brothers, ein Gegenstand, der durch die Ereignisse plötzlich eine Bedeutung erhielt, ein Relikt wurde, und er ging damit im Wohnzimmer vor ihr auf und ab, um einen geeigneten Ort für sie zu finden. Sie hatte ihn ausgelacht: Wäre es ein Stück der Berliner Mauer – aber die Kaffeetasse einer bankrott gegangenen Investmentbank?
Doch Ian liess sich nicht beirren, murmelte etwas von „historisch“ und platzierte die Tasse schliesslich auf dem Bücherregal zwischen Ben Goldacre und seinen Pokerbüchern.

Julias Apartment war winzig, aber hatte die richtige Postleitzahl. Am äusseren Rande von Chelsea, an der Grenze zu Fulham, hatte sie das One-bedroom-Apartment gefunden und mit Hilfe ihrer Eltern kaufen können. Schliesslich hatte sie alles getan, was man von ihr verlangte. Das Studium hatte sie durchgestanden ohne genau zu wissen warum. Dafür hatte sie jetzt ein Apartment und einen guten Job.
Sie war erleichtert, als sie mit dem Lift in das oberste Stockwerk fuhr. Zweifellos würde die Immobilie im Wert steigen, eine gute Anlage für die Zukunft. Vom Küchenfenster aus konnte sie in der Ferne die Bürotürme von Canary Wharf sehen. Das Logo von Citigroup – der rote Regenschirm – schwebte leuchtend in der Nacht.
Dort wo auch Ian seine Tage verbrachte, mitten im Financial District, im ewigen Licht von London.
Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, wenn Ian aufstieg bei der Bank und zu jemandem wurde, an dessen Seite sie stolz sein konnte, würde auch er die Abende und Nächte dort verbringen. Dann, davon war Julia überzeugt, würde ein grosses Netz sich über ihr ausbreiten, eine Sicherheit, die sie einlullen und friedlich machen würde.

Julia hatte ihre Schuhe ausgezogen. Die Louboutins lagen auf dem Boden, hingeschleudert, sie wirkten verwegen und gefährlich, etwas, was sie nie sein würde. Sie holte die Zigaretten, die sie in einer Lade versteckt hielt. Julia rauchte sehr selten und dann nur heimlich, allein. Sie nahm einen tiefen Zug und ein leichter Schwindel erfasste sie.
Sie rauchte aus dem Fenster in die Nacht und einen Moment lang wünschte sie, sie könnte etwas ändern, ihre Stelle kündigen, in ein Flugzeug nach Kalifornien steigen, Mike in einem hysterischen Anfall ihre Liebe gestehen und alles verlieren. Etwas Drastisches tun, ein anderer Mensch sein, jemand der keine Angst hatte.
Die Zigarette schmeckte nicht, sie drückte sie aus nach wenigen Zügen. Sie lag im Aschenbecher wie ein gebrochenes Bein.

Sie ignorierte das Klingeln des Telefons. Einen Moment lang gab sie sich dem Machtgefühl hin, es hatte eine geradezu erotisierende Wirkung und sie hörte dem Klingeln zu wie einer Melodie, sehnsüchtig fast. Er rief jetzt abwechselnd auf dem Haustelefon und ihrem Mobiltelefon an, mit verzweifelter Hartnäckigkeit, dachte sie und lächelte. Ian lag ihr zu Füssen. Dann hörte es abrupt auf und sie wusste, es war doch nur die Stille kurz bevor er unten vor der Tür stand und Sturm läutete. Sie würde ihm öffnen, ohne zu zögern. Im Schlafzimmer zog sie die Vorhänge zu und streifte ihre Kleider ab.
Sie würde ihn im Dunkeln ins Schlafzimmer führen und sie würden Sex haben, befreiend, unkompliziert und ohne Worte. Es würde heilsam auf sie wirken, und jedes Gespräch und jeden Streit auslöschen und erübrigen.
Dabei würde sie an Mike denken, jede Sekunde in der er in sie eindrang, mit fest verschlossenen Augen. Die Versöhnung würde gleichzeitig die Rache sein. So wie es zweifellos auch in Zukunft immer sein würde, in den gemeinsamen Ehejahren, die vor ihnen lagen. Dabei würde sie kein schlechtes Gewissen hegen, vielleicht einen Hauch von Mitleid, mit dem sie dann einschlief, während ihr Kopf auf seiner Brust ruhte, die Hand in der Nähe seines Herzens.

Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren. Ihr erster Roman «Das Blütenstaubzimmer» (FVA 1997) wurde in 27 Sprachen übersetzt und zum weltweiten Bestseller. In der Frankfurter Verlagsanstalt sind ihre Romane «Der Ruf des Muschelhorns» (2000) und «Das Portrait» (2007), sowie ihre Erzählungen «Spätestens morgen» (FVA 2013) erschienen. Zoë Jenny lebt heute in Breitenfurt bei Wien.

Claire Plassard & Florian Vetsch «Steinwürfe ins Lichtaug»

Steinwürfe ins Lichtaug (Moloko Print, Pretzien 2014)

Die Schlange

Die Schlange machte Eurydike den Garaus
Als sie barfuss zur Kasse gebeten wurde
Auch da war es keine Frage des Alters
Eurydike musste hinab, zweimal

& Eva war offen für die Einflüsterungen der Klugen
Verlangte nach dem Apfel der Erkenntnis, viel
Intelligenter als Adam, der erst überzeugt
Werden musste, sie – geschaffen aus dem edlen
Rippenstoff, nicht aus Lehm, Torf & Dreck
Eva – die wahre Krone der Schöpfung

Den Rumpf auf der Erde, chthonisch durch & durch
Den Kopf leicht erhoben, züngelnd
In Höhlen & im Schatten mächtiger Steine, am Wegrand
Wohnend, wartet sie auf den Feind, die Beute

FV, 28. Januar 2012

Engadiner Tage

Eva – viel intelligenter als Adam,
Evas – deren zwei sind mir bekannt,
Die eine Feministin, die andere liebt
Lieber Rippenstoff statt Lehmfiguren,
Ein reiner Zufall?

Sie, dachte auch Annemarie,
Annemarie, die dort oben
Auf unserem ureigensten Boden
Stand, wo ich jetzt steh‘,
Annemarie, die ihren Blick
Zur Margna hin schweifen liess,
Welche majestätisch erhaben
Am Rande des Silsersees
Thront, ja sie – die wahre
Krone der Schöpfung

Wundert es da, dass ich
Aus Demut
Weinen muss, jedes Mal,
Wenn ich zu ihr hin, wenn
Ich von ihr weg fahre,
Über die Höhen des Julierpasses –

CP, 13. Februar 2012

Ja, dieses Hochtal
Brachte viele aus der Fassung

Offen
Nur nach oben
Nicht nach unten
Sils – als gäbe es
Keine Niederungen

Dieses Hochtal spricht
Mir aus der Seele & es bleibt

Dabei ganz stumm
Offen
Nach oben nur

FV, 14. Februar 2012

Kriegsjournalismus

für Marie Colvin & die Ihrigen

Die Augenzeugin
An der Front
Trägt eine schwarze
Piratenklappe
Hat von zwei Lidern
Nur noch eines
Offen
& doch sieht sie
Besser
Als die meisten Anderen

Sieht das, was
Nicht gesehen
Nicht gehört
Vielleicht gelesen
Werden will

Es bombt & schiesst
In Schutt & Blut
Im Morgenblatt
In sicherer Ferne

Als sie noch einmal
Sehen wollte
Stellte sie eine Rakete
Stumm

Schaut der Rest
Jetzt genauer hin
Vernimmt der Westen
Nun die Schreie –

CP, 5. März 2012

Ein dünner Faden hält alles zusammen (Moloko Print, Pretzien 2019)

Immer kurz innehalten

Den Mantel zuknöpfen
Aus Respekt vor der Kälte
Blätter & Kieselsteine wechseln sich ab
Unter meinen Sohlen
Gehen, Nachdenken, Katharsis

Über den Friedhof Richtung Sphinxe & Krematorium
Immer kurz innehalten.
Lebensfresser
Finden Gefallen an überbordenden Zukunftsplänen
Tragen dick auf mit der Namensgebung fiktiver Drillingstöchter
Duales Lachgebrüll in warmen Kissen
Wie wär’s mit West Virginia, South Carolina
& Jutta
Bekannte & Irre haben’s schon ärger getrieben
Irgendein Beamter, der sich mokiert
Bestimmt durchgewinkt
Mass halten ist eine Kunst
Das Laster der Glücklichen – die Masslosigkeit
Senke den Blick!
You forget so easily!
Unter Endorphin überspult das Gehirn Schmerzensbilder
Die zahlreich Verworrenen in der Diashow
Aus Eigenschutz vernebelt
Das Fallbeil schwebt permanent über Kopf & Kragen
Ein dünner Faden hält alles zusammen –

CP, 31. Oktober 2017

Am Tag der Toten

Unser Skelett Charlie
– Chaplin, Brown, Hebdo? –
Charlie eben auf dem Balkon
Zu Halloween installiert

Sein Gejachter & Geschlenker
Durchgeisterte die Nacht

Heute zwei Kerzen
Auf dem Grab meiner Eltern
Zu Allerheiligen angezündet –
Sie brennen noch jetzt

Die Seelenlichter –
Ein dünner Faden hält alles zusammen

FV, 1. November 2017

Paix

Catherine Ribeiro + Alpes

Die Schamanin schweigt
Instrumentale Minuten
Bevor sie ansetzt
Um durch Gänge
Von Gehörgebirgen
Zu rasen

Frieden den kranken Seelen
Sprechend

Wir werden ruhig schlafen
Bei starkem Luftzug
Den Seelenlichtern
Sei jeder Tag
Tag der offenen Tür

CP, 11. November 2017

Der schwarze Schwan 

für die Musik von Bert Jansch

Der schwarze Schwan steigt
Am Nordhimmel bis
Im November auf
Kreuzt den Horizont
Einsam. Er verblasst

Am Zelt, widerklingt
Im winterlichen
Raureif, wenn er
Den schwarzen Ozean
Durchgleitet

Eisblumen keltern
Die Sommertage
Duftbrüche zerstreuen sie
Raureif schmilzt & versickert
In schwarzer Erde

FV, 18. November 2017

Claire Plassard ist 1990 geboren, Florian Vetsch 30 Jahre davor. Ihr erstes Aufeinandertreffen kam im Gymnasium in St.Gallen zustande, wo Plassard in ihrem Abschlussjahr das Ergänzungsfach Philosophie bei Vetsch belegte. Aus dieser Begegnung entwickelte sich rasch, jenseits eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses, eine produktive Freundschaft, die ohne Rücksicht auf Kategorien wie Geschlecht und Alter aufblühte. Florian Vetsch, der bereits in Zusammenarbeit mit dem Beat-Imam Hadayatullah Hübsch (1946-2011) den Gedichtband Round & Round & Round (Songdog, Wien 2011) geschrieben hatte, jagte im Oktober 2011 per E-Mail einen ersten poetischen Federball in Claire Plassards Richtung; die junge Dichterin, die gerade mit dem Luzerner Lyriker Pablo Haller die Gedichtzyklen blut & blumen / verdaute zukunft (Privatdruck, Luzern 2012) abgeschlossen hatte, erwiderte den Ballanschlag noch im selben Monat. Regeln gab es für das Zusammenspiel der beiden keine. Weder stand eine Deadline fest, noch gab es thematische oder formale Einschränkungen. Die einzige Rahmenbedingung war, dass in chronologischer Folge ein Gedicht auf das andere antworten sollte usw. usf. Die Dynamik dieses Austauschs ergab nach zwei Jahren die 64 Gedichte, welche die Sammlung Steinwürfe ins Lichtaug (Moloko Print, Pretzien 2014) präsentiert, mit Zeichnungen von Harald Häuser und einem Nachwort von Felix Philipp Ingold; fünf Jahre später, im Frühjahr 2019, legten die beiden, mit einem Auftakt von Katharina Franck und Zeichnungen wiederum von Harald Häuser, 70 Gedichte unter dem Titel Ein dünner Faden hält alles zusammen (Moloko Print, Pretzien 2019) nach.

Claire Plassard, *1990, lebt und arbeitet in Zürich. Studium der Philosophie, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der Gender Studies in Zürich und Berlin. Sie schreibt Lyrik, Essays, Rezensionen und Reportagen.

Florian Vetsch, *1960, lebt und arbeitet in St. Gallen. Studium der Philosophie, der Germanistik sowie der Literaturkritik in Zürich. Er veröffentlichte Poesie, Tagebücher, Essays, Anthologien sowie Übersetzungen von Paul Bowles, Ira Cohen, Jan Heller Levi, Mohammed Mrabet u.a.m.

«Steinwürfe ins Lichtaug» auf planetlyrik.de mit Nachwort von Felix Philipp Ingold

Beitragsfoto © Sabrina Peterer

Jens Steiner «Das Gleichgewicht der Welt», Plattform Gegenzauber #SchweizerBuchpreis19/6

Jens Steiner, Buchpreisträger 2013, stellt der Plattform Gegenzauber seine Kurzgeschichte «Das Gleichgewicht der Welt» zur Verfügung. Besuchen Sie die Webseite gegenzauber.literaturblatt.ch, auf der neben Jens Steiner viele namhafte und noch unbekannte Namen mit eigenen Texten auf sich aufmerksam machen sollen.

Eine Ruhe ist das hier. Während vor seinen Füssen scharfer Dampf aufsteigt, grient Stampfermann zufrieden in Richtung Sonne. Herrlich, diese Ruhe! Stampfermann macht den Hosenschlitz zu und dreht sich um. Er weiss, bald ist’s aus mit der Idylle. Bald kommt der Bürokrat. Und wenn der Bürokrat kommt, macht man am besten möglichst viel Lärm. Also los!
Stampfermann tritt an seine Maschine, reisst das Anwerfseil. Der Dieselstampfer wackelt, wie eine junge Geiss, die Kapriolen macht, wackelt schneller, bis er zu schweben beginnt und in massloser Wut die Erde festtrampelt. Was für ein Berserker! Exakt arbeiten kann man trotzdem damit. Peilgenau den Schotter festgeklopft, und immer schön in die Ecken rein. Auch einer mit dicken Händen und einem Vierkantschädel kann das. Man ist schliesslich Profi.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, es bleibt drückend. Der Schweiss läuft Stampfermann auf den zitternden Armen zu Tröpfchen zusammen, die sich mit dem Staub zu einem schlickigen Film vermischen. Auch die Kollegen haben zu kämpfen. Schottergabelmann nimmt einen Schluck aus der Zweiliterflasche, Schaufelmann reibt sich mit der schrundigen Faust die Augen. Es riecht nach Coca-Cola und feuchtem Frischkies.
Von oben herab sieht das alles ganz lustig aus. Das Bild einer Schar knuffiger Männchen, die sich in kleinen Schritten hin- und herbewegen. Ja, wer oben ist, kommt sich vor wie ein Puppenspieler. Ein Zupfen an den Fäden und die Männchen unten zappeln und hopsen. Zupf und hops, zupf und hops. Kindisch, aber trotzdem lustig. Für den, der oben ist. Und oben ist immer einer.
Wer unten ist, versucht ruhig zu bleiben. Mehr liegt nicht drin. Schon gar nicht, wenn der Bürokrat kommt, mit seinen Papieren herumwedelt und einem die Ohren volljammert. Immer ist alles falsch. Und zu langsam. Und überhaupt. Trotzdem besser ruhig bleiben, denkt Stampfermann.
Als der titangraue Kadjar heranbraust, macht Stampfermann weiter, als ob er nichts gesehen hätte. Führt seine Höllenmaschine säuberlich in die Ecken rein, so, wie sich’s gehört. Ehrensache. Der Bürokrat steigt aus dem Wagen, schaut sich die herumstehenden Geräte an, Bitumenkocher, Rüttelplatte, Bodenfräse, registriert, was erledigt wurde seit gestern und was nicht. Und jeder weiss sofort Bescheid: Der Bürokrat ist sauer.
»Herkommen, Leute! Aber dalli!« Stampfermann hört es schon, selbstverständlich hört er es, auch im Lärm seiner Maschine hört er es, aber er will jetzt nicht. Schottergabelmann pfeift, Schaufelmann winkt ihm in den Tunnelblick hinein, aber Stampfermann will ums Verrecken nicht. Er und seine Dieselgeiss klopfen jetzt diesen Schotter fest, dafür sind sie da. Schaufelmann linst zum Bürokraten und zuckt mit den Schultern. Dieser dröhnt: »Herrgottsakrament! Abstellen die Maschine, aber hantli!« Stampfermann würgt seine Geiss ab.
Vögel pfeifen, die Sonne bummert. Hinter der Abschrankung wie immer der Alte mit Zahnstocher im Gesicht. Tagaus, tagein steht er da und schaut ihnen bei der Arbeit zu. Noch weiter hinten steht ein kleiner Rotzbub. Juniordasteher. Zahnstocheraspirant. Stampfermann fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Ihr müsst mir gar nichts erzählen«, fängt der Bürolist an und kramt in seiner Hemdtasche, »schon klar, dass die von der Stadt gern ein bisschen übertreiben. Aber!« Er zündet sich eine Zigarette an. »Aber glaubt ihr wirklich, dass ich dafür da bin, die Sauerei jeden Tag aufzuräumen, glaubt ihr das? Immer wenn’s ein Problem mit der Stadt gibt, kommt der Schöberli und macht Ordnung, hä?« Er zieht an der Zigarette. Seine Wangen werden zu länglichen Tälern. »Wenn ihr dieser Meinung seid, sagt es mir bitte und zwar jetzt auf der Stelle!« Während er spricht, quillt Rauch aus seinen Nasenlöchern. »Irgendwann«, sagt er und schüttelt den Kopf, »irgendwann.«
Hinten bei der Abschrankung noch immer der Alte. Macht keinen Wank. Nur der Zahnstocher im Gesicht. Wippt und wirbelt. Und der Rotzbub hinter ihm seilt in aller Seelenruhe schaumige Spucke auf den Boden ab.
Stampfermann prüft zum Zeitvertrieb die Schotterdichte vor seinen Füssen. Man muss ja schauen, dass man das, was jetzt kommt, einigermassen unbeschadet übersteht. Mit der Zeit hat jeder seine Tricks. Aber heute sieht er trotzdem ständig den Bürokraten im Augenwinkel. Als ob der Augenwinkel mit dem Bürokraten zusammenarbeiten würde. Egal, wie er auf den Schotter schaut, sein Augenwinkel reicht immer bis zum Bürokraten hin. Stampfermann weiss genau, der Bürokrat war immer ein Bürokrat. Trotzdem tut der Bürokrat gern so, als ob er irgendwann in seinem Leben kein Bürokrat gewesen wäre, und flucht wie ein Dreckshund im Strassenbau. Er war aber nie ein Dreckshund. Keine Sekunde seines Lebens. Stampfermann weiss das sehr wohl.
»Was glaubt ihr eigentlich, was ich mir tagaus, tagein den Arsch aufreisse wegen denen von der Stadt«, fährt der Bürokrat fort. »Und jetzt, was sehe ich hier? Da kommt mindestens noch ein Tag Verspätung dazu, ich weiss es genau. Dabei haben wir das alles Punkt für Punkt angeschaut zusammen, oder etwa nicht? Sagt’s mir, wenn ich einen Blödsinn erzähle!«
Weit oben ertönt ein einsames Räuspern. Alle heben den Kopf, auch der Bürokrat, und schauen zu den Balkons hoch. Keine Menschenseele. Trotzdem, denkt Stampfermann. Man sieht immer weniger Leute als tatsächlich da sind. Darum hin und wieder ein Husten aus dem Nichts. Manchmal auch ein Kanarienvogel oder eine Schlagersendung. Da und dort ist das Fenster permanent offen, Geräusche dringen nach draussen, aber wer da oben ist und was der da macht und so, das weiss der unten nicht. Immer ist weiter oben einer und zupft an den Fäden und kichert sich krumm, denkt Stampfermann. Und plötzlich spuckt man dem Bürokraten einen dicken Grünen vor die Füsse und fragt sich, war das jetzt ich oder der da oben am Faden? Eine Unfreiheit ist das, eine verdammte Unfreiheit.
Der Bürokrat hustet, die Zigarette landet am Aushubhaufen und qualmt dort weiter. »Also nochmal. Diese ganze Hälfte des Platzes, Männer, hört ihr mir zu? Die ganze Hälfte muss tiefergelegt werden, wegen der Drainage. Wasser muss abfliessen, und zwar in die Rinnen, wo ihr gelegt habt, klar? Geht das in euren Schädel rein?«
Stampfermann umkrallt in der Hosentasche das Zigarettenpäckchen. Er würde sich gerne eine anzünden, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Dann hört er erneut ein Räuspern. Er blickt hoch. Da, auf dem Balkon. Ein Mann in einem lindgrünen Bademantel, in der Hand hält er ein Glas Milch. Aus seiner offenen Balkontür dringt Trällermusik, eine Katze streckt den Kopf durch das Gitter des Geländers. Ist er es etwa? Ist er derjenige, der die Fäden in der Hand hält und sich Kringel in den Bauch lacht? Stampfermann presst die Lippen zusammen.
»He! Zuhören! Bei euch muss man sich ja schon fragen. Was da im Oberstübchen läuft den ganzen Tag. Habt ihr’s begriffen? Schräge Ebene, wie in der Schule, aber ihr habt ja nicht aufgepasst damals, sonst wärt ihr jetzt nicht hier. Wasser muss abfliessen können. Alles in die gleiche Richtung. Nämlich hierhin. Ich sag’s gern noch einmal, wenn ihr wollt, aber morgen sag ich’s nicht mehr.«
Klack-klack. Das Geräusch von Absätzen. Aber wo? Konzentrieren, denkt Stampfermann, konzentrieren. Drainage. Schräge Ebene. Abfliessen. Doch das Klack-klack der Absätze wird lauter, konzentrieren ist hier unmöglich. Stampfermann, Schottergabelmann und Schaufelmann wenden den Kopf. Da, an der Ecke, da kommt sie. Sonnenbrille in der Frisur. Basttasche. Blumenkleid. In den Hüften ein Wiegen, ein perfekt getaktetes Schlingern. Stampfermann scharrt mit den Füssen, eine Zigarette raucht verloren am Aushubhaufen, oben schlägt eine Balkontür zu. Und auf der anderen Strassenseite kommt das Schlingern näher und näher und die Absätze machen klack-klack, klack-klack, klack-klack. Stampfermann würde jetzt gerne ein Anwerfseil reissen. Eine Wut hat ihn gepackt, eine Wildheit, er will eine Schaufel werfen, einen der anderen Dreckshunde würgen, aber er bleibt still. Diese Frau. Ihr Blick, das Blumenkleid, das Schlingern. Sie biegt um die nächste Ecke und verschwindet. Das Klacken wird leiser. Verfluchte Welt, denkt Stampfermann und drückt das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche zusammen.
Der Bürokrat hustet erneut und verwirft die Hände. »Ja, ihr könnt schon schauen, ihr. Und was mache ich unterdessen?« Wieder hustet er, sein Gesicht läuft rot an. »Ich sag’s euch: Rechnen! Wisst ihr eigentlich, was das Ganze…«, nochmals das Husten, »…und wieviel Tage wir wieder«, und nochmals, »dabei kalkuliere ich bereits jetzt am Rand des Abgrunds, aber was wisst ihr schon. Perlen vor die Säue!« Das Husten will nicht aufhören, und die Wut darüber treibt dem Bürokraten noch mehr Röte ins Gesicht. Da erblickt er den Alten hinter der Abschrankung. »Hat der Greis da vorne etwas gesagt? Der hat doch etwas gesagt. He, Sie! Ja, Sie! Abhauen! Weg hier! Für Unbefugte verboten. Ja, auch ausserhalb der Abschrankung, hopp jetzt. Können wir nicht brauchen hier, solche wie Sie!«
Der Alte dreht langsam ab und zottelt davon. Ein Geräusch ertönt aus seiner Richtung, ein kurzes Schluchzen, abgewürgtes Wimmern, es pflanzt sich fort, steigt zwischen den Hausmauern hoch und verschwindet im blassen Himmel. Der Rotzbub steht noch immer da. Als der Bürokrat ihn mustert, zuckt er zusammen, beginnt in der Luft zu wabern, zu flimmern.
»Gaffer!«, bellt der Bürolist und spuckt. Die Spucke landet auf Schaufelmanns Hose. Schaufelmann hat es nicht gemerkt, aber Stampfermann sieht’s. Im Augenwinkel. Dieser verdammte Augenwinkel zeigt alles. Der Bürokrat geht zu seinem Kadjar, öffnet die Tür. »Morgen früh kommt der Teer«, ruft er. »Macht von mir aus, was ihr wollt, aber morgen machen wir den Deckel zu und fertig.« Der Bürokrat fährt los.
Oben die Sonne, hier unten Vogelpfeifen und ein Kläffhund. Drainage, denkt Stampfermann und quetscht noch immer das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche. Alles fliesst irgendwo zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und dann, ja, dann! Wer weiss schon, was dann passiert.
Er dreht sich um und geht zu seinem Dieselstampfer. Als die Maschine losrabaukt, erscheint das Bild des Alten in seinem Augenwinkel. Beim Unterstand auf der anderen Strassenseite steht er, der schrullige Gaffgreis, im Mund der ewige Zahnstocher. Stampfermann lässt ihn im Augenwinkel, schön am Rand des Gesichtsfelds. Er sieht, der Alte ist nicht allein im Unterstand. Etwas Störrisches, Verstocktes klemmt in seiner Hand. Es reisst, das Störrisch-Verstockte, es schüttelt und windet sich, aber die Hand des Alten lässt es nicht los. Und der Zahnstocher in seinem Mund wippt und wirbelt. Dann holt die andere Hand des Alten aus und schlägt zu, haut zünftig drauf aufs Störrisch-Verstockte, dass es knallt.
Alles fliesst zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und irgendwann passiert’s, denkt Stampfermann. Irgendwann knallt’s irgendwo. Feste haut der Alte beim Unterstand, feste versohlt er dem Rotzbuben den Hintern, und der Rotzbub weiss ganz genau, dass er am Ende der Kette steht und es keinen anderen gibt, der den Hintern versohlt bekommen kann, die Schläge auf seinen Hintern ergeben sich ganz natürlich aus dem Ganzen, die Ordnung besteht darin, dass am Schluss die Schläge auf seinem Hintern landen und das Gleichgewicht der Welt wiederherstellen. Irgendwann wird er nicht mehr der kleine Lümmel sein und am Ende der Kette stehen, aber er weiss, jetzt ist er es, und nichts lässt sich dagegen tun.
Stampfermann stampft und schaut sich verstohlen um. Keiner achtet darauf, wie der Alte die Ordnung herstellt. Wie das klatscht, ha! Das Gleichgewicht ist noch nicht erreicht, feste drauf auf diesen Lümmelhintern, weiter feste drauf!
Dann fällt aus heiterem Himmel ein leeres Milchglas hinab und zerschellt auf dem Schotter. Stampfermann schaut hoch, sieht leere Balkons, halb offene Fenster. Oben hat man die Fäden losgelassen, denkt er. Oben hat man die Zügel fahren lassen! Und prompt lässt er selber seine Maschine los. Sie hopst wütend auf ihrem einen Fuss davon, verlässt das kiesige Rechteck, wackelt wie ein besoffener Tanzbär über ein Rasenstück, durch eine Hecke hindurch und weg ist sie.
Stampfermann lächelt. Dann setzt er sich auf die Bordsteinkante und klaubt die letzte Zigarette aus dem zerfetzten Päckchen. Schaufelmann knabbert Sonnenblumenkerne, Schottergabelmann trinkt aus der Zweiliterflasche. Das Gleichgewicht der Welt, denkt Stampfermann und zündet sich eine Zerdrückte an. Hier ist es wieder. Man ist und bleibt ein Dreckshund, aber wenigstens ist das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt. Von dort, wohin seine wilde Geiss entschwunden ist, ertönen jetzt ein Rumpeln, ein paar Rufe und ein bisschen Geschrei. Zigarette anzünden, erster tiefer Zug. Herrlich!
Stampfermann blickt ein letztes Mal zum Unterstand. Der Rotzbub ist weg. Der Alte streicht sich die Haare glatt, furzt und zieht einen neuen Zahnstocher aus der Hemdtasche. Stampfermann nickt ihm zu. Der Alte schaut zurück, ohne die Miene zu verziehen. Und der Zahnstocher beginnt zu wippen und zu wirbeln.

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis Das zweite Buch der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sein letzter Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» erschien bei Arche.

Interview mit Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Margret Kreidl «Hausübungen», Plattform Gegenzauber

Hausübung

Ein Bild ist kein Vergleich. Schreib diesen Satz
auf den Küchentisch. Dann stell eine rote Tulpe
in eine langhalsige Vase. So wird das Licht
nach oben brennen.

Hausübung

Ein Fenster ist keine Tür. Denk über diesen Satz
vor dem Einschlafen nach. Wenn der Wecker läutet,
steh auf. So wirst du vom Hundertsten ins Blaue
kommen.

Hausübung

Ein Stuhl ist kein Auto. Mach aus diesem Satz
ein Gedicht mit vierzehn Zeilen. Lern es auswendig.
So wirst du immer einen Parkplatz finden.

Hausübung

Ein Tisch ist kein Fisch. Sag diesen Satz
im Stehen. Dann wasch dir die Hände.
So wirst du begreifen, was der Fall ist.

Hausübung

Eine Melone ist keine Melone. Wiederhole diesen Satz
hundertmal. Dann trink langsam ein Glas Leitungswasser.
So wirst du die Kerne vergessen.

Hausübung

Rotwein ist kein Orangensaft. Übersetze diesen Satz
ins Französische. Dann putz dir die Zähne. So wirst du
verstehen, was eine Flasche ist.

Hausübung

Eine Frau ist kein Mann. Schau diesen Satz
so lange an, bis du müde wirst. Dann leg dich
ins Bett. So wirst du wieder zum Kind.

(Margret Kreidl, Hausübungen, aus: Jahrbuch der Lyrik 2019, Hg. von Christoph Buchwald und Mirko Bonné, Schöffling Verlag, 2019)

Margret Kreidl performt am 30. August zusammen mit dem Musikduo Stories Texte im Kultbau St. Gallen. Der Abend beginnt um 20 Uhr. Mehr Infos unter kultbau.org.

Margret Kreidl lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Veröffentlichungen, zuletzt: «Einfache Erklärung. Alphabet der Träume», Edition Korrespondenzen Wien 2014. Theateraufführungen, zuletzt: gemeinsam mit Marlène Saldana und Jonathan Drillet: «Grinshorn et Wespenmaler. drames patriotiques», hTh Montpellier 2016. Im Frühjahr 2017 erschien in der Edition Korrespondenzen, Wien: «Zitat, Zikade. Zu den Sätzen» und 2018 beim Berger Verlag «Hier schläft das Tier mit Zöpfen».

SRF: Raoul Schrott erklärt Margret Kreidl

„Hier schläft das Tier mit Zöpfen“

Margret Kreidl: Zettel, Zitat,Ding – Gesellschaft im Kasten

Daniel Sonder «Liebe Sarah», Plattform Gegenzauber

Briefe haben die lästige Eigenart, einem erste Sätze abzuverlangen. Die beiden folgenden Varianten habe ich erwogen und dann verworfen:

(1) Wie du bereits bemerkt haben dürftest, ist ein Mail von mir zu dir gelangt. Ich habe dir geschrieben und soweit wir unseren Wahrnehmungen trauen können, bist du jetzt gerade dabei, es zu lesen.
(2) Noch ist nichts, zumindest, wenn davon abgesehen wird, dass «noch ist nichts» streng genommen nicht nichts ist. Inzwischen jedoch ist auf jeden Fall etwas.

Der Entscheid ist schließlich zugunsten dessen gefallen, was du bisher eben gelesen hast. Zu beachten ist, dass es immerhin um die ersten Sätze eines Briefes geht, der seinerseits ein erster ist von mir an dich. Sätze am Anfang bergen ein geradezu beängstigendes Zerstörungspotenzial. Schlagartig lassen sie Optionsräume von freiheitsrauschender Weite kollabieren zu erbärmlich engen Verschlägen, die auch noch den zaghaftesten Flügelschlag verwehren. Nur sind sie, sofern überhaupt etwas gesagt werden soll, kaum zu vermeiden, die ersten Sätze. Denn – müßig darauf hinzuweisen – Sätze über erste Sätze sind, so sie denn am Anfang stehen, auch erste Sätze.

Dir wird nicht entgehen, dass ich mich ein bisschen winde, bemüht bin, möglichst keine Gestalt anzunehmen, in der Gegend herumschillere und gleichsam zur Gasförmigkeit tendiere. Ich bitte um Nachsicht, da ich ja absolut null Ahnung habe, wie du diesem Brief, der nun real geworden ist, gegenübergestanden hast, solange er bloß als unscheinbarer Keimling im Raume der Möglichkeiten vor sich hindämmerte, d. h. während der Zeitspanne zwischen der Bekanntgabe deiner Mailadresse und jetzt. Restlos offen für mich die Frage, ob du meine Aussage, ich würde dir schreiben, gleich wieder vergessen hast oder seither mit hoher Frequenz deine Mailbox einsiehst, hoffend oder fürchtend, da könnte was von mir drin liegen, oder ob dir die beiden Alternativen gleichwertig sind, du aber neugierig bist, welche eintreten würde, oder ob nicht mal das oder einfach gar nichts. 
Aber genug nun des Herumdümpelns in seichten Gewässern, hinaus aufs offene Meer und hinabgehorcht in die dunklen Tiefen (Schaumkronen an der Oberfläche werden ignoriert, mögen sie auch Inspiration versprechen).

Folgendem Tagtraum habe ich mich neulich hingegeben: zu zweit loszufahren mit dem Auto Richtung Sizilien, Gibraltar, egal, wohin auch immer. Dabei kein Gedanke an die gängigen Zwecke einer solchen Reise. Weder ginge es darum, sich durch Kunst und Kultur beeindrucken zu lassen, noch um das Erleben kulinarischer Höhenflüge und ebenso wenig auch um Faulenzereien am Strand. 
Nein, Ziel wäre das Unterwegssein, das Niemandsland der Autobahnen. Von einer Kapsel umfangen, gleichsam in uteraler Geborgenheit durch die Welt zu gleiten in dieser drin und doch ihrem Zugriff entzogen. Auf sich selbst zurückgeworfen und darin miteinander verbunden zu sein. Sich dann Geschichten zu erzählen, erlebte und erfundene, Debatten zu führen, es eskalieren zu lassen, zu streiten, Einblicke zu gewähren und Ausblicke zu entwerfen, verlegen zu werden, zu lügen und sich dazu zu bekennen, sich zu fürchten, sich geborgen zu fühlen, sich zu berühren (gutesittenkonform – oder auch nicht), zu lachen und zu weinen, Rätsel zu lösen, zu tratschen, zu dösen, zu schweigen, dem anderen vorzulesen, aufschäumendes Cola zum Mund zu führen, den Vorder- oder Hintermann Arschloch zu nennen, Kaffee reinzukippen in verlassenen oder belebten Raststätten und gleich weiterzuziehen, zu fragen, was das alles überhaupt soll etc. – darum ginge es und das ausgedehnt und sich erstreckend, eindringlich und verwandelnd.

Was ist das? Eine Fantasterei, kultiviert und zur Blüte gebracht neulich allein im Auto auf einer langen Fahrt nach Hause. Der Urheber: ein verhinderter Romantiker, dem bisweilen ein Mutschub beschieden ist, der ihn sein Haupt erheben lässt, hinaus über die Schatten werfenden Mauern des Zynismus und der Melancholie. Ein flüchtiges Gebilde zunächst, umlauert von Zweifeln, in labilem Gleichgewicht, am Rande der Auflösung. Jetzt aber zu Papier gebracht, von Sarah gelesen und damit nun auch in ihrem Bewusstsein.
Beizufügen bleibt, dass ich beim Personal dieser Reise an dich und mich gedacht habe.

Zurück in unserer Stadt (ich unterstelle mal, dass es so weit kommen würde) ginge es dann so weiter: Es ist Nacht, schon spät, kaum jemand ist mehr unterwegs. Wir befinden uns auf der Brücke, dort, wo der See in den Fluss übergeht, und haben heiße Marroni dabei. Kalt ist es und der Wind lässt uns die Schultern hochziehen (auch wenn jetzt alles von Frühling labert). Kauend stehen wir ans Geländer gelehnt, schmeißen die Marronischalen in die träge Strömung unter uns und sinnieren darüber, wie weit sie wohl kommen würden, bevor sie der Zersetzung anheimfallen. Dann ein leises Lächeln auf dem Gesicht von einem von uns beiden, das, vom anderen wahrgenommen, auch diesen erheitert, und Augenblicke später, tief in der Nacht, mitten zwischen den Ufern, zwei dunkle Gestalten, durchgeschüttelt von tief entspringenden, machtvollen Eruptionen der Ausgelassenheit – und es war gut, dort auf der Brücke.

Eins wissen wir nun mit Bestimmtheit: Diese Geschichte wird sich so nicht zutragen, aber Unmengen besserer haben noch jede Chance, erlebt statt erzählt zu werden (ich glaube, dass, wenn man sich etwas nur genügend intensiv ausmalt, es sehr unwahrscheinlich wird, dass es so auch tatsächlich eintritt. Es ist, als hätte es durch seine starke mentale Präsenz seinen Seinsanspruch bereits erschöpfend eingelöst. Also sollte man sich hüten, Wunscherfüllungen innerlich vorwegzunehmen – aber wie das?).

Magst du noch, Sarah? Du musst! Denn jetzt kommt noch etwas ganz Wichtiges: Damals im Anschluss an den Film, du weißt schon, habe ich dich wissen lassen, dass ich mir bisweilen unsicher wäre darin, ob deinen Nöten eher sachlich-analytisch, nach Lösungen suchend zu begegnen sei oder ob es nicht viel passender wäre, dich einfach mal in den Arm zu nehmen. Du hast dann entgegnet, dass du umarmt augenblicklich haltlos zu weinen beginnen würdest. Seither, Sarah, möchte ich dich in den Arm nehmen, damit du weinst, so lange und heftig, wie es deiner Traurigkeit gemäß ist. Ich würde dich festhalten, bis dass du ausgeweint hast und nichts mehr zu weinen übrigbliebe. Und dann würden wir ein üppiges Mahl zu uns nehmen und Wein trinken und du würdest mir begeistert von irgendwelchen schicken, zum Kaufe reizenden Schuhen erzählen.

So, jetzt hast du was zu hören gekriegt und ich würde allerhand geben für ein Guckloch in deinem Kopfe mit meinem Auge ganz nahe dran. Denn was weiß ich schon? Gerade mal so viel, dass kein Zweifel besteht, dass ich noch mehr wissen möchte.

Mit liebem Gruss W.

Daniel Sonder, 1952 geboren in Chur, studierte Psychologie und Philosophie in Zürich. Im Anschluss war er viele Jahre in der Softwareentwicklung tätig. Das Schreiben, mehr oder weniger im Verborgenen, beschäftigt ihn schon lange. Mit dem Roman «Der Schönschreiber» tritt er nun erstmals an die Öffentlichkeit. Daniel Sonder ist Vater von drei erwachsenen Töchtern und lebt in Meilen am Zürichsee.

Interview mit Daniel Sonder auf literaturblatt.ch von Urs Heinz Aerni

Andreas Neeser «Mücken», Plattform Gegenzauber

Manchmal bin ich ausser Haus. Mitten am Tag, eine halbe Stunde, öfter abends, wenn die Mücken tanzen im Schwarm. Ich gönne mir diese kleinen Abwesenheiten, ich geniesse sie mittlerweile ohne schlechtes Gewissen. Ein kurzes Austreten, eine Art Ausgang. Wenn mir danach ist, trete ich aus mir heraus, gehe ein paar Schritte, flusswärts, bis mir leichter wird, oder hinauf zum Waldrand, immer den Mücken nach. Die Nachbarn grüssen mich, als kennten sie mich, und ich grüsse zurück, obwohl sie keinen Namen haben. Früher stand es mir auf der Stirn, von weitem sichtbar, ich ging wie ein Aus-, wie ein Ausserhäusiger, auffallend licht. Längst habe ich gelernt, mich so zu verlassen, dass keinem von uns beiden etwas anzumerken ist, nicht dem Hausherr, nicht dem Spaziergänger. Wir sind absolut unverdächtig, und es stimmt, wir haben eben noch Kaffee getrunken, Wäsche aufgehängt, die Nägel geschnitten, gleich werden wir einkaufen, guten Tag, Frau Martello – und Ihnen? Die Gewissheit, auch dann als der zu gelten, der ich war, wenn ich es nicht mehr bin, macht es mir leicht, aus dem Haus zu gehen, zur Brombeerhecke, über die klingende Kuhweide, ins sumpfige, sirrende Gehölz, wo die Schwärme tanzen bis spät in den Abend, bis weit in den Herbst. Trotzdem behalte ich es für mich, wenn ich so gehe, aus Vorsicht, aus einer nicht zu verlernenden Ängstlichkeit heraus, vielleicht.

Und dann tanzen sie, am Fluss, am Waldrand, zu Hunderten. Etwas grundloses Leichtes lässt sie schweben, lose gewirkte, von innerster Absichtslosigkeit gehaltene Lebenspunkte, dunkles, taumelndes Textil. So tanzen sie, so tanzen sie mir vor. Mehr ist da nicht.

Manchmal erschrecke ich, wenn ich mich auf dem Rückweg durch die Dorfgassen in einem der sauberen Fenster sehe. Ich zögere einen Moment, bleibe stehen. Es ist jedesmal erstaunlich, wie wenig ich auf mich gefasst bin, auf den, der ich immer auch bin, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Als schaute ich mich von aussen an, das eigene Haus. Ein unauffälliger Blick auf die unauffällige Fassade. Seltsam, heimzukommen, selbst nach so kurzer Abwesenheit, einzutreten in sich selbst wie in ein Gebäude, und so viele Zimmer, über und über voll mit abgewohntem Leben.

So komme ich zurück, wenn ich von den Mücken zurückkehre. Schritt für Schritt, mit wechselndem Mut, gehe ich auf mich zu. Aber wenn ich über die Schwelle trete, bin ich so voll und so leicht, ich könnte schweben. Und ich seh sie, von innen, ich hör sie, sie singen im Ohr.

Andreas Neeser
«Zwischen zwei Wassern»
Roman
Haymon Verlag Innsbruck 2014

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Langjährige Unterrichtstätigkeit an der Alten Kantonsschule Aarau. 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Seit 2012 lebt Andreas Neeser als Schriftsteller in Suhr bei Aarau.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.
Ein neuer Roman erscheint im Januar 2020 im Haymon Verlag Innsbruck.

Rezension zu Andreas Neesers Mundartliteratur auf literaturblatt.ch

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Usama Al Shahmani «Wo die Diktatur beginnt, liegt die Kultur im Sterben – Eine Kindheit zwischen dem Krieg und dem bewaffneten Frieden»

Die Weihnachtsferien sind vorbei. Ein regnerischer Morgen. Die Autos fahren langsam. Ich bin unterwegs zur Arbeit. Auf dem Weg zum Bahnhof Frauenfeld sehe ich Kinder, die in kleinen Gruppen zur Schule laufen. Sie tragen ihre Schulsäcke auf dem Rücken – praktische Taschen mit Reflektoren zur Erhöhung ihrer Sicherheit. Ihre Kleider und ihre Taschen leuchten auf den winterlichen Strassen wie ein Feuerwerk. Die Kinder gehen langsam und sprechen miteinander. Einige von ihnen halten sich an den Händen, vor allem, wenn sie die Strasse überqueren wollen. „Ach, wie schön“, denke ich und erinnere mich an meinen eigenen Schulweg.

Als ich in die Primarschule ging, war der Weg zur Schule schrecklich. Ich versuchte, vor meinen eigenen Schritten zu fliehen. Meine grosse Angst war es, in den Krieg zu geraten; den Krieg zwischen den Kindern. Aus jeder Seitenstrasse stiessen Gruppen von Kindern jeden Alters dazu. War ein Kind, das die anderen nicht kannten, alleine unterwegs, prügelten sie auf es ein. Dieses Spiel hiess das «Krieg-Spiel». Manche Kin- der trugen Stöcke mit sich und schlugen gnadenlos zu, egal wo. Hauptsache war, dass das verprügelte Kind auf die Knie fiel und um Gnade winselte. Mein Mittel gegen diese Angst war es, so schnell wie möglich durch dieses Kriegsfeld zu rennen. Der Weg zur Schule war wie ein Marathon, begleitet von ständiger Angst.

In diesem Jahr wird der dreissigste Jahrestag des Kriegsendes im Irak gefeiert. Ein Krieg, der 1980 zwischen dem Irak und dem Iran begann. Ich war damals in der 4. Klasse der Primarschule. Als er endete, hatte ich meine Matura erst seit Kurzem in der Tasche. Aber mit diesem Ende war der Krieg noch nicht wirklich fertig; es war nur eine Übergangszeit, bis der nächste ausbrach. Zufälligerweise in einem Land geboren zu werden, in dem der Krieg kein Ende nehmen will, ist ein schreckliches Schicksal. Ich gehöre zu einer Generation irakischer Kinder, die keinen friedlichen Zustand erleben durfte. Schon mit sieben Jahren erfasste ich, dass vieles nicht stimmt. Ich wuchs unter dem fürchterlichen Lärm von Bombeneinschlägen und unerwartetem Sirenengeheul auf. Als Kinder rannten wir immer zu den Orten von Schiessereien, um Patronenhülsen zum Spielen zu sammeln.

Bevor Saddam und seine Partei 1979 die Macht im Irak übernahm, wurden Kinder meistens auf der Basis von Ehrlich- und Gerechtigkeit erzogen. Doch die Situation veränderte sich schnell. Vom Beginn dieses Krieges an hielten sich die meisten Eltern meiner Generation bei der Erziehung streng an die Regeln des Regimes sowie an religiöse Vorgaben und Sitten. Alles andere mussten die Eltern verdrängen. So wuchs ich eingekerkert zwischen den drei Mauern der Religion, der Diktatur und der Sitten auf.

Dieser anhaltende Notzustand während der Kriegsjahre gab mir keine Möglichkeit, eine normale Kindheit zu leben. Alles war eingeschränkt; es gab keine freien Räume, auch gedankliche Freiheit war gefährlich. Die Wege der Träume waren steinig oder blieben ganz versperrt. Man durfte nicht davon träumen, sich frei zu machen, irgendwohin zu reisen; fast alles war verboten. Als Kind begriff ich ganz genau, dass ich nie etwas sagen durfte, ohne zuerst an die Folgen zu denken. Diese Angewohnheit schleppe ich immer noch mit mir mit. Jeder Satz will mehrmals reflektiert werden, bevor er den Weg über meine Lippen findet. In der Schule hatte ich das Schweigen und den Umgang mit Ungerechtigkeit und Unterstellung perfekt gelernt. Über alles zu reden, was man dachte, war äusserst gefährlich. Die Angst, dass ich ein Mitglied meiner engsten Familie verlieren könnte, begleitete mich ständig. Immerhin musste ich als Kind nicht arbeiten, tröste ich mich jetzt. Vieler meiner Klassenkameraden waren Strassenarbeiter; einige verkauften an Ampeln Plastiktüten oder Zigaretten, andere putzten die Windschutzscheiben der dort stehenden Autos.

Ich weiss nicht, was aus unserem Mathematiklehrer geworden ist. Er war gross und schlank, hatte eine Glatze und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seine Hemden waren fast immer zu eng. Als Kinder warteten wir ständig darauf, dass ihm ein Knopf wegspickt. Er fragte oft, ob ein Kind arbeite, wenn es die Hausaufgaben nicht richtig gemacht hatte. Er sagte: „Die Strassenverkäufer können gut rechnen, aber nie still setzen.“ Manchmal erkundigte er sich, was unsere Väter arbeiteten, als ob er eine Verbindung zwischen der Leistung eines Kindes und dessen Vaters suchte. Einmal hatte ihm ein Kind unerwartet geantwortet: „Ich habe weder Vater, noch Mutter. Ich habe sie nie gesehen. Sie sind seit Jahren im Gefängnis. Auch Angehörige habe ich nicht.“ Der Lehrer wurde rot, blieb starr. Eine schreckliche Stille erfasste das Schulzimmer der 6. Klasse. Diese Szene werde ich ein Leben lang in Erinnerung behalten. Ich hatte sie auch vor Augen, als ich nach Saddams Sturz 2003 eine Sendung im irakischen Fernsehen sah, in der ein junger Iraker seine Geschichte und das, was mit seinen Eltern passiert ist, erzählte.

Ich lebte damals in einer Holzbaracke, die für Flüchtlinge in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Baden (AG) gebaut worden war. Durch das einzige grosse Fenster dieser kleinen Baracke sah man den weiten Horizont und eine mächtige Weide, auf der im Sommer viele Kühe frei herumliefen. Oft habe ich mich vor das Fenster gesetzt und den alten Apfelbaum betrachtet, der die Mitte dieser Fläche füllte. Im Winter war der Ausblick auf diese von weisser Farbe bedeckte Weite betrübender. Drei Schlafzimmer gab es in dieser Baracke, in jedem Zimmer lebten zwei Asylbewerber. Mein Mitbewohner, ein junger Araber, war unerwartet aus der Baracke verschwunden. Mit ihm sass ich oft vor dem Fernseher, vor allem im Winter. Ich verfolgte damals die Nachrichten über den Irak mit grosser Aufmerksamkeit. Ich wollte begreifen, wie dieses Land aus der grausamen Diktatur den Weg zum Leben finden konnte. Die erwähnte Sendung schaute ich mir zusammen mit einem Jungen aus dem Tibet an. Er klagte oft über den Geruch von Cannabis, der aus dem Nachbarzimmer ströme. Seine Bewegungen erschienen mir traurig und lustlos, als ob er auf einem Friedhof wäre. Der kleine Fernsehraum war sein Zufluchtsort. Die Sendereihe erzählte von Menschen, die unter der Autorität Saddams gelitten hatten.

Bis ein 32jähriger Mann, der als Kind sämtliche Familienangehörige verloren hatte, seine Geschichte öffentlich erzählen durfte, hatte es lange gedauert. Das Schicksal seiner Eltern konnte er den Akten des irakischen Geheimdiensts nach Saddams Sturz am 9. April 2003 entnehmen. Dort war das Geschehen von der Festnahme der Eltern bis an bis hin zu ihrer Hinrichtung protokolliert. Seine Mutter war schwanger, als sie mit seinem Vater im Sommer 1981 nördlich von Bagdad bei einem militärischen Checkpoint festgenommen wurde. Die beiden wurden verdächtigt, der politischen Bewegung gegen das Regime anzugehören, was sie auch zugaben. Sie versicherten jedoch, vor einer Weile die politischen Aktivitäten eingestellt zu haben, weil sie sich nur ihrer jungen Familie und dem noch ungeborenen Kind widmen wollten.

Das Militärgericht verurteilte sie dennoch zum Tode durch Hinrichtung. Die Ehefrau ersuchte mehrmals um die Verschiebung der Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes, doch all diese Gesuche wurden abgelehnt. In einem letzten Antrag bat das Paar um einen Kaiserschnitt vor der Hinrichtung. Mit dem Satz «Der Irak braucht keinen neuen Verräter» wurde auch diese Bitte um Gnade für das unschuldige Kind abgelehnt. Am Tag der Hinrichtung stieg der Mann auf das Podest, seine Frau wartete unten. Er wurde erhängt. Als die Frau ebenfalls die Treppe hinaufgegangen war, bat sie ein allerletztes Mal um Aufschub ihrer Hinrichtung bis nach der Geburt des Kindes. Sie war im neunten Monat schwanger. Doch auch diese Bitte wurde nur wenige Augenblicke vor der Exekution abgelehnt. Die Henker zeigten keine Gnade. Die Frau versuchte zu pressen, um so die Wehen und die Geburt zu erzwingen, doch es gelang ihr nicht. Auch sie wurde erhängt. Als sie tot auf den Boden gelegt wurde, öffnete sie sich ihr Muttermund wie durch ein Wunder. Das Kind hatte den Weg zur Welt selbst gefunden. Das war ein Schock für alle Anwesenden. Vor Ort waren ein hoher Offizier mit seinen Mitarbeitern, ein Mann aus der Moschee und ein Arzt, der den Tod verifizieren musste. Der Offizier wollte das Kind neben seiner Mutter schreien lassen, bis es stirbt. Der Arzt und einige Mitarbeiter des Offiziers widersprachen: «Die Strafe wurde dem Vater und der Mutter auferlegt und nicht dem Kind. Dieses Lebewesen kann nicht ohne Gerichtsbeschluss getötet werden.» «Das muss unbedingt geklärt werden», sagte die rechte Hand des Offiziers. Die Beteiligten einigten sich darauf, das Kind einer Person zu übergeben, die mit den Verurteilten nicht verwandt war, bis die Angelegenheit geklärt war. «Wir haben eine Putzfrau im Gebäude», sagte ein Offizier. «Sie arbeitet seit über zehn Jahren hier. Sie ist eine alte Frau, ihr können wir vertrauen. Wir können ihr das Kind geben, ohne eine Erklärung abliefern zu müssen».

Die alte Dame reinigte den blutigen Boden. Sie wickelte das Baby in ihren Schleier und nahm es mit nach Hause. Für sie war es wie ein Geschenk Gottes. Die Frau war Mitte fünfzig und lebte kinderlos mit ihrem behinderten Mann. Sie wohnten in der Nähe des Frauengefängnisses, wo die Hinrichtung vollstreckt worden war. Als dieser Junge, aus dem nun ein erwachsener Mann geworden war, seine Geschichte erzählte, sass seine Ziehmutter neben ihm. Die über achtzigjährige Dame war sichtlich stolz auf ihn und die Art wie er seine Geschichte erzählte. Über diese Sendung wollte der Mann herausfinden, wer seine leiblichen Eltern waren, wer seine Verwandten sind. Als ich das sah, brach eine alte Wunde in mir auf. Ich dachte, dass sie längs verheilt wäre. Aber es gibt Situationen im Leben, die immer abrufbar bleiben. Sie brauchen nur einen kleinen Auslöser, um uns wieder in Unruhe zu versetzen.

Ich sass wie versteinert da und fragte mich, was mir geholfen hat, all diese Grausamkeit zu ertragen. Solche und ähnliche Geschichten habe ich schon als Kind erfahren, sie prägten mein Leben während der Diktatur. Zum Beispiel führte unser Schulweg an grossen Bäumen vorbei, in welchen oft die Leichen von politischen Aktivisten hingen, die von den Sicherheitskräften der Diktatur erschossen worden waren. Wir Schüler hatten grosse Angst, diesen Weg zu gehen. Es gelang mir damals, in zwei Welten zu leben: der Welt der Bücher und der Welt der Gräueltaten draussen. Dank der Lektüren verlor ich die Orientierung nicht und konnte vorwärts gehen in diesen Zeiten des Rückschritts. Die Kraft der Worte half mir, lebendig zu bleiben und gegen den Strom zu schwimmen. Aber auch Lesen war in dieser Gesellschaft, in der ich aufwuchs, keine Alltagsbeschäftigung. Den grössten Teil meiner Kindheit hatte ich in einer kleinen Stadt im Süden des Iraks verbracht, wo es keine Buchhandlung gab – nur einen kleinen Kiosk auf der Hauptstrasse, welcher Zeitungen und Zeitschriften verkaufte. Bücher kaufen hätte ich sowieso nicht gekonnt, weil ich dafür kein Geld hatte. Ich erinnere mich an die erste Zeitschrift meines Lebens, die ich las, sie hiess „Meine Zeitschrift“. In dieser Zeitschrift wurde der Krieg für Kinder farbig präsentiert und der irakische Soldat als tapferer Held dargestellt, der dem grässlichen Feind gegenübersteht.

Als ich in die Schweiz kam, staunte ich über die vielen Kinder- und Jugendbücher, Buchhandlungen und Bibliotheken und darüber, dass die Leute an der Kasse Schlange stehen, um Bücher kaufen zu können. „Wie bei uns beim Amt des Militärdienstes, wo die Leute den Stempel erhalten wollen“, dachte ich mir.

In meinem Elternhaus gab es ausser dem Koran keine Bücher. Mein Vater war kein Leser, er brachte höchstens ab und zu einmal eine Zeitung mit nach Hause. Das alte Exemplar des Korans hatte meine Mutter mit einem feinen grünen Seidenstoff eingepackt und auf das Wohnzimmerregal gelegt. Man durfte es nicht berühren, bevor man die rituelle Waschung zur Reinigung verrichtet hatte. Gelesen wurde Zuhause nur für die Schule. Bücher lesen war ein gefährlicher Luxus. Lesende, gebildete und intellektuelle Menschen waren für das Regime eine Provokation. Wer die Diktatur überleben wollte, durfte sich nicht von der Masse unterscheiden. Andernfalls riskierte man sein Leben.

Die kleine Stadtbibliothek hatte nicht nur wenig Bücher, es gab auch kaum Leute, die sie aufsuchten. Für mich war sie trotzdem die Rettung, weil ich dort Lesestoff fand. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch ge- worden. Ich erinnere mich an eine grosse Menge der russischen Literatur und viele arabische Poesie, die ich dank dieser Bibliothek gelesen habe.

In der Schule gab es keine Bibliothek. Bücher zu lesen war ganz fremd. Die ersten zwei Bücher, die wir lesen mussten, erhielten wir vom Regime als Geschenk. Der Hintergrund für dieses Geschenk gründete im Pech meines Schulkameraden Haider. Wir waren in der 7. Klasse als ein Offizier des Sicherheitsdienstes ihn aus dem Klassenzimmer zum Verhör mitschleppte. Das war Anfang Sommer und im Klassenzimmer war es so heiss, dass wir kaum frische Luft bekamen. In der Pause hatte Haider mit seinem Schuh auf einen Kollegen gezielt und unglücklicherweise ein Porträt von Saddam, welches über der Tafel hing, getroffen. Auf dem Porträt sass Saddam auf einem majestätischen Sessel. Ihm hing eine kubanische Zigarre aus dem Mund, welche er mit seinen Fingern abstützte, und er starrte scharf in den Raum – das ganze Schuljahr über. Das Bild fiel auf den Boden ohne kaputt zu gehen. Eine ungeheure Stille trat ein, bis die Schüler wieder zu schwatzen begannen: „Haider hat Saddam mit einem Schuh geschlagen.“ Innerhalb von zwanzig Minuten stand der Schulleiter vor der Klasse und begann zu brüllen. Haider erschrak so fest, dass sein Gesicht aus- sah, als hätte er die Toten auferstehen sehen. Vor unseren Augen schlug der Schulleiter gnadenlos auf Haider ein, dann nahm er ihn mit in sein Büro. Der Schulleiter war gross, seine wenigen Haare waren weiss, selten haben wir ihn lächelnd gesehen. Es gab Gerüchte in der Schule, dass er schon einmal im Gefängnis gewesen sei und man ihn gefoltert habe. „Er benimmt sich wie ein Wahnsinniger“, sagte unser Mathema- tiklehrer, als er die ganze Schule an einem eiskalten Wintermorgen versammelt hatte und die Schüler zu schlagen begann, die an einem Schultag gefehlt oder ihre Fingernägel nicht geschnitten hatten. Der Schulleiter hatte militärische Ordnung und Drill in der Schule durchgesetzt. Er verprügelte Haider, zog ihn an den Haaren hoch und liess ihn auf den Boden fallen. Noch vor dem Ende der Schule kam ein Auto des Sicherheitsdienstes, um Haider abzuholen. Zwei Wochen später kehrte er wieder ins Klassenzimmer zurück. Er war bleich und sprach wenig. Auch wir hatten Angst ihn auszufragen. Meine Mutter hat mir mehrmals eingebläut, dass ich nicht neben Haider sitzen oder etwas mit ihm zu tun haben soll. „Wenn ihr euch auf der Strasse über den Weg läuft, musst du sofort die Strassenseite wechseln“, sagte mir mein Vater mit erhobener Stimme. Auch seine Augen wurden mit jedem Wort grösser mit dem er den Satz vervollständigte. Der Schulleiter und einige militärisch gekleidete Männer begleiteten Haider bei seiner Rückkehr ins Klassenzimmer. Letztere trugen glänzende Pistolen, und ihre Schuhe waren so schön sauber und poliert, dass sich ihre Gesichter darin spiegelten. Einer von ihnen, vermutlich der Chef, sagte zu uns, dass wir gute Schüler seien und den Führer und die Partei gerne hätten. Danach hielt ein anderer eine lange Rede, und jedes Mal, wenn unser Schulleiter klatschte, mussten auch wir klatschen. Am Schluss verabschiedeten sich die Männer bei jedem Schüler per Händedruck. Wir standen auf. Ich spüre immer noch den Druck ihrer Hände auf meinem Handballen. Sie übergaben jedem Schüler zwei dünne Bücher. Das eine trug den Titel „Lebe lang Generation der Partei“, das andere „Die Helden des Vaterlands“. Wir sollten diese zwei Bücher lesen und darüber einen Aufsatz schreiben. Mit diesem Auftrag verliessen diese Männer unser Klassenzimmer, Saddams Blick aber entmachtete uns weiter.

Die Lektüre von Büchern gehörte in der Primarschule und der Oberstufe nicht zum Alltag. Das änderte sich im Gymnasium, wo es eine kompakte, kleine Büchersammlung gab. Hin und wieder kamen Leute vom Geheimdienst, um die Bibliothek zu durchsuchen. Jedes Mal gingen sie mit einigen Büchern in der Hand wieder hinaus. Die Lücken in den Bücherregalen füllten sie mit Exemplaren, die Saddam und die Partei rühmten. Von diesen Büchern, die in grosser Zahl gedruckt und kostenlos an Schulen verteilt wurden, gab es Hunderte. Sie handelten von der arabischen Nation und ihren Feinden.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem alle Exemplare des Romans von Nagib Machfus „Die Kinder unseres Viertels“ aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden. Ich war damals im ersten Stu- dienjahr und sagte mir: „Diesen Roman muss ich lesen.“ Jedes Mal, wenn das Regime ein Buch bannte, löste das bei vielen den Reiz aus, das Buch erst recht zu lesen. Ich lernte, dass eine Menge verbotener Bü- cher kopiert wurden und über den Schwarzhandel ihren Weg machten. Man nannte das die „kopierte Kultur“. Es gab Geschäfte in der Nähe der Universität Bagdad, die diese Bücher verbreiteten. Ihre Händler riskierten dafür ihr Leben. Auf fast dunkles Recyclingpapier gedruckt mit einfachem Einband und Buchstaben, die entweder ganz schwarz oder kaum sichtbar waren – so sahen philosophische und literarisch wichtige Werke in dieser Parallelkultur aus; und ich konnte sie mir leisten, denn sie kosteten wenig. Meistens wurde die Titelseite des Buches nicht mitkopiert und man erhielt ein Werk ohne Titel. Freunde von mir hüllten verbotene Bücher in Einbände von Büchern des Regimes ein, um die wahre Identität des Inhaltes zu verbergen. Nach der Lektüre mussten diese kopierten Papiere so schnell wie möglich verschwinden.

„Schwöre mir, dass du diese Kopien nach der Lektüre nicht weitergibst“, sagte mir der junge Mann im Geschäft, bevor er mir das Geld abnahm. „Ja, ich verspreche es“, erwiderte ich und verstaute Machfus’ Buch, das ich ohne Nennung des Autorennamens auf A4-Blättern bekam, in meiner Tasche.

Je älter ich werde, desto intensiver nehme ich Saddams Zeitalter wahr; eine verstümmelte Zeit, die sich in meiner Erinnerung für immer festgesetzt hat.

Am Abend auf dem Heimweg von Kreuzlingen nach Frauenfeld betrachte ich die Weihnachtsdekorationen aus dem Zugfenster. Die Häuser, Strassen und Bäume leuchten hell. Einige Kinder sitzen in meiner Nähe. Sie sprechen mit ihren Grosseltern über die Geschenke, die sie zu Weihnachten erhalten haben. Die Farben ihrer Geschenke harmonieren mit dem Spektakel des Sonnenuntergangs. Die Aussicht über den Säntis, der in Ferne zu sehen ist, ist farbenprächtig. Der Berg trägt eine strahlend weisse Krone inmitten dieses Naturfeuerwerks, als ob auch er das neue Jahr auf seine Art und Weise feiert. Eines der Kinder zieht ein Buch aus seinem Rucksack heraus und fordert die Grossmutter auf, ihm daraus vorzulesen. Die Dame, sie muss über siebzig Jahre alt sein, beginnt zu lesen. Immer wieder hebt sie ihren Blick immer unter ihrer filigranen Brille, um ihr Enkelkind anzuschauen. Ich lausche still, wie sie die Geschichte vorträgt, genauso wie mir meine Grossmutter damals Geschichten erzählte. Sie hatte nie Schreiben oder Lesen gelernt, dafür konnte sie umso besser erzählen. Die Schichten ihrer traurigen Erzählungen wurden in ihren feinen Humor gewickelt und waren wie ihre köstlichen, gefüllten Weinblätter dicht und sättigend. Jede dieser Geschichten, die ich als Kind erzählt bekam, hat nicht nur meinen Geist geprägt, sondern auch meine Seele beeinflusst. Sie wa- ren für mich der erste Geistöffner oder Wegweiser, der in Richtung Hoffnung gezeigt hat.

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad, und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert und im Irak mehrere Bücher über arabische Literatur publiziert. 2002 kam er als Flüchtling in die Schweiz. Heute arbeitet Usama Al Shahmani als Autor, Kulturvermittler und Dolmetscher, und er übersetzt deutsche Literatur ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Dichter am Bahnhof» von Ivo Zanoni, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern» von Friedrich Schleiermacher. Er lebt mit seiner Familie in Frauenfeld. «In der Fremde sprechen die Bäume Arabisch» ist sein beim Limmat Verlag erschienener Roman.

Im Mai 2019 erhielt Usama Al Shahmani einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau. Er arbeitet an seinem nächsten Roman: „Im Fallen lernt die Feder fliegen».

Rezension von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» auf literaturblatt.ch

Elisabeth Wandeler-Deck «Visby, Coda, aus Teil a»

Wo, von hier aus

gesehen, liegt Gotska Sandön, die Gasse, leer, ohne Mensch nicht wahr, menschenleer, da hin, die Aussicht, sommerweise ein Kunst zu fliehen, so das Licht, jetzt, ein kalter Wind geht, mitten im April, so etwas von klarer Luft, murmelt sie und zieht den Mantel über die dicke Jacke, ich denke mir das so aus, dazu vorbeihüpfende Dohle, das Gras liegt vor. Schnappe mir den Satz, so hingekritzelt, kaum hör ich‘s, reihenweise, die reihenweisen Wetterbezeichnungen, die Zimmer, exzerpiere aus dem Merkheft, den Rosinenkönig liegen lassen, eine Kunst, zu fliehen, was gilt, bleibt offen, wie denn, ich studiere die Fensterverschlüsse, während der Morgen noch anhält, besser ein Foto nehmen, davon, mich überliste, ein Huhn schlachte, um den Affen einzuschüchtern, zu betören mich, ich erinnere nicht, woher ich dies habe, keine Gelegenheit greifbar, leider nicht Ort nicht Zeitpunkt, leider nicht Umstände, ohne Traum schlafloses Erwachen im Traumdrin Rot, eine Ordnung Frau in rotem Kleid, dann so, und konnte nichts dran anknüpfen, döste vorwärts zurück, treffe Anstalten. Bin Gast. Sage lampisteries wie oft ich diese Nacht das Signal der Barriere etc. meines Bruders gedacht, wie er in seinem haitianischen Bad, auf dem WC hockend, in Atemnot, grässlicher Hinfall in den Tod hinein als ob ich ein Foto gesehen hätte davon und die liebe Lovely von ihrem haitianischen Ort her am Telefon mon Christian weinend soll das so stehen bleiben mache erneut Anstalten schaue vielleicht nordwärts möglicherweise in Richtung Gotska Sandön kompasslose Situation eines Flurnamens die Uhr geht gegen Mittag wiederhole lampisteries, j’ai perdu le nord füge mich ein. Auch Angstintarsien. Das helle Blau von Sternhyazinthen, einmal auch Leberblümchen erhascht, kaum war ich an der Sommerwohnung vorbei und wieder in der grösseren Strasse. Auch von hier aus, ein Meer, schwarzblau, sammle Blautöne von Blaumeisen möglicherweise Blåtitt Reminiszenz isländischer Blaumeisenerkundung etc. entspräche im Schwedischen dem Ausdruck Blåmes, so Mirjam später, muss nachsehen, lüfte mein Torkelbett führe meine Errundungen weiter einer Grammatik zu etc. um acht dann das Glockenspiel, das ich heut nicht verpassen etc. und geteilter Satz.

Das reine Vergnügen

liege im „und“; es werde vom „um zu“ bedroht. Da will eine eine Volontärstelle bei der kühnsten amerikanische Feuilletonredaktion. Wie hatte ich das gemacht. Singe dir mein Schleiflied. Sturmdurchtrieben, kann das gesagt werden, eine Sturmdurchtriebenheit erinnern, Regen, ich und ich rasteten im Donners Brunn und sagten es. Mischte kurzfristiger meinen Himmel. Da kommt Herr Östborn, aber nicht doch. Setze Wetter ein, den Wetterschutz also Regenhut etc. „strahlend blauer Himmel“ wir rufen einander zu in „Wiesen blühen“ weisse Sternhyazinthen, von nahem am Weg besehen sind mancherorts manche doch eher Anemonen, ich bin verblüfft zu zweien je ich und ich eine Jahreszeit erstmals und im Rund gesetzte Steine zur Gasse hin halten das Erdreich. Wir sehen Scilla einzeln in grossen Gruppen, Felder beinah bildend, ein Gedränge von Blau, das blaue Blau. Es war eine Frage an Sten, sage ich zu T. oder M. oder L., die blauen Blumen im Gras, die Rosenstöcke überall an den Häusern, im abgetreppten Garten oberhalb der Kathedrale Domkyrkan Santa Maria erinnere die lateinischen Worte den Gesang das Nachhergehen. Gehe spazieren, gehe Kaffee besorgen etc. Kann den Schatten deines Liederschädels an den Hausmauern nicht verkennen Spatzenschwatzen Dohlengeschrei auch Möwen sehr still ist es hier so, dass ein einzelnes Geräusch interessant etc. Um zwei vor dem Kunsthaus, wo die gelbe Bank steht. Vor Wind schützt die Stadtmauer, die Gartenmauer, hoher Bretterzaun, nichts schützt vor Wind, was das Meer herträgt, trennt Land von Stadt die Mauer trennt ist Rand und wiederum Rand die Mauer dem Land zugehörig, Strand und Land, die weissen Sternhyazinthen habe sich dem geübteren Blick als Anemonen bewiesen, picken Dohlen, keine Korrektur, oben neben oben seitlich das „und“ der Wiederholung, schon jetzt, wieder, Elfengalopp über Grün, genauer anzuschauen, was da aufgeblüht etc. will die Stadtmauer, die Adelsgatan, der Südplatz, die Viertelstunde, die Viertelstunde, das Südtor, die Südmauer, das mittlere Tor, die Ostmauer, die Ringeltaube, die rote Bank, die rote Bank, das Cursorspringen, der Zwischenhalt am Schreibplatz, das Reihen am Bildschirm, ähnlich unsern Buschwindröschen, Foto gemacht, wie geht das vor sich, man empfiehlt als Regenhut einen Sonnenhut, keiner benützt hier Regenhüte, lausche dem Carillon lausche, wie das Spielbrett die Glocken zu Klingen, entzückter Stillstand im Frühwind, grüne Brandung, dann Reihen schwarzblau. Aufgeschäumter Wellengang. Reihe das „und“ um. Ziehe den roten Pullover über. Memoriere den Namen der finnischen Schriftstellerin, suche den Wohnort des estnischen Dichters, dessen Namen ich mir aufschrieb, suche das Haus der gotländischen Klavierlehrerin auf, lese Bäckers-, Musikhandelsbezeichnungen, errate den Sinn von Hinweisen, bitte um einen doppelten Espresso, weise auf ein Kardamomgebäck etc.

Die Adelsgatan geht

vom Wallérplats zum Söderport und weiter hinaus geht sie, sie geht in angenehmer Weise lange. Das Musikaliengeschäft öffnet um zwölf, es geht gegen elf, ich sehe die Instrumente, da sind sie, die Gitarren. Was ist nun mit Roubaud, Jacques. Sommers, so Sommer, den Insekten lauschen, oder M. auch Luftiges, auch in Gold das Abbild eines Insekts, dies zu Sjöberg, zu Frederik Sjöberg. Einer liebte Schwebfliegen. Er kennt die Arten. Er lässt die Sätze schweifen. Als ob ein Ich ein Ich repräsentierte. Auch Fragen Grammatik eines Entdeckens. Was tun nun mit Roubauds Tokyo hier im Visby, wenn sein Buch in Affoltern liegt. Eine liebte die Grammatik, in ihrem Fall war es die der finnischen Sprache, eine wunderte sich den schwedischen Namen entlang und sprach sie hübsch englisch nach. Was ist ein Satz hier in Visby. Die wichtigsten Einkaufsstrassen sind die Adelsgatan vom Söderport bis zum Wallérplats und die St. Hansgatan, beide jeweils mit überwiegend kleinen Läden, so ca. erinnere ich mich gelesen zu haben, Kleidung, Kunst, Souvenirs, mit Sportartikeln, mit Cafés, Restaurants, Imbissstuben. Weitere Geschäfte finden sich am Österväg ausserhalb der Stadtmauer. Da gehe ich gleich wieder hin, da gehe ich heute gewiss nicht hin, da muss ich diesen Morgen noch hin, bevor der Regen einsetzt, vermutlich der starke Wind etc. da gehe ich dieser Tage wieder hin, gleich muss ich hinaus und hin, eventuell erlausche sie das Glockenspiel, wenn Mittag ist. Morgens um acht Uhr erlausche sie die Klänge des Glockenspiels. Genau lausche sie auf die Klangreihungen abends zur genau täglichen Abendzeit. Mit den Füssen stimmt etwas. So Farhad Showghi. Ich umgehe die Baustelle, wundre mich über das Treiben der Grammatik, nehme den Weg, der innerhalb der Umfassungsmauer so leicht dahinhinkt. Der kleine Mann mit den freundlichen grünen etc. Augen grüsst heute gern Ich gehe niemandem entgegen, was mir dabei entgeht. Hier geht kaum eine vornübergeneigt. Starker Wind geht jeweils. Was ist mit Nennen. Einer Art Strandläufer den Weg abgeschnitten bzw. mit ihm geschritten unten beim Meer, ich auf den Kieseln, er in der Wiese unter den laublosen Bäumen. Nein, keine Elster, könnte sagen elsterfarbener Strandgänger, so Namen gebildet im Namenlosen meines Unwissens, möglicherweise weiterhin etc. Foto eines ebensolchen Strandläufers gefunden ein Bewohner der Galapagosinseln wie das wie wer wohin etc. Nichts von Scharen und kein Gedränge, vielleicht in eine andere Wagnis eintreten, so sie etc. einer Zeitverfugung mag sein ein Angebot um zu. Man sehe gerne zu, wie sich der Abend ins Meer also das Spektakel des Sonnenuntergangs geniessen, wir genossen, sommers, die Schau des Sonnenuntergangs, von der langen Bank aus, gleich erheben sich alle wieder, und wenden sich vom sonnenleeren Horizont weg, gehen, gehen, sie gehen stadteinwärts. Man denkt sich halt so manches aus für „und“ tiens ferme mon parapluie und ich lege meine Kleider jemandem auf den Esstisch im Ziegen-, also Zeitenflug Herzenserschöpfungen eines Bruders. Die Schafe hier zu Lande zeichnen sich durch ebenmässig graue Wolle aus.

Setze Wettermethoden

ein, bei versagendem „um zu“, täglich eine Alltäglichkeit, wir üben. Uns ein? Quatsch. Täglich eine Stunde üben, so geht die Regel, so geht gehen in passenden Schuhen. In zu den Belägen, den Strassenbelägen passenden, für die gesetzten Steine, die breiten und anstehende, für die kleinen Pflastersteine, für die steilen Treppen passenden Schuhen, weicher Auftritt, federnder Schritt des kleinen freundlichen Manns vom Rand einer Welt, ich muss jetzt, muss gleich weg, schlüpfe in die schweren, leichten Winterschuhe, gerade wieder passen sie, mag ein Kirchgang anstehen auf dieser Insel, finde aufspringende beinah schon Kirschblütenknospen, gelingender Wirrwindversuch, aprilisch, stecke mein Notizbuch weg, sie erkunde die Grammatik, so Kersti Juva in ihrem Falle ist es diejenige eines britischen Sprechens im finnischen und woher denn und was der deutschen Sprache die Vorsilben sind der finnischen etc., heute leicht bedeckter Himmel, kaum Wind treibt triftigen Grund. Sie liebe in Grammatiken, so Kersti Juva wiederum, englischen, britischen, finnischen, nachts, und nachts in jedem Fenster ein Nachtlicht scheint und über die Gasse in die gegenüberliegende Wohnung leuchtet. Das Gewürz eines Ortes entstehe im „und“. Einem Lichtstreifen hinterher, wie Flüstern, „das war einmal“. Vor dem Haus weiden zwei Elstern. Ihr Bau aus harten Zweigen zuoberst eher auf als in der Baumkrone schwingt weit aus im steifen Frühlingswind, während beinah unbewegt die kahlen Äste mit ihren kahlen Zweigen etc.

Setze Wetter

um in Methode, wie kann das gehen, wollte in den Morgen hinein schlafen. Car, n’est-ce pas, il pleut. Singe mir deinen Schlingsang, kann deinen Fliederschädel vor den Mauerflächen zwischen den hellen Fenstern nicht erkennen.

Kaum

etwas. Kaum noch Helle. Verbliebener Schutzraum flüstern, nicht wahr, nichts, beinah nichts, das Flügelschlagen eines Nachtvogels als ein kleines Rauschen vielleicht Lustgärtlein. Kaum Windstille. Die Luft muss, sagt sie, hier sehr rein sein, von Partikeln entblösst. Luft. Ein Flüstern, kaum noch. Früher Morgen, Sonnenaufgang. Morgenanbruch, kaum, vier Uhr noch kaum. Morgenstille, kaum Stille, nichts beinah, ein Nichts von Stille, wie das sagen, so sie dann gegen Mittag am Hafen. Wetter, sagt sie, was hier Wetter ist, „Wetter“ = „väder“, also hier ausgesprochenes Wetter, Inselwetter in Inselsprache, erschreckt sie (oder M. oder Tommy) dieser Nordwind, kalter Frühling, bodennah bloss, dieser Frühling hier, jetzt, blåsippor ruft sie, überzieht die ganzen Böden, wäre es Waldboden, wären es Leberblümchen, eine Ähnlichkeit postuliert zu Leberblümchen, hüpfender Cursor, Kaninchenkot also die Kügelchen, eine militärische Zone zu betreten fotografisch also vor dem Übertreten eines Verbots etc. dann wieder Scharbockskraut, im Gras, unter ähnlichen, behaupte Ahorn, provisorische Baumbenennung, Cursorblödheiten bewirken aleatorisches Buchstabengewimmel, dagegen die Pflanzennamen zu finden versuchen, mannigfaches Fragen, Erraten, Scilla, warum nicht, Primelgemenge, auch die pelzige Anemone, man hätte ein Feuer entfachen können, wäre hier jemand gegangen, sie postuliert alte Zeiten, in alten Zeiten, ein Mittelalter, eine Vorzeit, Vorfelder im Nachhinein, damaliges, ja, jetziges Jetzt, „und“ „um zu“, wir treten die Kiesel in die Brandung, einen, mehrere, in kleinem Rudel sind wir da und da und da, zwecklos, das Wörterbuch jetzt noch zu öffnen, ruft Wikipedia. Denn gewiss ist nur, dass färöische Wort veður von altnordisch veðr „Wetter, Witterung“ stammt. Die weitere Etymologie ist germ. *wedra-, *wedram „Wind, Wetter“; idg. *uedhro- „Witterung, Wetter“. Demnach ist es mit deutsch „Wetter“ urverwandt. So wanderten wir zu viert in Tarkowskijs Steppengelände beim Leuchtturm herum und sahen Fischer im seichten Wasser stillestehen. Einer erwähnte presque rien eine wusste nichts davon wir lauschten. Versuchten uns in Gegenwarten. Einmal fragtest du mich nach dem Sinn von Wetterworten in meinen Schriften, woraus ich eben vortrage die aufblühenden singenden Nordwinde, flatterte mich, also flatternde Stimmbänder mir gaukelte Gegenwart baumelst mich in Ungewissheiten. Doch diesmal habe ich dir neue Orte gefunden, sage ich zu T. oder M. oder L.,  und es ist anderer Frühling, weisst du, d.h. eher wie bei dir in den Bergen, was meinst du, Zeit. Diese hüpfende seufzende Zeit aus Raum geradeaus Fuss um Fuss gesetzt über asphaltierte Steppenhaftigkeit klirrte meinen Schlüsselbund man stellt hier kleine Lampen auf die Simse und Kommödchen hinter die Fenster zur Gasse und lässt sie die ganzen Nächte an.

tiens ferme

apropos sonniges Visby. Habe grad gesehen, wie mein springender Cursor wieder einiges anrichtet. So selbstverständlich ist es nicht, in dieser Jahreszeit ein Kaffeelokal geöffnet zu finden, denn vieles ist jetzt geschlossen, auch manche Restaurants sind zu, auch manche Läden, oder sie öffnen nur am Nachmittag, es ist sehr still, die Menschen sprechen leiser als im Sommer. Die Fähre wird jetzt, sieben Uhr 34, abgelegt haben. Die seufzenden Rahen wie sie sich paarten auf dem Wiesengrund die erregten und nachlässigen Strandläufer und dann piepsten horchte der Vogelsprache zu, lange Horchplauderei, stand im Plauderlauschen, freute mich komparatistisch der aufgeblühten Traubenhyazinthen im Schatten schlief etc. Warum nicht das Heulen der Kettensäge, ich erinnere mich dran, wie es aus dem Wald klang, während wir unsre Instrumente im Haus oberhalb Vira. Die andern verschriftlichten Vokalisen? Vögel? Vielleicht 1 Dohle? Bergdohle? Hier in Visby sind viele, jedoch nicht Berg-, Dohlen. Nein, laut nur vor dem Ohr, schreibst du, das muss eine Stechmücke sein. Die andern Buchstabenfolgen falls Vögel, weiss ich sie nicht zu benennen, sage ich zu meinen kaum erwachten Füssen. Hier gibt es Blaumeisen, Amseln, verschiedene Möwen, Elstern, Ringeltauben und auch kleinere Tauben, unseren Stadttauben ähnlich, ein Vogel, fast eine Bachstelze, ein elsternfarbiger Strandläufer dieser Name aus einer Namensversuchung im Unbekannten, ist von mir, sage ich rascher, möchte dich anfassen. Sah die die Waldböden schimmern lilablau von Blåsippar oder ins Rötliche gehende je nach Lichteinfall Leberblümchen, sah auf den Wiesen Flächen mit Scilla, andere mit Blausternen (M.), einer Art Anemonen, die unsern Buschwindröschen ähneln, so T. vet. Tommy möglicherweise in der Stadt erste Bäume mit dicken Knospen. Die Rosen an den Hausmauern sind schon weit mit der Entwicklung ihrer Blätter. Das zum Frühling hier mitten in der Baltischen See erstaunliche Beschreibungslust diesmal, Wollsocken, das ist ein Wettlauf gegen die Zeit Nebensatzablagerungen. Dir vom Grünen zu kosten etc. Wunschtraumhaftigkeiten des Buchstabenspringens was kann ich da Weisssternerblickerin betrachtete Abbildungen also antworte dir rasch als momentane Schwebefliegenbetrachterin die Klangrätsel sind schwierig zuerst dachte ich an eine Hummel, schrieb T. gestern. Stehe an füge mich dir in die Schlange der Wörter.

Elisabeth Wandeler-Deck  (1939) studierte zunächst Architektur. Von 1972 bis 1976 studierte sie Soziologie und Klinische Psychologie an der Universität Zürich. Nach einer Ausbildung in Gestaltanalyse begann sie mit dem Aufbau einer psychologischen Beratungsstelle für Frauen sowie einer Praxis in Zürich. Als Schriftstellerin pflegte sie nach ersten lyrischen Versuchen Ende der 1960er Jahre die Verbindung von Text und Musik. Sie arbeitete mit Komponisten und improvisierenden Musikern zusammen und realisierte bei Lesungen und Auftritten eigene Konzepte als improvisierende Musikerin (Vorlesestimme, Klavier, Gitarre). Sie war Mitglied der Gruppe Interco, gehört dem Improvisationsquartett bunte hörschlaufen an und beschäftigt sich auf verschiedene Weise mit Instant composing. Ab 1998 arbeitete sie im DamenDramenLabor (DDL) mit und entwickelte diverse Theatertexte. In Zusammenarbeit mit Urs Graf und Alfred Zimmerlin entstand 1993 der Film Die Farbe des Klangs des Bildes der Stadt. Für ihre schriftstellerischen, insbesondere ihre lyrischen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Stipendien und wurde mehrfach ausgezeichnet.

NZZ Bücher am Sonntag:
Zwei Monate verbrachte die Zürcher Autorin Elisabeth Wandeler-Deck gegen Ende des Jahres 2007 In Kairo. Jeden Tag ihres Aufenthaltes dokumentierte sie akribisch mit einem Text und einer Fotografie. Bild und Text stehen daher in einem lebendigen Dialog. Die tapfere kleine Edition Howeg hat es nun gewagt, das Projekt, das ursprünglich nur für das Internet gedacht war, in eine Buchform zu bringen – und sogar in eine überaus anmutige: kleine Auflage, Klappenbroschur, Fadenhaftung, alle Exemplare signiert. Der bibliophile Band erscheint rechtzeitig zu 80. Geburtstag der Autorin, die uns auch als improvisierende Musikerin vertraut ist. Wolfgang Malte Fues, der von 1994 bis 2011 als Extraordinarius für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Medienwissenschaften an der Universität Basel wirkte, hat ein erhellendes Nachwort zu dem schönen Band beigesteuert.
Gundula Ludwig

Webseite der Autorin

edition taberna kritika

Beitragsfoto © Urs Graf

Tabea Steiner «Sienna Street 55», Plattform Gegenzauber

Wir hatten für die Reise nach Armenien eine Flugverbindung mit längerem Zwischenstopp in Warschau gewählt, weil sie billiger zu haben war. Ich wusste bis dahin nicht viel mehr über Armenien, als dass die armenische Kirche ihren eigenen Papst hat, dass die Bagdadbahn nur kraft der Zwangsarbeit zahlloser Armenier gebaut werden konnte und dass man die Armenier im Zuge der verschiedentlichen Genozide ohne jede Nahrung in die Wüste getrieben hat, mit der Absicht, sie verhungern zu lassen, auch Kinder.

Wir haben die Sienna Street 55 nicht auf Anhieb gefunden, weil wir vom Hauptbahnhof her zuerst die falsche Richtung eingeschlagen haben. Im Bahnhofsquartier blitzte alle Augenblicke ein Mercedesstern zwischen den hohen gläsernen Neubauten und den breiten Prachtbauten aus Sowjetzeiten auf. Der Stern drehte sich immerzu im Kreis und schleuderte so das Sonnenlicht weit über die Stadt.

Nummer 55 ist ruhig gelegen, gleich neben einer Imbissbude, die sonntags geschlossen ist. Im Hinterhof haben Kinder gespielt, aber das Gittertor war verriegelt. Wir haben gezögert, diese Kinder anzusprechen, bis uns eins der Kleineren bemerkt hat, stehen geblieben und dann davongesprungen ist, um kurz darauf in Begleitung eines grösseren Kindes zurückzukommen. Sie haben uns gemeinsam gemustert, dann haben sie von innen den elektronischen Türöffner betätigt und uns nicht weiter beachtet.
Im Innenhof ist mir zuerst das gerahmte Bild des Papstes aufgefallen, das in einer Wohnung im ersten Stock hing. Dieser Papst, an den ich nur noch im Zusammenhang mit dem Papamobil und seinem einsamen Tod im Fernsehen denken kann, blickte nach draussen, in die Richtung der Imbissbude, die aber hinter einer vielleicht sieben Meter langen und drei Meter hohen Mauer verborgen blieb. Gütig blickte er hinaus auf diesen Platz, mir war, als schaute er aus seinen Gefilden zu uns zurück durch ein Fernglas, das die Zeiten auf einer winzigen Linse zusammenpresst.

Wenige Wochen vor dieser Reise war Claude Lanzmann gestorben, was mich daran erinnert hatte, dass ich Shoah an einem einzigen Tag geschaut hatte, als könnte man all das auf neun Stunden und diese neun Stunden auf einen einzigen Tag komprimieren.
In der letzten Szene des Filmes spricht ein Mann davon, wie er sich durch die Abwasserkanäle in das Warschauer Ghetto geschmuggelt und Botengänge erledigt hatte, hin und her. Nach seinem letzten Botengang hatte er keinen einzigen Menschen mehr angetroffen. Er schildert, wie er alleine in einem Hinterhof gestanden und geglaubt hatte, dass er nun der letzte verbliebene Mensch auf der ganzen Welt sei, zurückgeblieben, weil er alleine in den Untergründen unterwegs gewesen war, während alle anderen aus dem Ghetto abgeholt worden waren.
Jener Mann hatte das Ghetto wieder verlassen und war, auf welchen Wegen auch immer, von Claude Lanzmann aufgespürt worden, dem er schliesslich seine Geschichte der Einsamkeit erzählt hat.

Nachdem 1989 in Berlin die Mauer gefallen war, hatten sich die Amerikaner aufgemacht, um in Warschau an der Sienna Street 55 aus der ehemals kilometerlangen Mauer des Warschauer Ghettos einen Stein zu holen. Auf einer Tafel über der Stelle, wo der Stein herausgebrochen wurde, kann man nachlesen, dass dieser Stein heute im Kriegsmuseum in Washington ausgestellt ist.
Gebracht haben die Amerikaner Imbissbuden, die Fastfood herausreichen in Endlosketten.

Wir sind noch einen Moment vor diesem Mauerrest gestanden, den man auch in Amerika betrachten kann. Dann haben wir den Innenhof verlassen, den Kindern ein Dankeschön zugewinkt. An der Aussenmauer des Gebäudes an der Sienna Street 55 ist ein emailliertes Foto angebracht. Darauf ist eine kleine Schar abgebildet, aufgestellt in Reih und Glied, ausgerüstet mit Waffen, bereit zum Warschauer Aufstand vom 19. April 1943.

Am Gebäude gegenüber prangte hoch oben ein Plakat der Billiglinie Etam. Ein Model, auf eine geradezu aus der Mode gefallene Weise mager, warb für den Konzern mit dem Slogan The french liberté. Scheinwerfer waren angebracht, welche in der Nacht dieses ungeheuer grosse Modeplakat beleuchten; es musste weit über die Stadt sichtbar sein.
Es sind die gleichen Strassen und Gassen, die mit Licht geflutet worden waren, als die Mauer noch mehrere Kilometer lang war und als nach Einbruch der Dunkelheit, zur Nachtsperre, nur vereinzelt magere Gestalten über die Gassen und Plätze im Inneren des verriegelten Mauerrings gehuscht waren.

Wir sind zurückgegangen zum Bahnhof, ein Gebäude, dessen Standort und Stellenwert sich innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts mehrmals verschoben und verändert hat. Diesmal haben wir ihn auf Anhieb gefunden, haben Tickets für die Rückfahrt an den Flughafen gekauft, die Abflughalle erreicht, das Flugzeug bestiegen und sind wenige Stunden später in Jerewan gelandet. In der Dunkelheit der Nacht haben wir armenischen Boden betreten, dieses heisse, kleine, fruchtbare Land.

Tabea Steiner, 1981, studierte Germanistik und alte Geschichte in Bern und hat sich in ihrer Masterarbeit mit der Wahrnehmung in zeitgenössischer Landschaftslyrik befasst. Sie ist auf einem Bauernhof in der Ostschweiz aufgewachsen und lebt heute in Zürich. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Ihr erster Roman «Balg» erschien im Frühjahr 2019 in der Edition Bücherlese.

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Am 25. Oktober 2019 liest Tabea Steiner aus «Balg» im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG. Gallus Frei-Tomic moderiert.