Georg M. Oswald «Alle, die du liebst», Piper

Das braucht es! Romane wie «Alle, die du liebst», die einen Lesesonntag zu einem wirklich guten Tag werden lassen. Perfekte Unterhaltung, Spannung bis zur letzten Seite, ein Plot, der mit Aktualität fest verknüpft ist, eine Sprache, die scharf zeichnet und das Gefühl, dass die Geschichte etwas mit meinem Leben zu tun hat.

So wie Hartmut Wilke im Roman ist Georg M. Oswald Anwalt. Beide sind über 50 und erfolgreich. Hartmut Wilke als Anwalt in Steuerfragen, Georg M. Oswald seit zwei Jahrzehnten als Schriftsteller verschiedenster Genres. Sonst allerdings hoffe ich für den Autor, dass sich die Gemeinsamkeiten damit eingrenzen lassen. Hartmut Wilkes Leben ist aus den Fugen geraten. Die Liebe seines Lebens hat sich von ihm getrennt und führt einen gnadenlosen Scheidungskrieg. Zu seinen drei erwachsenen Kindern hat er den Draht verloren. Jenen zu seinem ältesten Sohn Erik schon lange. Seine um zwei Jahrzehnte jüngere Freundin Ines lässt ihn zweifeln, was die Gründe ihrer Beziehung sein könnten. Und von seiner Kanzlei erhält er einen Anruf, der ihn in die ehrgeizigen «Klauen» einer jungen, aufstrebenden Staatsanwältin in Sachen Steuerbetrug treiben soll. Sein Erfolg, seine Reputation, sein Haus, das grosse Auto und die siebenstellige Knautschzone auf der Bank; nichts hilft mehr, den freien Fall des erfolgsgewohnten Anwalts aufzuhalten.

Als Erik, der älterste Sohn, jener, der kein Ding zu einem guten Ende zu bringen schien, ihn vor Jahren um Geld bat, um an der kenianischen Küste eine Bar zu kaufen, schlug Hartmut die Bitte seines Sohnes in den Wind. Es war für beide das letzte Kapitel einer langen Kette von Enttäuschungen und für beide Grund genug, den Kontakt sterben zu lassen. Bis das Drängen seiner Freundin Ines und die Reise nach Kenia Gründe genug waren, den heimischen Schlamassel zurückzulassen und wenigstens zu Erik zurückzufinden. Hartmut und Ines reisen trotz Warnungen des Auswärtigen Amtes nach Kenia auf Kiani Island im Indischen Ozean. Ein Ort, der trotz seines paradisischen Aussehens nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er im Würgegriff verfeindeter Warlords und einer korrupten Polizei ist. Eine Reise vom Regen in die Traufe.

Die Welt ist voller Siegertypen, denen stets der Erfolg Recht gibt, die nichts und niemanden zu hinterfragen brauchen, am wenigsten sich selbst. Die erste, die Hartmut von seinem Thron stürzt, ist Carla, seine Frau. Als sie erfährt, dass ihr Mann seine Libido auf eine wesentlich Jüngere aus seiner Kanzlei richtet und sie schamlos belügt, setzt sie ihn nicht nur vor die Tür, sondern kündigt an, ihn förmlich auszuweiden. Was einst die Liebe seines Lebens war, hatte er verraten. Nichts und niemand scheint ihn mehr vor den Verwüstungen eines Ehe- und Berufskriegs zu schützen.

Hartmut und Ines reisen nach Kenia. Erik erwartet sie nach einer beschwerlichen Reise in seinem noblen Zuhause, einem Ferien- und Fluchtressort im Meer für Reiche und reiche Flüchtlinge. Schon am ersten Tag, als ein ganzes Hotel auf einen Mister Jack zu warten scheint, einen gefallenen Anwalt, der sich auf der Insel durch Beziehungen und Geld unentbehrlich machte und dem es zu huldigen gilt, macht sich Unbehagen breit. Was ungut beginnt, potenziert sich in seiner Unberechenbarkeit. Alles scheint sich dem «deutschen» Verständnis von Recht und Ordnung zu entziehen. Nichts ist so, wie es sich Hartmut erhofft. Auch vor paradiesischer Kulisse reissen die Ankerketten, die Ereignisse überstürzen sich. Endgültig, als auf der Insel geschossen wird. Was als Versöhnungsreise begonnen hatte, wird zur wilden Konfrontation zweier Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

Georg M. Oswald spielt geschickt mit Spannung, unerwarteten Wendungen, den Hoffnungen des Lesers und dem Reiz, seinen Protagonisten in ein immer grösser werdendes Desaster fallen zu lassen, ohne je die Bodenhaftung zur Realität zu verlieren. Spannungsliteratur mit Niveau!

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.

Wie magisch war „Magischer Realismus“ in Zürich wirklich?

„Zürich liest 2017“
Eine Überfülle an Literatur in Zürich? Spüre ich etwas davon, dass „Zürch liest“, wenn ich aus dem Zug in Zürich steige? Vielleicht müsste ich randalieren, einen Zug per Notbremse zum Halten zwingen, ein Riesenaufgebot an Polizei provozieren, so wie beim Risikofussballspiel zwischen Basel und Zürich. Müsste geschriebene Kunst nicht etwas mehr, als gefällig mit Sprache winken? Wo bleibt die Schärfe, der Mut, der Biss in der Spektakelstadt Zürich?

In einem der Flaggschiffe des Zürcher Literaturfestivals „Zürich liest 2017“, im Literaturhaus Zürich, lasen am Samstag Mariana Leky aus ihrem Bestsellerroman „Was man von hier aus sehen kann“ und Sten Nadolny aus „Das Glück des Zauberers“. Beide wurden sie mit ihren Romanen von ihren jeweiligen Moderationen zum „Magischen Realismus“ gezählt, der Verschmelzung von magischer Realität und realer Wirklichkeit. Aber wie magisch war dieser Abend im Literaturhaus Zürich denn wirklich?

Mariana Lekys Roman ist ein Dorfkosmos rund um Selma, die feststellen muss, dass immer, wenn sie nachts von einem Okapi träumt, jemand im Dorf innert 24 Stunden stirbt. Eine scheinbare Tatsache, die ein ganzes Dorf umtreibt. „Schon einmal ein Okapi gesehen?“, fragte die Auorin. „Irgendwie zusammengesetzte Tiere, irgendwie aus bekannten Einzelteilen zu einem neuen, nicht wirklich passendem, zusammengesetzt.“ Das Okapi ist das „Wappentier“ des Romans. So, wie viele die Menschen im Buch in ihren „Einzelteilen“ nicht wirklich zusammenpassen, sieht das Okapi zusammengesetzt aus. Mariana Leky erzählt langsam und genau, verstärkt durch ihre sprachliche Präzision meinen Blick. Sie versteht es, Menschen darzustellen, die langsam und doch mutig sind, etwas, was im realen Leben nicht zusammenzupassen scheint. Mariana Leky erzählt von Luise und ihrer Wunschgrossmutter Selma. Von Eltern, die nie da sind, wenn sie gebraucht werden und über einen grossen Bogen von der 22 Jahre alt gewordenen Luise, die auf der Suche nach ihrem verloren gegangenen Hund Alaska einen 25jährigen buddhistischen Mönch trifft, der zum Mann ihres Lebens wird, sie, die Verstockte, sie, die für einmal die Initiative ergreift. Nicht wie der Optiker im Dorf, der seine Liebe zu Selma, Luises Grossmutter, über Jahrzehnte in einem Bündel Liebesbriefe mit sich herumträgt.
Ergreifende Literatur, wunderbar leicht erzählt. Ein zartes Buch über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Nur oberflächlich betrachtet Wohlfühlliteratur. Mariana Leky macht im Kleinen Grosses auf. Es passieren durchaus tragische Dinge, aber ohne dass mit der Axt geschwungen wird. Tragik von Komik flankiert. Nicht dass am Schluss alles gut sein müsste. Aber Mariana Lekys Buch tut gut.

Etwas, was Sten Nadolny so nicht gelingen will. Nadolny erzählt in zwölf langen Briefen, die der grosse Zauberer Pahroc seiner Enkelin Mathilde schreibt, von 111 Jahren eines grossen Zaubererlebens und eines schrecklichen Jahrhunderts. Mag sein, dass das „Zauberthema“ arg strapaziert ist und ich als Nadolny-Leser mit jedem Roman des Autors jene absolute Faszination zurückwünsche, die ich seit drei Jahrzehnten seit seinem unübertroffenenen Buch „Entdeckung der Langsamkeit“ erwarte. Sten Nadolny bemüht sich, paart Witz mit Düsternis, Schrecken mit Komik, Magie mit der Grausamkeit von Krieg, Schmerz und Verzweiflung. Sehe ich den mittlerweile über 75 Jahre alt gewordenen auf der Bühne erzählen und funkeln, nimmt er mich noch immer für sich ein. Selbst das mir fremde Thema, das er zu einer Metapher für intelligente, kreative und bewegliche Menschen gesehen haben will, die permanent in der Gefahr seien, zu einer Minderheit zu werden. Heute erst recht, in einer Zeit von Engstirnigkeit und Borniertheit, wo blanker Hass und dumpfer Nationalismus Politik machen. Dem Roman fehlt die Tiefe, vielen Szenen der Atem. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, lesen Sie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – epochal!

Magisch waren die beiden Gäste auf der Bühne, magisch und literarisch aber nur der Roman von Mariana Leky.

Und die Magie einer Stadt, die liest? Zürich liest nicht mehr oder weniger als andere Städte, mit oder ohne Literaturfestival. Zürich liest in geschlossenen Räumen, still für sich, alle jenen Recht gebend, die Literatur Eliten und Abgeschotteten zuordnen. Schade.

Mareike Krügel «Sieh mich an», Piper

Ein Mann, der nicht da ist, eine Tochter mit ADHS, Barbie und Ken in der Stube, zwei ausgebüxte Ratten, ein abschnittener Daumen im Schnee und ein brennender Trockner – Katharina hätte genung am Hals, wenn da nicht auch noch das eine wäre, das sie nicht über die Lippen bringt.

Zugegeben, es brauchte eine Weile, bis ich in den Roman eintauchen konnte. Obwohl schon der erste Satz verrät, worum es in diesem Roman wirklich geht. Aber weil der zweite Satz hiess «Schultüren sind der Eingang zur Hölle» und ich eben ein Interview mit dem Philosophen David Precht gehört hatte, spürte ich eine ordentliche Portion Widerwillen. David Precht würde die Schulen am liebsten abschaffen, hängt ihnen an, in ihnen wehe noch immer der preussische Geist des Drills. Sie seien Mühlen, in denen brave, funktionierende Staatsbürger zugeschiffen werden. Da ich ebenfalls unterrichte, war es nicht ganz einfach weiterzulesen.

Aber Mareike Krügel hat keinen Antischulroman geschrieben. Die Schriftstellerin zeichnet Katharina und ihren verzwickten Alltag. Ein Alltag, der es schwer macht, sich neben all den zwingenden Kleinigkeiten auf das Wesentliche zu konzentrieren. Katharinas Tochter Helena, von allen Helle gerufen, ist elf und eine Rabauke. Da verwundert es auch nicht, dass Katharina sie von der Schule holen muss, weil sie mit unstillbarem Nasenbluten den Teppichboden im Sekretariat versaut, dass Helles Freundinnen ordentlich was abbekommen, Pferde durchbrennen und sie bei einer Freundin übernachten will, wo bei einer Party schon ordentlich gebechert wird. Dass Helle den Stempel ADHS mit sich trägt, hilft Katharina am wenigsten. Helles grosser Bruder ist 17 und das erste Mal an ein Mädchen vergeben, von dem die Nachbarn Theo und Heinz meinen, sie sei ein Volltreffer. Alex ist das genaue Gegenteil seiner quirligen Schwester. Für Katharina allerdings kein Ersatz für ihren Mann Costas, der die Woche über in der Hauptstadt arbeitet und nur an den Wochenenden in «den Schoss der Familie» zurückkehrt. Katharina ist dieser Schoss, das Epizentrum der Familie. So sehr ins Geschehen eingepasst, dass es für die Erschütterungen in ihrem eigenen Leben kaum Platz hat. Auch da türmt sich Schicht um Schicht. Eine Mutter, die sie verlor, ein Vater, der resignierte, eine Schwester, die nicht nur örtlich auf der andern Seite des Planeten wohnt. Da sind Fragen um das eigene Leben, um das verlorene Leben ihrer zweiten Tochter, eine Ehe, die abhanden kommt und diese Knoten in ihr, die von ihr Besitz ergreifen.

«Es gibt mich noch.»

«Sieh mich an» ist mehr als ein Familienroman. Aber ein Roman, der die Familie zum Schauplatz macht, der die grossen Gesten, die grossen Fragen in das Kleingefüge «Familie» setzt. Mareike Krügel beschreibt einen einzigen Tag, der alles widerspiegelt, was das zugepappte Leben Katharinas ausmacht. Eine Minikatastrophe reiht sich an die nächste. Kein Platz für die grosse Katastrophe, die in Katharina wächst. Für Katharinas grosse Angst findet sich weder Platz noch einoffenes Ohr. Da ist auch der ehemalige WG-Freund, der sich abends angemeldet hat, nicht der Richtige. Ein Gesellschaftsroman über modernes Leben, duchgestylt scheinendes Reiheneinfamilienhausdasein. Wie sehr sich die Familie in die Modeströmungen einspannen lässt. Wie sehr man sich knechten lässt von den Errungenschaften des modernen Lebens. Ein Frauenroman? Mit Sicherheit auch, denn die grossen Abwesenden in diesem Roman sind die Männer. Selbst die hilfsbereiten Nachbarn Theo und Heinz sind genetisch keine Männer. Und Costas, Katharinas Mann, weit weg in Berlin, abends an einer Firmenfeier in einem Berliner Hotel, während Katharinas Leben zu entgleisen droht. Ein Roman nur für Frauen? Bei weitem nicht. So erhellend wie hundert Ratgeber. So spannend wie ein Krimi. So einfühlsam, wie sich eine Frau den Mann wünscht. So direkt, dass es einem bei der Lektüre manchmal fast den Atem nimmt. «Sieh mich an» ist eine Aufforderung, so wie das Buch. Aber ganz ohne Mitleid, dafür mit Wirz, Ironie und Schalk.

Ein kleines Mail-Interview mit Mareike Krügel:

In Ihrem Roman «Sieh mich an» ertrinkt Katharina fast in ihren Pflichten, ihren Aufgaben, ihren Sorgen und Nöten. Das wird auch der Grund sein, warum sich viele, vornehmlich Leserinnen, von diesem Roman wiedererkannt und verstanden fühlen. Ist doch aber eigentlich paradox; Wir leben in einer hoch technisierten und durchorganisierten Welt. Und doch scheint Familienleben nicht einfacher zu werden. Muss man akzeptieren?
Ja, das lässt sich, glaube ich, nicht ändern. Mehr Technik und Organisation sind der nicht Schlüssel zu mehr Gelassenheit, und wenn es etwas gibt, das sich in den Familienstrukturen in den letzten Jahrzehnten verändert hat – meiner Einschätzung nach -, dann sind es die Beziehungen. Weil es wenig Vorbilder gibt, schießen viele Eltern damit etwas übers Ziel hinaus, aber grundsätzlich halte ich es für eine der besten Veränderungen des westlichen Abendlandes: Der Versuch, zu seinen Kindern echte Beziehungen aufzubauen, sie wahrhaftig zu begleiten, sie nicht nur irgendwie durchzubringen. Das ist kompliziert und mitunter überfordernd.

«Sieh mich an» ist eine Aufforderung. Da hätte auch noch ein Ausrufezeichen gepasst. Während Costa in Berlin vor der Firmenfeier an der Kravattenfrage scheitert, gibt es für seine Frau Katharina nur den Angriff nach vorn. Ist das der Mutterinstinkt, der verhindert, dass Katharina lange nicht tut, wonach es in ihrem Innern schreit?
Der Mutterinstinkt, dessen genaue Definition ich nicht kenne, spielt vermutlich in den ersten Lebensjahren der Kinder eine übergeordnete Rolle und mag in dieser Zeit dazu beitragen, dass Mütter sich selbst zurücknehmen oder sogar ihre Bedürfnisse hintanstellen. Danach aber vermute ich als Ursache für Katharinas – und vieler anderer Frauen – Selbstverleugnung die immer noch gültige unsägliche Sozialisierung der weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft.

Sie mobilisieren in Ihrem Roman viele Urängste. Die Angst, vor seinen Kindern zu sterben, nicht zu wissen, wohin und wie ihr Weg verläuft. Die Angst, vor lauter Aufgaben sich selbst zu vergessen und zu verlieren. Die Angst, sich selber untreu zu werden. Steckte in diesen Ängsten eine der Motivationen, diesen Roman zu schreiben?
Ängste können ein wunderbarer Wegweiser beim Schreiben sein. Ich versuche, beim Schreiben der Angst und der Freude zu folgen. Die Grundmotivation für diesen Roman war aber eher, mich mit den Verstrickungen auseinanderzusetzen, die sich in Familien mitunter ergeben.

Helle, Katharinas Tochter, hat die «Diagnose» ADHS. Aktueller könnte das Thema nicht sein, nachdem ein Professor für Neurobiologie in einer ZDF-Nachrichtensendung die Behauptung aufstellte, ADHS gäbe es nicht, nur in der Köpfen der Pharmaindustrie. Ich weiss sehr gut, wie entlastend eine solche Diagnose sein kann, wenn Eltern annehmen dürfen, dass sie nicht einfach bei der Erziehung versagt haben. Aber Helle zwingt ihre Mutter Katharina an eine Wand. Trösten Sie?
Ich finde, Katharina hält sich ziemlich gut. Und da sie auch die negativen Gefühle ihrer Tochter gegenüber zulässt und nicht kleinzureden versucht, hat die große Liebe und Bewunderung, die sie ihr gegenüber ebenso empfindet, auch eine Chance, sich zu voller Größe zu entfalten. Dabei kann solch eine Diagnose besonders hilfreich sein, weil sie die Eltern von ihrem schlechten Gewissen entlastet und zusätzlich sehr gut nachvollziehbare Erklärungsmodelle anbietet. Und wen man versteht, der zwingt einen auch nicht so leicht an die Wand.

Ihre Verlagschefin Felicitas von Lovenberg pries Ihr Buch schon im Vorfeld, andere stempeln es zum Frauenbuch. (Ich bin überzeugt, dass es Frauenliteratur nicht geben kann. Nur Bücher, die zur Literatur zählen und solche, die allenfalls zur Unterhaltung genügen.) Warum sollen Männer dieses Buch lesen?
Hätten Frauen immer nur Bücher gelesen, die nur für sie gedacht waren, so hätte kein Autor auf diesem Planeten je von seinem Beruf leben können. Wenn sich also Frauen noch nie um diese Kategorien geschert haben, warum sollten Männer das dann tun? Wäre das nicht ein bisschen engstirnig? Und was würde ihnen entgehen. Ein Roman ist eine der wenigen Möglichkeiten, die wir Menschen haben, wirklich einmal «in den Schuhen eines anderen zu gehen».

Liebe Frau Krügel, vielen Dank!

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit 2003 hat sie drei Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Schleswig. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.

Mareike Krügel liest u. a. am 17. Oktober in Konstanz in der Buchhandlung Osiander an der Rosengartenstrasse.

Ein Gespräch mit Mareike Krügel beim NDR

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Jens Eisel «Bevor es hell wird», Piper


Nach dem Buch «Hafenlichter», Jens Eisels Erstling mit Erzählungen, legt der Autor bei Piper mit seinem ersten Roman «Bevor es hell wird» nach. Und nachdem ich den Autor anfragte, ob er für ein paar Fragen bereit wäre, hier das Interview:

Lieber Herr Eisel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Roman! Ein Roman, der mich zuerst kritisch stimmte, dem ich mich auf den ersten Seiten zuerst annähern musste, dessen Themen ich zu Beginn als allzu emotional aufgeladen empfand. Alex kommt aus dem Knast zurück in sein altes Leben, zurück zu einer Vergangenheit, die er mit all seinen Veränderungen zuerst zurückgewinnen muss. Alex kannte seinen Vater nicht, verlor seine Mutter durch Krankheit, als er noch zur Schule ging und zuletzt auch noch seinen einzigen Bruder Dennis. Ihr Roman hätte genügend Potenzial, um mich nach der Lektüre mit Zweifel zurückzulassen. Hat da ein Autor nicht allzu deftig in der Schicksalsschüssel den Stoff schaumig gerührt, das Unglück kulminieren lassen, um mich an der Stange zu halten? Wurde da nicht zwischendurch der Gang an der Grenze zum Kitsch allzu sehr ausgereizt, um meine Empathie anzuheizen? Ihr Roman tat es nicht! Ihr Roman «Bevor es hell wird» machte mich glücklich. Glücklich, weil er mir ehrlich gegenübertritt, weil seine Figuren authentisch sind, weil ich sie erkenne und weil die gewählte Sprache mit Alex› Welt übereinstimmt. Herr Eisel, da gab es die Idee zur Geschichte. Gab es auch den Typus einer Sprache, die sein musste, um Ihre Geschichte zu erzählen? Schon während des Schreibens war mir bewusst, dass der Kitsch-Vorwurf sicher kommen würde. Ein Grund, warum ich amerikanische Erzähler schätze, ist, dass sie keine Angst vor großen Gefühlen haben. Seltsamerweise wird einem Denis Johnson oder einem Richard Ford das in Besprechungen im deutschen Feuilleton nicht vorgeworfen. Sobald sich allerdings ein deutscher Autor einem Stoff emotionaler nähert, läuten sofort überall die Alarmglocken. Und dennoch, ich wollte diese Geschichte so erzählen – und ich werde es auch weiterhin tun. Auch die Sprache ist bewusst gewählt. Ein überbordender Stil würde schlicht und einfach nicht zu dem Erzähler passen.

Nachdem Alex mit 14 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Hamburg zog, waren es die wenigen Monate der Hoffnung. Endlich, nach einer langen Reihe von Umzügen, schien Familienglück auf ihrer Seite zu sein. Alex› Mutter fand einen Job und Dennis einen Ausbildungsplatz im «Krähennest», einem kleinen Restaurant. Und weil Sommerferien waren, streifte Alex in Hamburg herum, freundete sich mit Carmen, einer älteren Kinobetreiberin an, bei der er ebenso ein kleines Stück Zuhause fand wie bei Norman, seinem neu gewonnenen Freund und seines Vaters Autowerkstatt. Norman, ein von seiner Mutter Verlassener und Alex, ein von seinem Vater Verlassener. Alles schien damals zu stimmen. Und als sie dann auch noch zum ersten Mal Familienferien am Meer in einem Zirkuswagen in den Dünen antreten konnten, schien sich das Glück wirklich festzusetzen. Aber ausgerechnet bei dieser Reise kündigte sich an, was sich ein paar Monate später zur grossen Katastrophe auswachsen sollte. Alex› Mutter war krank. Misstrauen Sie dem Glück? Sie beschreiben das Leben einer Familie, die zuvor schon kaum die Nase aus den Schattenseiten des Lebens brachte. Sie als Autor konzentrieren derart viel Unglück, dass Alex später gar Angst davor bekommt, Menschen zu nahe zu kommen, Angst, sein Unglück könne überspringen. Suchen Sie in Ihrem Roman die Grenzen des Unglücks? Wie viel Unglück «braucht» der Mensch, um daran zu zerbrechen, so wie Alex Bruder Dennis? Suchen Sie nach Antworten darauf, warum es die einen schaffen, die andern nicht? Tut Ihnen das Unglück Ihres eigenen Personals während des Schreibens nicht weh? Bevor ich mich ganz dem Schreiben widmete, habe ich ein paar Jahre bei der Diakonie St. Pauli gearbeitet. Ich habe dort hauptsächlich Alkoholiker und Junkies betreut. Einige der Menschen, um die ich mich kümmerte, waren kaum älter als ich. Was all diese Menschen verband, war, dass es an irgendeiner Stelle in ihrem Leben Ereignisse gegeben hatte, die sie aus der Bahn geworfen haben – der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod des Partners. Einige dieser Menschen wurden von mehreren Schicksalsschlägen hintereinander ereilt, waren immer wieder auf die Beine gekommen, bis sie – eine vergleichsweise harmlose Begebenheit – völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Es ist nicht unbedingt das Unglück, was mich beschäftigt. Vielmehr ist es die Frage, was uns zu dem macht, was wir sind. Ich fühle mich meinen Figuren sehr verbunden, und sicher, ich leide auch mit ihnen.

Auch wenn ihr Roman in einem Prolog im Jahr 2004 beginnt und keinen Zweifel darüber lässt, dass da einer tief gefallen ist, spielt ihr Roman grösstenteils auf zwei Zeitebenen. 1996/97, als Alex 14 ist und sein Leben, das zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter noch nie auf der Siegerstrasse spielte, im Moment scheinbarer Entspannung endgültig zu schlingern beginnt. Und 2006, zehn Jahre später, nach zwei Jahren im Knast, von Alex, der sein Leben zu verstehen versucht. Zwei Ereignisse, zwei Geheimnisse sind es, die mich als Leser bis zum Schluss durch ihren Roman peitschen, die die Spannung fast unerträglich werden lassen: Warum musste Alex in den Knast? Und warum gibt es nicht nur ein Grab seiner Mutter, sondern auch eines seines grossen Bruders?
Ich hatte einmal einen Nachbar, der, reich und eitel geworden durch seine Geschäfte, allen Ernstes behauptete, jeder müsse sich nur ordentlich anstrengen, dann würde sich Glück und Erfolg automatisch einstellen. Was würden Sie meinem Nachbarn entgegnen? Es wäre schön, wenn Ihr Nachbar recht hätte. Leider habe ich schon allzu oft das Gegenteil erlebt.

Sie waren mit ihrem Roman auf der Leipziger Buchmesse. Gab es da einen besonderen Moment? An einem der Abende habe ich im Deutschen Literaturinstitut gelesen. Es war das erste Mal, dass ich dort war, seit ich mein Studium abgeschlossen habe, und es war sehr schön in der alten Villa aus meinem Buch zu lesen.

Haben sie ein Buch von Leipzig mit nach Hause genommen? Ja, den neuen Gedichtband von Sascha Kokot. Er heißt FERNER, und ich kann ihn jedem ans Herz legen.

Was geht im Kopf eines Schriftstellers vor, angesichts des Rummels rund ums Buch, der schieren Menge an Neuerscheinungen und dem Wirbel um schreibende Promies? Da ich eine Weile in Leipzig gelebt habe, ist die Messe für mich nichts Neues. Sie gehört für mich zum „Geschäft“. Die Lesung in der Moritzbastei war schön, und ich habe mich gefreut, meine Lektorin zu sehen. Aber insgesamt ist mir die Messe zu hektisch.

Vielen Dank, Jens Eisel. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser: Lesen Sie «Bevor es hell wird»! NDR Buch des Monats April!

Jens Eisel, geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, lebt in Hamburg. Nach einer Schlosserausbildung arbeitete er unter anderem als Lagerarbeiter, Hausmeister und Pfleger. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war 2013 Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Mit seiner Story «Glück» gewann er im selben Jahr den Open Mike.

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Thommie Bayer «Seltene Affären», Piper

Manchmal freue ich mich mit dem Vergnügen in der Vergangenheit gelesener Bücher auf die Neuerscheinung aus der Feder eines ganz bestimmten Autors. Manchmal schon Monate, weil eine Verlagsankündigung lange und intensive Versprechungen machte. Manchmal ist es wie mit einer Flasche eines ganz bestimmten Weins, bei dem das Vergnügen der Vorfreude bis zum letzten Schluck weitergeht. Mit «Seltene Affären» von Thommie Bayer war es ein prickelnder Sommerwein!

Thommie Bayer tut etwas, was die Schriftstellerin, der Schriftsteller kann; Leben in einer Art und Weise erfinden, die neben der Realität zu bestehen vermag, ein Geschehen, das nicht mit Wahrscheinlichkeit gemessen werden muss.
Peter und Paul sind Zwillinge, deren Leben als junge Erwachsene nach einer Kindheit im Gleichschritt in ganz unterschiedliche Richtungen auseinander driftete. Während Paul mehr oder weniger geradlinig sein Studium durchzog, schaukelte sein Bruder Paul von einer Bühne zur nächsten. Was sie verbindet, ist für die längste Zeit ihres Lebens die Liebe zu ein und derselben Frau. Aber nachdem Anne für Jahre aus dem Leben beider entschwunden war, kehrte sie zurück und heiratete Paul, obwohl Peter seiner stillen Liebe zu Anne im entscheidenden Moment viel näher war.
produkt-12325Das zweite, was die beiden Brüder miteinander verbindet, ist das Schreiben. Paul als erfolgreicher Schriftsteller der langen Form und Peter, der unter dem Namen seines Bruders schreibt, in dessen Schatten in der kurzen Form Geschichten liefert. Peter führt aber nicht nur als Autor, als Schreibender ein Schattendasein. Seine Liebe zu Anne stellt ihn selbst in den Schatten. «Seltene Affären» will beweisen, dass sich wirkliche Liebe nicht einfach von einem auf den andern Menschen überstülpen lässt. Und dass Liebe kein Zustand ist: «Es ist nicht so, dass man sie eben einmal in sich entdeckt, und dann ist sie für alle Zeiten da, denn sie richtet sich auf ein lebendes Wesen, und dieses Wesen verändert sich. Folgt diese Liebe den Veränderungen nicht, dann gilt sie irgendwann einem übrig gebliebenen und zum Phantombild gewordenen Porträt verschwundener Wirklichkeit … Und irgendwann findet man sich auf zwei verschiedenen Ufern eines breiten und brückenlosen Flusses.»
In der Enttäuschung darüber, dass Anne nicht zu gewinnen ist, ohne den Bruder zu verlieren, zieht sich Peter immer weiter zurück in ein berührungsarmes Leben als Schatten und in die Welt seiner Träume. Ein Mann, dessen Hände gebunden sind, den man während des Lesens schütteln möchte und nicht versteht, dass man sich freiwillig so sehr aus dem Experiment Leben verabschieden kann.

Thommie Bayer trifft Dillberg
Thommie Bayer trifft Dillberg

Ein Buch, das knistert. Vor allem dann, wenn Peter in seine Traumwelt abtaucht und mit seiner «Traumfrau» Chiara Spaziergänge unternimmt, erotisch aufgeladene Streifzüge zusammen mit einer Frau, die aber selbst als Traumfrau nie den Schatten Annes auszuleuchten vermag. Peter zieht es vor, in seiner Fantasie zu leben, einer Welt, die weder Entscheidungen noch Mut braucht.
«Vielleicht bin ich dazu geboren, als Hälfte zu existieren, und fühle mich alleine instabil und angreifbar, vor allem aber, als wäre ich ein Blender oder Lügner, wenn man mich für etwas Ganzes hält.»
Chiara, jene Frau, die Peter Vordens Wohnung putzt und sich in die Träume des Mannes einschleicht, begegnet man auch im letzten Buch Thommie Bayers «Weisser Zug nach Süden». Jenes Buch erzählte aus der Sicht Chiaras, so wie «Seltene Affären» aus der Sicht von Peter. Buchgeschwister, die man auch einzeln geniessen kann! Auf meine Frage, wie das Buch, die Idee entstand, schrieb Thommie Bayer: «Mein letztes Buch «Weißer Zug nach Süden» erzählte von Chiara, die Vordens Wohnung putzt und seine Geschichten liest. Der Lektor bemängelte die fehlende Perspektive von Vorden, und ich sagte, das würde den Rahmen sprengen, das wäre ein eigenes Buch. In dem Moment muss sich die Idee festgesetzt haben, dieses Buch noch hinterher zu schreiben.»
Thommie Bayers Romane sind körperbetont ohne exhibitionistisch zu sein, sinnlich ohne zu triefen.

111Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Weißer Zug nach Süden».

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