Gaël Faye „Kleines Land“, Piper

Wir, eine Gruppe Lese- und Literaturinteressierter, treffen sich monatlich und diskutieren über ein Buch, eine Schriftstellerin, ein ganzes Werk, die Gegenwartsliteratur eines Landes, eine Literaturverfilmung… So wie es viele tun im Wissen darum, dass man einem Buch eigentlich nicht gerecht wird, wenn man es nach der Lektüre bloss in ein Regal schiebt. Dass ich dabei auch Bücher lese, die sonst an mir vorbeigehen würden, versteht sich von selbst.

So wie der Autor selbst kehrt Gabriel nach vielen Jahren im unfreiwilligen Exil in Frankreich zurück in das Land seiner Kindheit. Ein Entschluss, der nicht zu reifen brauchte, sondern einer, der Mut brauchte, um in ein Land zurückzukehren, dass ihm mit Macheten und Gewehren, die Mutter, die Familie, die Heimat nahm. Zurück in ein Land, das nicht mehr das sein würde, was es einst war.

Gabriels Kindheit in Burundi war die eines privilegierten Jungen. Zusammen mit seiner Schwester, einem erfolgreichen Vater und einer schönen Mutter wächst der junge Gabriel unter einer paradiesischen Glaskuppel auf, weit weg von Armut und dem schwelenden Konflikt zwischen Tutsis und Hutus.

1994 kostete der Stammeskrieg, der zu einem Völkermord ausartete eine Million Todesopfer. In hundert Tagen massakrierten Angehörige der Hutu-Mehrheit ca. 75% der Tutsi Minderheit und moderate Hutus, die sich dem Morden entgegenstellten. Ein Konflikt, der nicht erst in jenem Jahr entgleiste, sondern in den Ländern dieser beiden Volksgruppen immer wieder zu grossen Auseinandersetzungen führten.

Gabriel spürt diesen Konflikt. Aber Vater und Mutter versuchen den Jungen aus der Politik und den gegenwärtigen Konflikten und Problemen herauszuhalten. Gabriel zieht nach der Schule mit seiner Clique durchs Quartier. Sie klauen Mangos von den Bäumen der Nachbarn, baden im Fluss und treffen sich in einem ausgeweideten Autobus. Aber nicht nur die politische Situation im Land spitzt sich zu. «Nachts liess Mamas Zorn die Wände unseres Hauses wackeln.» Gabriel muss zusehen, wie die Ehe der Eltern immer mehr zu Maskerade wird, bis sie auseinanderbricht und Gabriels Mutter das Haus verlässt. Das Paradies beginnt zu bröckeln. Aber auch im Land rumort es. Obwohl die ersten freien Präsidentschaftswahlen Grund zur Hoffnung wären, stirbt diese, durch Morde und Attentate. Das empfindliche Ungleichgewicht im Land beginnt zu kippen. Gabriel und seine Freunde hören in der Ferne Schüsse. Das Personal in Gabriels Elternhaus erscheint nicht zur Arbeit und die Schule bleibt geschlossen. Angst schleicht sich ein. Ein Gefühl, das Gabriel so nicht kannte. «Da kann ich in meinem Gedächtnis wühlen, wie ich will, ich komme nicht mehr auf den Moment, ab dem es uns nicht mehr reichte, das bisschen zu teilen, was wir besassen, und wir keinem mehr trauten, jeden als Gefahr ansahen, eine unsichtbare Grenze zogen gegen die Aussenwelt, unser Viertel zur Festung erklärten und unsere Sackgasse zum Sperrgebiet.»

So beschaulich sich der erste Teil des Romans liest, so schrecklich, beissend und unwirklich wird das Geschehen im zweiten Teil von «Kleines Land». Gabriels Welt bricht auseinander. Aus lauter Angst kehrt die Mutter zurück ins Haus. Doch der Krieg im Land frisst sich in die Herzen aller. Die Reise zur Hochzeit von Verwandten wird zum Spiessrutenlauf und ein verzweifelter Anruf zum letzten Lebenszeichen. Gabriels Vater schafft zusammen mit seinen beiden Kindern die Flucht ins ehemalige Mutterland Frankreich. Die Mutter bleibt zurück. Mit ihr die für immer verlorene Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Sicherheit.

Ich gebe zu, das Buch hat seine Schwächen. Vieles von dem, was der Autor «verspricht», von dem er zu erzählen beginnt, lässt er fallen. So poetisch die Sprache in manchen Passagen ist, so hölzern an anderen. Und doch schafft es Gaël Faye mit seinem Buch, dass eine Tür aufgerissen wird. «Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.» Gaël Fayes Roman zwingt einem, nachzudenken. «Kleines Land» ist ein Buch über unheilbaren Verlust. Über den Irrtum, dass man sich durch Flucht zu retten vermag.

Gaël Faye, 1982 in Burundi geboren, wuchs als Kind einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters auf, bevor er 1995 als Folge des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten musste. Nach dem Ende seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er zwei Jahre als Investmentbanker in London, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um dort als Autor, Musiker und Sänger zu arbeiten. Sein erster Roman »Kleines Land« war nominiert für den Prix Goncourt und erhielt unter anderem den Prix Goncourt des Lycéens.
Übersetzer: Andrea Alvermann und Brigitte Grosse

Ein Buch zur Vertiefung: «Hundert Tage» (2008, Wallstein Verlag) von Lukas Bärfuss!
Ein sehenswerter Film: «Hotel Ruanda» von Terry George, 2004

Webseite des Autors

Birgit Vanderbeke „Wer dann noch lachen kann“, Piper

Ich las Birgit Vanderbekes neuen Roman „Wer dann noch lachen kann“ mit angehaltenem Atem. Ein Buch, das zur Sprache bringt, worüber andere schweigen. Birgit Vanderbeke traut sich hinzuschauen, tut das, was ihr Herr Winkelmann damals im Flüchtlingslager, als sie selbst ein kleines Mädchen war, ans Herz legte. Er sagte: Immer ganz genau hinschauen, hörst du!

Birgit Vanderbekes Bühne ist die Familie. Keine Bühne mit Kulissen, sondern  wahrhaftiger Hintergrund. Sie erzählt von ihrer Kindheit, die man keinem Kind wünscht. „In dieser Sache hatte ich etwas Pech.“ Was lakonisch klingt, ist Programm des Romans. Birgit Vanderbeke malt nicht den Schmerz und die Verwundung. Sie zelebriert die Kraft, die sie daraus entwickelt. Eine Kraft, die sie zu Sprache macht.

Vater und Mutter sind da, wenn auch nicht so, wie es sich für das Idyll Kleinfamilie ziemt. Vater arbeitet sich in leitende Funktion hoch in der Chemie und Mutter versucht sich nach einem Arbeitstag als Lehrerin als Mutter und Hausfrau. Was nach Familie aussieht, birgt Höllenqualen. Schon ganz am Anfang des Romans setzt die Autorin dem Schicksal des Mädchens in ihrem Buch all die Schicksale Verfolgter, Geflohener, Heimatloser, Ertrunkener gegenüber. Solcher, die nicht „bloss“ Pech mit den Eltern, sondern Pech mit ihrer ganzen Welt, selbst mit ihrem eigenen Leben hatten und haben.

Mit der Familie geflohen aus dem Osten, vorübergehend in einem Flüchtlingslager und im Westen alles daran setzend, am Aufschwung teilzuhaben, ist das kleine Mädchen, das oft nicht will, wie man es gerne hätte, eine Last, ein Prüfstein, ein lästiger Klotz. Je länger die Kampfehe der Eltern dauert, je tiefer sich die Mutter in Abhängigkeiten von Ärzten und Medikamenten, von Beruhigungsmitteln und Diagnosen verliert, desto wichtiger wird abends die starke Hand des Vaters, die den Bengel ins Lot prügeln soll. „Das Mädchen braucht eine starke Hand.“ Und wenn das noch zu wenig ist, auch einmal eine Portion Valium aus dem Tablettensortiment der Mutter.

Das Mädchen hat nur sich selbst und die tiefe Stimme im Ohr, die sie liebevoll „Karline“ nennt. Und nachts tröstet sie der Mikrochinese, dem sie alles erzählen kann.

„Sie hören dir einfach nicht zu und denken, wenn sie dir nicht zuhören, hälst du irgendwann die Klappe, bist endlich still und isst deine grünen Bohnen.“

Die Misshandlungen an der Tochter werden zum Martyrium. Bei den Ausbrüchen des Vaters bleibt es nicht. Ebenso tief gehen die verbalen Verunglimpfungen der Mutter. Beschimpfungen und Verurteilungen, die mit Mutterliebe nichts gemein zu haben scheinen. Sie beschreiben höchstens den Grad der mütterlichen Verzweiflung. Ebenso schmerzhaft sind die nicht enden wollenden Gänge zu einer ganzen Kette von Ärzten – bis es mir als Leser beinahe den Magen umdreht.

Viel später lässt sich die mittlerweile junge Frau nach einem Verkehrsunfall überreden, einen Mikrokinesietherapeuten zu konsultieren. Er würde ihre dauernden Schmerzen im Gegensatz zur traditionellen Medizin behandeln können. Was dort geschieht, unter den Händen eines alten Mannes, dessen Wesen die Verkörperung des Mikrochinesen aus der Kindheit zu sein scheint, ist viel mehr als Schmerztherapie.

Birgit Vanderbekes Roman ist nicht einfach, weil ihre Sprache den Inhalt kontrastiert. In wenigen Sätzen steckt derart viel Katastrophe, ohne dass die Autorin diese ausmalt, dass einem beim Lesen klamm wird. Warum diesen Roman trotzdem lesen? Wer nicht bloss zur Erbauung und Unterhaltung liest, wer sich wie von Herrn Winkelmann damals im Flüchtlingslager aufgefordert fühlt, genau hinzuschauen, liest dieses Buch und staunt.

Fünf Fragen an Birgit Vanderbeke:

So wie Kinder in den Jahren des unbegrenzt scheinenden Aufschwungs oft sich selbst überlassen waren, so kontrolliert sind sie in der Gegenwart, nie mehr allein, ständig in digitaler Begleitung. Letzthin beklagte sich ein in die Jahre gekommener Pädagoge am Radio, er vermisse das Kindergeschrei draussen. So sehr aus übermässiger „Freiheit“ damals Einsamkeit werden konnte, scheinen sich Kinder und Jugendliche heute in der digitalen Vernetzung zu verfangen. Welchen Rat gäben Sie einer werdenden Familie?

Die digitale Kindheit ist eine Katastrophe.
Ich mag, was Edward Snowden dazu gesagt hat: „Ein heute geborenes Kind wird nicht mehr wissen, was Privatleben ist. Es wird nicht mehr wissen, was ein Moment Privatsphäre bedeutet, einen Gedanken zu haben, der weder aufgenommen wurde, noch analysiert. Das ist ein Problem, denn das Privatleben ist wichtig, das Privatleben hilft uns zu bestimmen, wer wir sind und wer wir sein wollen.“
Und da allerdings fangen auch die kulturellen Unterschiede an. In Frankreich, wo ich lebe und wo mein vierjähriges Enkelkind lebt, sind
 die Bedingungen für eine Kindheit vermutlich etwas anders als in der Schweiz. Ganz sicher sind sie anders als in Deutschland. Hier in Frankreich werden die Kinder zunehmend nicht mehr geboren, sondern per Kaiserschnitt in die Welt befördert und sodann immer häufiger nicht gestillt, sondern mit künstlicher Nahrung gefüttert. Dies ist ein Trend in allen westlichen Ländern, der sich in naher Zukunft eher verstärken dürfte. Die Mütter in Frankreich geben – aus historischen Gründen und seit dem Ende des 2. Weltkriegs – ihre Kleinkinder sehr früh aus den Händen, oft schon im Alter von sechs Wochen, und lassen sie auswärtig betreuen. Die Folge ist in Frankreich ein, vorsichtig gesagt, kühles Verhältnis zu Kindern. Dazu paßt, dass junge Eltern schon mal den pädagogischen Rat bekommen, ihre Kinder während der ersten sechs Monate von elektronischen Medien möglichst fernzuhalten. Ab dann offenbar nicht mehr. Ich sehe im Sommer regelmäßig mengenweise Mütter, die in der Badeanstalt mit dem Display ihrer Apparate beschäftigt sind, während ihre Kinder gerade ihre ersten Kopfsprünge oder sonst irgendwas machen, für das sie sich sonderbarerweise Aufmerksamkeit, Beachtung oder sogar ein Lob gewünscht hätten, aber sie sind es nicht gewöhnt. In keinem Bereich ihres Kinderlebens. Selbst beim Essen.
Frankreich ist, was Kinder betrifft, vom ersten Lebenstag an eine weitgehend empathiefreie Zone. Entsprechend unbekümmert bedienen sich Eltern elektronischer Technologien, um sich ihre Kinder vom Leib zu halten, wobei „vom Leib halten“ ganz wörtlich zu nehmen ist: weg vom eigenen Körper. Auf Abstand. Von ganz klein an.
Umgekehrt ist es ebenfalls nicht ganz leicht: technologische und elektronische Abstinenz kann von einem bestimmten Alter an zum Handicap für ein Kind werden. Ich denke gerade jetzt oft darüber nach, weil im Augenblick unser Sohn und seine Frau der Auffassung sind, Louis sei noch nicht bereit dafür, den „kleinen Lord“ zu sehen, während ich der Auffassung bin, dass Louis besser demnächst den „kleinen Lord“ sehen sollte, als irgendwann mal bei einem Kindergeburtstag mit einem „ersten“ richtigen Film konfrontiert zu werden, den sich seine Eltern in diesem Fall nicht selbst aussuchen konnten. Nur am Rande: genau das ist im übrigen schon geschehen. Louis war mit seiner Schulklasse sogar schon zweimal im Kino, beide Male wurden Zeichentrickfilme gezeigt, die Eltern waren nicht dabei und wissen also nicht, was Louis gesehen hat. Einem solchen Kinobesuch hätte ich zum Beispiel nicht zugestimmt, während ich nichts dabei gefunden habe, mit meinem Sohn im selben Alter im Kino zuerst „Mary Poppins“, später „Sindbad der Seefahrer“ und im Alter von fünf Jahren zu Hause eine Kassette mit „Hatari“ anzuschauen, letztere Kassette übrigens so oft, dass er den Film bis heute auswendig kann. Fernsehen wiederum gab es nicht, und zwar weder für die Erwachsenen noch fürs Kind.
Das Spektrum reicht also von der kompletten Gleichgültigkeit, infolgedessen der elektronischen Verwahrlosung bis hin zu Zensurmaßnahmen im Dienste eines Kindeswohls, dessen Wahrnehmung oder auch Definition selbstverständlich im Rahmen des elterlichen Machtbereichs liegt, von dem man Eltern bitten möchte, ihn gelegentlich zu reflektieren, was aber sehr schwer ist, weil man als junge Mütter/Väter unaufhörlich mit grauenvollem pseudo-pädagogischen (wie auch pseudo-ernährungswissenschaftlichem) Zeug traktiert wird und das Kindeswohl ein heiß umkämpfter Markt mächtiger Protagonisten ist. Ich kann mich erinnern, dass ich „seinerzeit“ versucht habe, mich in der Beziehung zu unserem Sohn am liebsten überhaupt nicht pädagogisch, sondern nach Möglichkeit auf Augenhöhe zu verhalten, was ich im übrigen auch heute vertreten würde, weil ich es für ein Merkmal demokratischen Umgangs überhaupt halte.

Aus den Wunden Ihrer Kindheit wurde später schöpferische Kraft. Auch wenn der Schmerz durchdringt, höre ich keinen Zorn und schon gar keine Verbitterung. War es der Rat von Herrn Winkelmann, genau hinzuschauen, der Sie vor der seelischen Verätzung bewahrte? Nicht nur genau nach aussen hinzuschauen, sondern auch nach innen?

Ich habe diesem Onkel Winkelmann sehr vieles zu verdanken (und seiner Frau Eka und ihrem Mann, Onkel Grewatsch, ebenfalls, allen dreien): Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Beispiel. Güte. Geduld mit mir und anderen. Vielfältigkeit im Leben und Denken. Aber auch eine gewisse Unerbittlichkeit. Gründlichkeit. Mut.

Sie setzen das Unglück des Mädchens von Beginn weg in Relation zu all den schlimmen Kinderschicksalen der Gegenwart. Verbirgt sich darin eine Spur Scham? Ihr Roman ist alles andere als eine nach innen gerichtete Bauchnabelschau, das das eigene Schicksal über alle andere setzt. Wieviel Optimismus ist übrig geblieben?

Keineswegs schäme ich mich für Dinge, die mir zugefügt worden sind, allerdings habe ich lange über etwas nachgedacht, was im Augenblick eine gefährliche Wendung in den westlichen Zivilisationen nimmt. Ich denke, dass ein Opfer das Recht hat, auf eine Tat hinzuweisen, die an ihm begangen worden ist. Im Strafrecht nennt man das „eine Anklage erheben“. Das Opfer ist allerdings nicht zu einem Urteil befugt. Das ist allein ein Richter. In der kürzlich zur Hysterie getriebenen „Me-too“-Welle hat man sehr genau sehen können, dass da etwas Entscheidendes vor einiger Zeit eingeführt wurde und inzwischen sehr drastisch passiert, indem nämlich die selbsternannten Opfer in unseren Kulturen zu ebenfalls selbsternannten (und von Medien in ihrer Selbsternennung ermutigten) Richtern werden. Das ist außerordentlich gefährlich, es setzt unser Rechtssystem außer kraft, und zwar nicht nur das juristische, sondern ganz allgemein unseren Kompaß, der ohnehin schon sehr ungesund auf die beiden Pole „Gut“ gegen „Böse“ zusammengeschrumpft worden ist. Das, was dazwischen liegt, nämlich der überwiegende Teil dessen, was Leben ausmacht, wird in seiner gesamten „Artenvielfalt“ mal kurz verdampft. Was inzwischen der Form nach entstanden ist, könnte man so formulieren: Jemand glaubt, dass ihm jemand anderes etwas Unerlaubtes angetan hat. Unerlaubt ist inzwischen dank unserer jahrelangen Übung in «political correctness» ziemlich vieles, manche dieser Verbote kenne ich oder kennt der „Täter» vielleicht gar nicht jeder, aber so ist es. Aufgrund dessen, was also jemand glaubt, dass ihm an Unerlaubtem angetan ist von jemandem, der vielleicht zum Zeitpunkt der Tat gar nicht wußte, dass es nicht erlaubt ist oder war, wird dieser Täter mal kurzerhand von demjenigen, der glaubt, dass ihm das angetan worden ist und von dem inzwischen jedenfalls die Medien wissen, dass es verboten ist oder war, verurteilt, und zwar immer zur Höchststrafe, weshalb ja Kevin Spacey heute seinen Beruf so wenig mehr ausüben kann wie Sebastian Edathy und Jörg Kachelmann, an dessen „Fall“ man genau erkennen kann, worum dieses Opfer-Theater geht, denn Jörg Kachelmann kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, obwohl ein Gericht ihn freigesprochen hat, und auch in Spaceys und Edathys Fall hat es entweder gar keinen Prozeß oder gar keine Verurteilung seitens eines Gerichtes gegeben. Wir sind also im Begriff, die Exekutive in den westlichen Zivilisationen aus der Instanz zu entfernen, wo sie in demokratische Verfassungen zu liegen hat und in gesellschaftliche Hände zu verlagern, die nicht dazu ermächtigt sein sollten, Urteile zu fällen und Strafen zu verhängen.

Sie erzählen in Ihrem Roman nicht aus. Da bleiben viele Leerstellen, die sich während des Lesens aber unweigerlich mit Vorstellung füllen. Manchmal beinahe penetrant, vorschnell. Sie erzählen aus einer Innensicht, spitzen zu, was mir als Leser oft den Atem stocken liess, auch aus Angst, was alles noch passieren könnte. Ihre Sprache braucht Stimme. Viele Passagen las ich laut – und sie drangen tief ein. Sie reduzieren, verdichten. Sind sie eine Dichterin?

Dichten ist rhetorisch das „Verdichten“, das metaphorische Sprechen und Denken.
In diesem Sinn bin ich absolut keine Dichterin.
Was ich tue, ist genau das Gegenteil: ich versuche, Zusammenhänge aus der Metapher rauszuholen. Ich denke – wie die meisten Frauen – überwiegend metonymisch. Das setze ich ein, um scheinbar von Stöckchen auf Hölzchen zu kommen (oder umgekehrt), assoziative Schleifen, das Abschweifen, auch manchmal das Weglassen zu erlauben, mit den Erträgen, die ich beim Abschweifen und Weglassen gesammelt habe, wieder zurückzugehen und auf diese Weise Klarheit in Verhältnisse zu bringen, die ich als „verschwiemelt“ oder auch metaphorisch verfestigt oder verknotet empfinde. Ich versuche, Klarheit zu gewinnen, weil ich glaube, dass Klarheit etwas Wunderbares und Erstrebenswertes ist.

Sie widmen Ihre Aufmerksamkeit nicht dem Schmerz, sondern der Kraft, der inneren Kraft, der Selbstheilung. Wo ist die Grenze? Wie schafft man es, aus Schmerz kreative Energie zu gewinnen?

Keine Ahnung.
Ehrlich.
Aber ich denke darüber nach. Der dritte Band dieser Trilogie hat seit vergangener Woche einen Titel, den ich noch nicht verraten möchte. Bei mir selbst habe ich ein Wort für das, was im Augenblick ziemlich gelöscht wird und ziemlich weit auch schon ausgelöscht worden ist, und ich denke, da liegt ein Schlüssel: Es so etwas wie „Menschenwissen“.
Vielleicht kriege ich’s raus oder komme der Antwort näher. Ich weiß es noch nicht.

Frau Vanderbeke. Ich bin tief beeindruckt von der Offenheit, die Sie zeigen. Ich bedanke mich für die geschenkte Zeit und bin sicher, dass die Antworten längst nicht nur mich zum Nachdenken zwingen.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.

Webseite der Autorin 

Besprechung ihres vorletzten Romans auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Annette Pehnt „Lexikon der Liebe“, Piper

Nachdem vor ein paar Jahren bei Piper der erste Band «Lexikon der Angst» herauskam, leuchtet Annette Pehnt in ihrem neuen Erzählband «Lexikon der Liebe» die Spielarten der Liebe aus. Nie sentimental, ohne rosa Brille, dafür mit viel Empathie und einem klaren, scharfen Blick in die Tiefen der Psyche, gepaart mit traumwandlerischem, sprachlichem Können.

Annette Pehnt ist eine Beobachterin, jemand, der sich nicht von Fassaden blenden lässt. Eine Schriftstellerin, die sowohl in ihrem Beobachten und auch in ihrem Schreiben um die Feinheiten, die Zwischentöne, das Bild dahinter bemüht ist. Annette Pehnt muss eine fleissige Schreiberin sein. Was sich unter alphabetisch gesetzten Titeln im Band «Lexikon der Liebe» sammelte, sind Geschichten, Augenblicke, Szenen, in denen sich Aussicht und Weitsicht auftut. Kein Lexikon, das den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen soll. Annette Pehnt fühlt in all den Texten mit und nach, ohne dass es emotionale Fäden zieht. Sie braucht keine Brille. Sie erzeugt ungeheure Nähe. Ob sie blinde Nähe einer Mutter, stumme Leidenschaft in einem Hotelzimmer oder den Kult um einen Gegenstand beschreibt, es sind Sehnsüchte aller Art. Annette Pehnt schreibt, was den Menschen bewegt. Im ersten Band war es die Angst, im zweiten nun die Liebe. Keine Rührseeligkeit und Sentimentalität. Ich erkenne mich und die Welt in ihren Texten wieder. Sie lügen nicht, heucheln nicht, machen mir nichts vor. Sie widerspiegeln, auch wenn der Spiegel zuweilen beschlagen den unmittelbaren Blick zurückprallen lässt. Manche Texte brauchen Zeit. Ein Buch, aus dem man sich gerne vor dem Einschlafen vorliest.

Vor Wikizeiten muss es Menschen gegeben haben, die aus purer Neugier in einem Lexikon blätterteten und lasen, auf der Suche nach nichts. Unter trügerischen Stichworten wie «Geschenk», «Knospen» oder «Morgenlicht» verbergen sich Miniaturen grosser und kleiner Ängste, fremder und bekannter. Die Angst einer Frau vor den Berührungen ihres Mannes, die Angst vor dem eigenen Schatten, die Angst, unnütz zu sein. Dramatisches, Unabänderliches, Tragisches, jeder Text Stoff für einen Roman. Da schreibt jemand, der die Psyche kennt, nicht nur die eigenen Ängste freizügig ausbreitet. Manche Texte sind abgerundet und «fertig» erzählt. Andere zwingen mich, die Gedanken, die Szene weiterzuspinnen bis zur Selbstreflexion.

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie als Dozentin und freie Autorin mit ihrer Familie in Freiburg im Breisgau. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2011 erschien ihr Roman »Chronik der Nähe«, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband »Lexikon der Angst«, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie »Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher«. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen »Der Bärbeiß«. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Briefe an Charley«.

Webseite der Autorin

Georg M. Oswald «Alle, die du liebst», Piper

Das braucht es! Romane wie «Alle, die du liebst», die einen Lesesonntag zu einem wirklich guten Tag werden lassen. Perfekte Unterhaltung, Spannung bis zur letzten Seite, ein Plot, der mit Aktualität fest verknüpft ist, eine Sprache, die scharf zeichnet und das Gefühl, dass die Geschichte etwas mit meinem Leben zu tun hat.

So wie Hartmut Wilke im Roman ist Georg M. Oswald Anwalt. Beide sind über 50 und erfolgreich. Hartmut Wilke als Anwalt in Steuerfragen, Georg M. Oswald seit zwei Jahrzehnten als Schriftsteller verschiedenster Genres. Sonst allerdings hoffe ich für den Autor, dass sich die Gemeinsamkeiten damit eingrenzen lassen. Hartmut Wilkes Leben ist aus den Fugen geraten. Die Liebe seines Lebens hat sich von ihm getrennt und führt einen gnadenlosen Scheidungskrieg. Zu seinen drei erwachsenen Kindern hat er den Draht verloren. Jenen zu seinem ältesten Sohn Erik schon lange. Seine um zwei Jahrzehnte jüngere Freundin Ines lässt ihn zweifeln, was die Gründe ihrer Beziehung sein könnten. Und von seiner Kanzlei erhält er einen Anruf, der ihn in die ehrgeizigen «Klauen» einer jungen, aufstrebenden Staatsanwältin in Sachen Steuerbetrug treiben soll. Sein Erfolg, seine Reputation, sein Haus, das grosse Auto und die siebenstellige Knautschzone auf der Bank; nichts hilft mehr, den freien Fall des erfolgsgewohnten Anwalts aufzuhalten.

Als Erik, der älterste Sohn, jener, der kein Ding zu einem guten Ende zu bringen schien, ihn vor Jahren um Geld bat, um an der kenianischen Küste eine Bar zu kaufen, schlug Hartmut die Bitte seines Sohnes in den Wind. Es war für beide das letzte Kapitel einer langen Kette von Enttäuschungen und für beide Grund genug, den Kontakt sterben zu lassen. Bis das Drängen seiner Freundin Ines und die Reise nach Kenia Gründe genug waren, den heimischen Schlamassel zurückzulassen und wenigstens zu Erik zurückzufinden. Hartmut und Ines reisen trotz Warnungen des Auswärtigen Amtes nach Kenia auf Kiani Island im Indischen Ozean. Ein Ort, der trotz seines paradisischen Aussehens nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er im Würgegriff verfeindeter Warlords und einer korrupten Polizei ist. Eine Reise vom Regen in die Traufe.

Die Welt ist voller Siegertypen, denen stets der Erfolg Recht gibt, die nichts und niemanden zu hinterfragen brauchen, am wenigsten sich selbst. Die erste, die Hartmut von seinem Thron stürzt, ist Carla, seine Frau. Als sie erfährt, dass ihr Mann seine Libido auf eine wesentlich Jüngere aus seiner Kanzlei richtet und sie schamlos belügt, setzt sie ihn nicht nur vor die Tür, sondern kündigt an, ihn förmlich auszuweiden. Was einst die Liebe seines Lebens war, hatte er verraten. Nichts und niemand scheint ihn mehr vor den Verwüstungen eines Ehe- und Berufskriegs zu schützen.

Hartmut und Ines reisen nach Kenia. Erik erwartet sie nach einer beschwerlichen Reise in seinem noblen Zuhause, einem Ferien- und Fluchtressort im Meer für Reiche und reiche Flüchtlinge. Schon am ersten Tag, als ein ganzes Hotel auf einen Mister Jack zu warten scheint, einen gefallenen Anwalt, der sich auf der Insel durch Beziehungen und Geld unentbehrlich machte und dem es zu huldigen gilt, macht sich Unbehagen breit. Was ungut beginnt, potenziert sich in seiner Unberechenbarkeit. Alles scheint sich dem «deutschen» Verständnis von Recht und Ordnung zu entziehen. Nichts ist so, wie es sich Hartmut erhofft. Auch vor paradiesischer Kulisse reissen die Ankerketten, die Ereignisse überstürzen sich. Endgültig, als auf der Insel geschossen wird. Was als Versöhnungsreise begonnen hatte, wird zur wilden Konfrontation zweier Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

Georg M. Oswald spielt geschickt mit Spannung, unerwarteten Wendungen, den Hoffnungen des Lesers und dem Reiz, seinen Protagonisten in ein immer grösser werdendes Desaster fallen zu lassen, ohne je die Bodenhaftung zur Realität zu verlieren. Spannungsliteratur mit Niveau!

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.

Wie magisch war „Magischer Realismus“ in Zürich wirklich?

„Zürich liest 2017“
Eine Überfülle an Literatur in Zürich? Spüre ich etwas davon, dass „Zürch liest“, wenn ich aus dem Zug in Zürich steige? Vielleicht müsste ich randalieren, einen Zug per Notbremse zum Halten zwingen, ein Riesenaufgebot an Polizei provozieren, so wie beim Risikofussballspiel zwischen Basel und Zürich. Müsste geschriebene Kunst nicht etwas mehr, als gefällig mit Sprache winken? Wo bleibt die Schärfe, der Mut, der Biss in der Spektakelstadt Zürich?

In einem der Flaggschiffe des Zürcher Literaturfestivals „Zürich liest 2017“, im Literaturhaus Zürich, lasen am Samstag Mariana Leky aus ihrem Bestsellerroman „Was man von hier aus sehen kann“ und Sten Nadolny aus „Das Glück des Zauberers“. Beide wurden sie mit ihren Romanen von ihren jeweiligen Moderationen zum „Magischen Realismus“ gezählt, der Verschmelzung von magischer Realität und realer Wirklichkeit. Aber wie magisch war dieser Abend im Literaturhaus Zürich denn wirklich?

Mariana Lekys Roman ist ein Dorfkosmos rund um Selma, die feststellen muss, dass immer, wenn sie nachts von einem Okapi träumt, jemand im Dorf innert 24 Stunden stirbt. Eine scheinbare Tatsache, die ein ganzes Dorf umtreibt. „Schon einmal ein Okapi gesehen?“, fragte die Auorin. „Irgendwie zusammengesetzte Tiere, irgendwie aus bekannten Einzelteilen zu einem neuen, nicht wirklich passendem, zusammengesetzt.“ Das Okapi ist das „Wappentier“ des Romans. So, wie viele die Menschen im Buch in ihren „Einzelteilen“ nicht wirklich zusammenpassen, sieht das Okapi zusammengesetzt aus. Mariana Leky erzählt langsam und genau, verstärkt durch ihre sprachliche Präzision meinen Blick. Sie versteht es, Menschen darzustellen, die langsam und doch mutig sind, etwas, was im realen Leben nicht zusammenzupassen scheint. Mariana Leky erzählt von Luise und ihrer Wunschgrossmutter Selma. Von Eltern, die nie da sind, wenn sie gebraucht werden und über einen grossen Bogen von der 22 Jahre alt gewordenen Luise, die auf der Suche nach ihrem verloren gegangenen Hund Alaska einen 25jährigen buddhistischen Mönch trifft, der zum Mann ihres Lebens wird, sie, die Verstockte, sie, die für einmal die Initiative ergreift. Nicht wie der Optiker im Dorf, der seine Liebe zu Selma, Luises Grossmutter, über Jahrzehnte in einem Bündel Liebesbriefe mit sich herumträgt.
Ergreifende Literatur, wunderbar leicht erzählt. Ein zartes Buch über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Nur oberflächlich betrachtet Wohlfühlliteratur. Mariana Leky macht im Kleinen Grosses auf. Es passieren durchaus tragische Dinge, aber ohne dass mit der Axt geschwungen wird. Tragik von Komik flankiert. Nicht dass am Schluss alles gut sein müsste. Aber Mariana Lekys Buch tut gut.

Etwas, was Sten Nadolny so nicht gelingen will. Nadolny erzählt in zwölf langen Briefen, die der grosse Zauberer Pahroc seiner Enkelin Mathilde schreibt, von 111 Jahren eines grossen Zaubererlebens und eines schrecklichen Jahrhunderts. Mag sein, dass das „Zauberthema“ arg strapaziert ist und ich als Nadolny-Leser mit jedem Roman des Autors jene absolute Faszination zurückwünsche, die ich seit drei Jahrzehnten seit seinem unübertroffenenen Buch „Entdeckung der Langsamkeit“ erwarte. Sten Nadolny bemüht sich, paart Witz mit Düsternis, Schrecken mit Komik, Magie mit der Grausamkeit von Krieg, Schmerz und Verzweiflung. Sehe ich den mittlerweile über 75 Jahre alt gewordenen auf der Bühne erzählen und funkeln, nimmt er mich noch immer für sich ein. Selbst das mir fremde Thema, das er zu einer Metapher für intelligente, kreative und bewegliche Menschen gesehen haben will, die permanent in der Gefahr seien, zu einer Minderheit zu werden. Heute erst recht, in einer Zeit von Engstirnigkeit und Borniertheit, wo blanker Hass und dumpfer Nationalismus Politik machen. Dem Roman fehlt die Tiefe, vielen Szenen der Atem. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, lesen Sie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – epochal!

Magisch waren die beiden Gäste auf der Bühne, magisch und literarisch aber nur der Roman von Mariana Leky.

Und die Magie einer Stadt, die liest? Zürich liest nicht mehr oder weniger als andere Städte, mit oder ohne Literaturfestival. Zürich liest in geschlossenen Räumen, still für sich, alle jenen Recht gebend, die Literatur Eliten und Abgeschotteten zuordnen. Schade.

Mareike Krügel «Sieh mich an», Piper

Ein Mann, der nicht da ist, eine Tochter mit ADHS, Barbie und Ken in der Stube, zwei ausgebüxte Ratten, ein abschnittener Daumen im Schnee und ein brennender Trockner – Katharina hätte genung am Hals, wenn da nicht auch noch das eine wäre, das sie nicht über die Lippen bringt.

Zugegeben, es brauchte eine Weile, bis ich in den Roman eintauchen konnte. Obwohl schon der erste Satz verrät, worum es in diesem Roman wirklich geht. Aber weil der zweite Satz hiess «Schultüren sind der Eingang zur Hölle» und ich eben ein Interview mit dem Philosophen David Precht gehört hatte, spürte ich eine ordentliche Portion Widerwillen. David Precht würde die Schulen am liebsten abschaffen, hängt ihnen an, in ihnen wehe noch immer der preussische Geist des Drills. Sie seien Mühlen, in denen brave, funktionierende Staatsbürger zugeschiffen werden. Da ich ebenfalls unterrichte, war es nicht ganz einfach weiterzulesen.

Aber Mareike Krügel hat keinen Antischulroman geschrieben. Die Schriftstellerin zeichnet Katharina und ihren verzwickten Alltag. Ein Alltag, der es schwer macht, sich neben all den zwingenden Kleinigkeiten auf das Wesentliche zu konzentrieren. Katharinas Tochter Helena, von allen Helle gerufen, ist elf und eine Rabauke. Da verwundert es auch nicht, dass Katharina sie von der Schule holen muss, weil sie mit unstillbarem Nasenbluten den Teppichboden im Sekretariat versaut, dass Helles Freundinnen ordentlich was abbekommen, Pferde durchbrennen und sie bei einer Freundin übernachten will, wo bei einer Party schon ordentlich gebechert wird. Dass Helle den Stempel ADHS mit sich trägt, hilft Katharina am wenigsten. Helles grosser Bruder ist 17 und das erste Mal an ein Mädchen vergeben, von dem die Nachbarn Theo und Heinz meinen, sie sei ein Volltreffer. Alex ist das genaue Gegenteil seiner quirligen Schwester. Für Katharina allerdings kein Ersatz für ihren Mann Costas, der die Woche über in der Hauptstadt arbeitet und nur an den Wochenenden in «den Schoss der Familie» zurückkehrt. Katharina ist dieser Schoss, das Epizentrum der Familie. So sehr ins Geschehen eingepasst, dass es für die Erschütterungen in ihrem eigenen Leben kaum Platz hat. Auch da türmt sich Schicht um Schicht. Eine Mutter, die sie verlor, ein Vater, der resignierte, eine Schwester, die nicht nur örtlich auf der andern Seite des Planeten wohnt. Da sind Fragen um das eigene Leben, um das verlorene Leben ihrer zweiten Tochter, eine Ehe, die abhanden kommt und diese Knoten in ihr, die von ihr Besitz ergreifen.

«Es gibt mich noch.»

«Sieh mich an» ist mehr als ein Familienroman. Aber ein Roman, der die Familie zum Schauplatz macht, der die grossen Gesten, die grossen Fragen in das Kleingefüge «Familie» setzt. Mareike Krügel beschreibt einen einzigen Tag, der alles widerspiegelt, was das zugepappte Leben Katharinas ausmacht. Eine Minikatastrophe reiht sich an die nächste. Kein Platz für die grosse Katastrophe, die in Katharina wächst. Für Katharinas grosse Angst findet sich weder Platz noch einoffenes Ohr. Da ist auch der ehemalige WG-Freund, der sich abends angemeldet hat, nicht der Richtige. Ein Gesellschaftsroman über modernes Leben, duchgestylt scheinendes Reiheneinfamilienhausdasein. Wie sehr sich die Familie in die Modeströmungen einspannen lässt. Wie sehr man sich knechten lässt von den Errungenschaften des modernen Lebens. Ein Frauenroman? Mit Sicherheit auch, denn die grossen Abwesenden in diesem Roman sind die Männer. Selbst die hilfsbereiten Nachbarn Theo und Heinz sind genetisch keine Männer. Und Costas, Katharinas Mann, weit weg in Berlin, abends an einer Firmenfeier in einem Berliner Hotel, während Katharinas Leben zu entgleisen droht. Ein Roman nur für Frauen? Bei weitem nicht. So erhellend wie hundert Ratgeber. So spannend wie ein Krimi. So einfühlsam, wie sich eine Frau den Mann wünscht. So direkt, dass es einem bei der Lektüre manchmal fast den Atem nimmt. «Sieh mich an» ist eine Aufforderung, so wie das Buch. Aber ganz ohne Mitleid, dafür mit Wirz, Ironie und Schalk.

Ein kleines Mail-Interview mit Mareike Krügel:

In Ihrem Roman «Sieh mich an» ertrinkt Katharina fast in ihren Pflichten, ihren Aufgaben, ihren Sorgen und Nöten. Das wird auch der Grund sein, warum sich viele, vornehmlich Leserinnen, von diesem Roman wiedererkannt und verstanden fühlen. Ist doch aber eigentlich paradox; Wir leben in einer hoch technisierten und durchorganisierten Welt. Und doch scheint Familienleben nicht einfacher zu werden. Muss man akzeptieren?
Ja, das lässt sich, glaube ich, nicht ändern. Mehr Technik und Organisation sind der nicht Schlüssel zu mehr Gelassenheit, und wenn es etwas gibt, das sich in den Familienstrukturen in den letzten Jahrzehnten verändert hat – meiner Einschätzung nach -, dann sind es die Beziehungen. Weil es wenig Vorbilder gibt, schießen viele Eltern damit etwas übers Ziel hinaus, aber grundsätzlich halte ich es für eine der besten Veränderungen des westlichen Abendlandes: Der Versuch, zu seinen Kindern echte Beziehungen aufzubauen, sie wahrhaftig zu begleiten, sie nicht nur irgendwie durchzubringen. Das ist kompliziert und mitunter überfordernd.

«Sieh mich an» ist eine Aufforderung. Da hätte auch noch ein Ausrufezeichen gepasst. Während Costa in Berlin vor der Firmenfeier an der Kravattenfrage scheitert, gibt es für seine Frau Katharina nur den Angriff nach vorn. Ist das der Mutterinstinkt, der verhindert, dass Katharina lange nicht tut, wonach es in ihrem Innern schreit?
Der Mutterinstinkt, dessen genaue Definition ich nicht kenne, spielt vermutlich in den ersten Lebensjahren der Kinder eine übergeordnete Rolle und mag in dieser Zeit dazu beitragen, dass Mütter sich selbst zurücknehmen oder sogar ihre Bedürfnisse hintanstellen. Danach aber vermute ich als Ursache für Katharinas – und vieler anderer Frauen – Selbstverleugnung die immer noch gültige unsägliche Sozialisierung der weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft.

Sie mobilisieren in Ihrem Roman viele Urängste. Die Angst, vor seinen Kindern zu sterben, nicht zu wissen, wohin und wie ihr Weg verläuft. Die Angst, vor lauter Aufgaben sich selbst zu vergessen und zu verlieren. Die Angst, sich selber untreu zu werden. Steckte in diesen Ängsten eine der Motivationen, diesen Roman zu schreiben?
Ängste können ein wunderbarer Wegweiser beim Schreiben sein. Ich versuche, beim Schreiben der Angst und der Freude zu folgen. Die Grundmotivation für diesen Roman war aber eher, mich mit den Verstrickungen auseinanderzusetzen, die sich in Familien mitunter ergeben.

Helle, Katharinas Tochter, hat die «Diagnose» ADHS. Aktueller könnte das Thema nicht sein, nachdem ein Professor für Neurobiologie in einer ZDF-Nachrichtensendung die Behauptung aufstellte, ADHS gäbe es nicht, nur in der Köpfen der Pharmaindustrie. Ich weiss sehr gut, wie entlastend eine solche Diagnose sein kann, wenn Eltern annehmen dürfen, dass sie nicht einfach bei der Erziehung versagt haben. Aber Helle zwingt ihre Mutter Katharina an eine Wand. Trösten Sie?
Ich finde, Katharina hält sich ziemlich gut. Und da sie auch die negativen Gefühle ihrer Tochter gegenüber zulässt und nicht kleinzureden versucht, hat die große Liebe und Bewunderung, die sie ihr gegenüber ebenso empfindet, auch eine Chance, sich zu voller Größe zu entfalten. Dabei kann solch eine Diagnose besonders hilfreich sein, weil sie die Eltern von ihrem schlechten Gewissen entlastet und zusätzlich sehr gut nachvollziehbare Erklärungsmodelle anbietet. Und wen man versteht, der zwingt einen auch nicht so leicht an die Wand.

Ihre Verlagschefin Felicitas von Lovenberg pries Ihr Buch schon im Vorfeld, andere stempeln es zum Frauenbuch. (Ich bin überzeugt, dass es Frauenliteratur nicht geben kann. Nur Bücher, die zur Literatur zählen und solche, die allenfalls zur Unterhaltung genügen.) Warum sollen Männer dieses Buch lesen?
Hätten Frauen immer nur Bücher gelesen, die nur für sie gedacht waren, so hätte kein Autor auf diesem Planeten je von seinem Beruf leben können. Wenn sich also Frauen noch nie um diese Kategorien geschert haben, warum sollten Männer das dann tun? Wäre das nicht ein bisschen engstirnig? Und was würde ihnen entgehen. Ein Roman ist eine der wenigen Möglichkeiten, die wir Menschen haben, wirklich einmal «in den Schuhen eines anderen zu gehen».

Liebe Frau Krügel, vielen Dank!

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit 2003 hat sie drei Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Schleswig. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.

Mareike Krügel liest u. a. am 17. Oktober in Konstanz in der Buchhandlung Osiander an der Rosengartenstrasse.

Ein Gespräch mit Mareike Krügel beim NDR

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Jens Eisel «Bevor es hell wird», Piper


Nach dem Buch «Hafenlichter», Jens Eisels Erstling mit Erzählungen, legt der Autor bei Piper mit seinem ersten Roman «Bevor es hell wird» nach. Und nachdem ich den Autor anfragte, ob er für ein paar Fragen bereit wäre, hier das Interview:

Lieber Herr Eisel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Roman! Ein Roman, der mich zuerst kritisch stimmte, dem ich mich auf den ersten Seiten zuerst annähern musste, dessen Themen ich zu Beginn als allzu emotional aufgeladen empfand. Alex kommt aus dem Knast zurück in sein altes Leben, zurück zu einer Vergangenheit, die er mit all seinen Veränderungen zuerst zurückgewinnen muss. Alex kannte seinen Vater nicht, verlor seine Mutter durch Krankheit, als er noch zur Schule ging und zuletzt auch noch seinen einzigen Bruder Dennis. Ihr Roman hätte genügend Potenzial, um mich nach der Lektüre mit Zweifel zurückzulassen. Hat da ein Autor nicht allzu deftig in der Schicksalsschüssel den Stoff schaumig gerührt, das Unglück kulminieren lassen, um mich an der Stange zu halten? Wurde da nicht zwischendurch der Gang an der Grenze zum Kitsch allzu sehr ausgereizt, um meine Empathie anzuheizen? Ihr Roman tat es nicht! Ihr Roman «Bevor es hell wird» machte mich glücklich. Glücklich, weil er mir ehrlich gegenübertritt, weil seine Figuren authentisch sind, weil ich sie erkenne und weil die gewählte Sprache mit Alex› Welt übereinstimmt. Herr Eisel, da gab es die Idee zur Geschichte. Gab es auch den Typus einer Sprache, die sein musste, um Ihre Geschichte zu erzählen? Schon während des Schreibens war mir bewusst, dass der Kitsch-Vorwurf sicher kommen würde. Ein Grund, warum ich amerikanische Erzähler schätze, ist, dass sie keine Angst vor großen Gefühlen haben. Seltsamerweise wird einem Denis Johnson oder einem Richard Ford das in Besprechungen im deutschen Feuilleton nicht vorgeworfen. Sobald sich allerdings ein deutscher Autor einem Stoff emotionaler nähert, läuten sofort überall die Alarmglocken. Und dennoch, ich wollte diese Geschichte so erzählen – und ich werde es auch weiterhin tun. Auch die Sprache ist bewusst gewählt. Ein überbordender Stil würde schlicht und einfach nicht zu dem Erzähler passen.

Nachdem Alex mit 14 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Hamburg zog, waren es die wenigen Monate der Hoffnung. Endlich, nach einer langen Reihe von Umzügen, schien Familienglück auf ihrer Seite zu sein. Alex› Mutter fand einen Job und Dennis einen Ausbildungsplatz im «Krähennest», einem kleinen Restaurant. Und weil Sommerferien waren, streifte Alex in Hamburg herum, freundete sich mit Carmen, einer älteren Kinobetreiberin an, bei der er ebenso ein kleines Stück Zuhause fand wie bei Norman, seinem neu gewonnenen Freund und seines Vaters Autowerkstatt. Norman, ein von seiner Mutter Verlassener und Alex, ein von seinem Vater Verlassener. Alles schien damals zu stimmen. Und als sie dann auch noch zum ersten Mal Familienferien am Meer in einem Zirkuswagen in den Dünen antreten konnten, schien sich das Glück wirklich festzusetzen. Aber ausgerechnet bei dieser Reise kündigte sich an, was sich ein paar Monate später zur grossen Katastrophe auswachsen sollte. Alex› Mutter war krank. Misstrauen Sie dem Glück? Sie beschreiben das Leben einer Familie, die zuvor schon kaum die Nase aus den Schattenseiten des Lebens brachte. Sie als Autor konzentrieren derart viel Unglück, dass Alex später gar Angst davor bekommt, Menschen zu nahe zu kommen, Angst, sein Unglück könne überspringen. Suchen Sie in Ihrem Roman die Grenzen des Unglücks? Wie viel Unglück «braucht» der Mensch, um daran zu zerbrechen, so wie Alex Bruder Dennis? Suchen Sie nach Antworten darauf, warum es die einen schaffen, die andern nicht? Tut Ihnen das Unglück Ihres eigenen Personals während des Schreibens nicht weh? Bevor ich mich ganz dem Schreiben widmete, habe ich ein paar Jahre bei der Diakonie St. Pauli gearbeitet. Ich habe dort hauptsächlich Alkoholiker und Junkies betreut. Einige der Menschen, um die ich mich kümmerte, waren kaum älter als ich. Was all diese Menschen verband, war, dass es an irgendeiner Stelle in ihrem Leben Ereignisse gegeben hatte, die sie aus der Bahn geworfen haben – der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod des Partners. Einige dieser Menschen wurden von mehreren Schicksalsschlägen hintereinander ereilt, waren immer wieder auf die Beine gekommen, bis sie – eine vergleichsweise harmlose Begebenheit – völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Es ist nicht unbedingt das Unglück, was mich beschäftigt. Vielmehr ist es die Frage, was uns zu dem macht, was wir sind. Ich fühle mich meinen Figuren sehr verbunden, und sicher, ich leide auch mit ihnen.

Auch wenn ihr Roman in einem Prolog im Jahr 2004 beginnt und keinen Zweifel darüber lässt, dass da einer tief gefallen ist, spielt ihr Roman grösstenteils auf zwei Zeitebenen. 1996/97, als Alex 14 ist und sein Leben, das zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter noch nie auf der Siegerstrasse spielte, im Moment scheinbarer Entspannung endgültig zu schlingern beginnt. Und 2006, zehn Jahre später, nach zwei Jahren im Knast, von Alex, der sein Leben zu verstehen versucht. Zwei Ereignisse, zwei Geheimnisse sind es, die mich als Leser bis zum Schluss durch ihren Roman peitschen, die die Spannung fast unerträglich werden lassen: Warum musste Alex in den Knast? Und warum gibt es nicht nur ein Grab seiner Mutter, sondern auch eines seines grossen Bruders?
Ich hatte einmal einen Nachbar, der, reich und eitel geworden durch seine Geschäfte, allen Ernstes behauptete, jeder müsse sich nur ordentlich anstrengen, dann würde sich Glück und Erfolg automatisch einstellen. Was würden Sie meinem Nachbarn entgegnen? Es wäre schön, wenn Ihr Nachbar recht hätte. Leider habe ich schon allzu oft das Gegenteil erlebt.

Sie waren mit ihrem Roman auf der Leipziger Buchmesse. Gab es da einen besonderen Moment? An einem der Abende habe ich im Deutschen Literaturinstitut gelesen. Es war das erste Mal, dass ich dort war, seit ich mein Studium abgeschlossen habe, und es war sehr schön in der alten Villa aus meinem Buch zu lesen.

Haben sie ein Buch von Leipzig mit nach Hause genommen? Ja, den neuen Gedichtband von Sascha Kokot. Er heißt FERNER, und ich kann ihn jedem ans Herz legen.

Was geht im Kopf eines Schriftstellers vor, angesichts des Rummels rund ums Buch, der schieren Menge an Neuerscheinungen und dem Wirbel um schreibende Promies? Da ich eine Weile in Leipzig gelebt habe, ist die Messe für mich nichts Neues. Sie gehört für mich zum „Geschäft“. Die Lesung in der Moritzbastei war schön, und ich habe mich gefreut, meine Lektorin zu sehen. Aber insgesamt ist mir die Messe zu hektisch.

Vielen Dank, Jens Eisel. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser: Lesen Sie «Bevor es hell wird»! NDR Buch des Monats April!

Jens Eisel, geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, lebt in Hamburg. Nach einer Schlosserausbildung arbeitete er unter anderem als Lagerarbeiter, Hausmeister und Pfleger. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war 2013 Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Mit seiner Story «Glück» gewann er im selben Jahr den Open Mike.

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Thommie Bayer «Seltene Affären», Piper

Manchmal freue ich mich mit dem Vergnügen in der Vergangenheit gelesener Bücher auf die Neuerscheinung aus der Feder eines ganz bestimmten Autors. Manchmal schon Monate, weil eine Verlagsankündigung lange und intensive Versprechungen machte. Manchmal ist es wie mit einer Flasche eines ganz bestimmten Weins, bei dem das Vergnügen der Vorfreude bis zum letzten Schluck weitergeht. Mit «Seltene Affären» von Thommie Bayer war es ein prickelnder Sommerwein!

Thommie Bayer tut etwas, was die Schriftstellerin, der Schriftsteller kann; Leben in einer Art und Weise erfinden, die neben der Realität zu bestehen vermag, ein Geschehen, das nicht mit Wahrscheinlichkeit gemessen werden muss.
Peter und Paul sind Zwillinge, deren Leben als junge Erwachsene nach einer Kindheit im Gleichschritt in ganz unterschiedliche Richtungen auseinander driftete. Während Paul mehr oder weniger geradlinig sein Studium durchzog, schaukelte sein Bruder Paul von einer Bühne zur nächsten. Was sie verbindet, ist für die längste Zeit ihres Lebens die Liebe zu ein und derselben Frau. Aber nachdem Anne für Jahre aus dem Leben beider entschwunden war, kehrte sie zurück und heiratete Paul, obwohl Peter seiner stillen Liebe zu Anne im entscheidenden Moment viel näher war.
produkt-12325Das zweite, was die beiden Brüder miteinander verbindet, ist das Schreiben. Paul als erfolgreicher Schriftsteller der langen Form und Peter, der unter dem Namen seines Bruders schreibt, in dessen Schatten in der kurzen Form Geschichten liefert. Peter führt aber nicht nur als Autor, als Schreibender ein Schattendasein. Seine Liebe zu Anne stellt ihn selbst in den Schatten. «Seltene Affären» will beweisen, dass sich wirkliche Liebe nicht einfach von einem auf den andern Menschen überstülpen lässt. Und dass Liebe kein Zustand ist: «Es ist nicht so, dass man sie eben einmal in sich entdeckt, und dann ist sie für alle Zeiten da, denn sie richtet sich auf ein lebendes Wesen, und dieses Wesen verändert sich. Folgt diese Liebe den Veränderungen nicht, dann gilt sie irgendwann einem übrig gebliebenen und zum Phantombild gewordenen Porträt verschwundener Wirklichkeit … Und irgendwann findet man sich auf zwei verschiedenen Ufern eines breiten und brückenlosen Flusses.»
In der Enttäuschung darüber, dass Anne nicht zu gewinnen ist, ohne den Bruder zu verlieren, zieht sich Peter immer weiter zurück in ein berührungsarmes Leben als Schatten und in die Welt seiner Träume. Ein Mann, dessen Hände gebunden sind, den man während des Lesens schütteln möchte und nicht versteht, dass man sich freiwillig so sehr aus dem Experiment Leben verabschieden kann.

Thommie Bayer trifft Dillberg
Thommie Bayer trifft Dillberg

Ein Buch, das knistert. Vor allem dann, wenn Peter in seine Traumwelt abtaucht und mit seiner «Traumfrau» Chiara Spaziergänge unternimmt, erotisch aufgeladene Streifzüge zusammen mit einer Frau, die aber selbst als Traumfrau nie den Schatten Annes auszuleuchten vermag. Peter zieht es vor, in seiner Fantasie zu leben, einer Welt, die weder Entscheidungen noch Mut braucht.
«Vielleicht bin ich dazu geboren, als Hälfte zu existieren, und fühle mich alleine instabil und angreifbar, vor allem aber, als wäre ich ein Blender oder Lügner, wenn man mich für etwas Ganzes hält.»
Chiara, jene Frau, die Peter Vordens Wohnung putzt und sich in die Träume des Mannes einschleicht, begegnet man auch im letzten Buch Thommie Bayers «Weisser Zug nach Süden». Jenes Buch erzählte aus der Sicht Chiaras, so wie «Seltene Affären» aus der Sicht von Peter. Buchgeschwister, die man auch einzeln geniessen kann! Auf meine Frage, wie das Buch, die Idee entstand, schrieb Thommie Bayer: «Mein letztes Buch «Weißer Zug nach Süden» erzählte von Chiara, die Vordens Wohnung putzt und seine Geschichten liest. Der Lektor bemängelte die fehlende Perspektive von Vorden, und ich sagte, das würde den Rahmen sprengen, das wäre ein eigenes Buch. In dem Moment muss sich die Idee festgesetzt haben, dieses Buch noch hinterher zu schreiben.»
Thommie Bayers Romane sind körperbetont ohne exhibitionistisch zu sein, sinnlich ohne zu triefen.

111Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Weißer Zug nach Süden».

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