Mareike Krügel «Schwestern», Piper

Lone liegt auf der Intensivstation im Koma. Ein unerklärlicher Frontalzusammenstoss auf gerader Strecke mit einem Traktor. Eine Frau, eine Hebamme, die immer alles direkt angegangen ist, wird mit einem Mal lebensgefährlich ausgebremst. Iulia, ihre jüngere Schwester, eigentlich Bankkauffrau, nimmt die Tasche ihrer Schwester und fährt zu den Frauen, die auf Lone warten.

Vielleicht müsste man diesen Roman mit einem Warnschild versehen. „Für alle Frauen, die unmittelbar vor einer Geburt stehen, ist die Lektüre dieses Romans ungeeignet.“ Aber in einer Zeit, in der Frauen ihre Kinder eh bestens vorbereitet, eingelesen und vorgewarnt bekommen und Geburten kaum noch einfach geschehen lassen, werden all jene bestätigt, denen Gebärstationen wie Durchlauferhitzer erscheinen.

Lone ist nicht mehr Hebamme in einem Spital, schon länger nicht mehr. Als sie es noch war, schied sie mit Gepolter aus und machte sich selbstständig. Kein leichtes Unterfangen, wenn Geburtshäuser und freie Hebammen um ihr Überleben kämpfen müssen, weil Versicherungen nicht bereit sind, das Risiko mitzutragen. Ein Risiko, das untrennbar zu einem ganz natürlichen Vorgang gehört. Lone ist dann da, wenn Mütter nicht mehr ins Schema passen, wenn die Angst die Freude auf das Kind verdeckt. Lone ist auch dann da, wenn alle Stricke reissen und Grenzen überschritten werden müssen. Vor allem für jene, die sie auf ihrer Liste hat, auf jener Liste, die Iulia in die Hände bekommt, vor der sie ahnt, dass das Warten der Frauen einer Not entspringt.

Mareike Krügel «Schwester», Piper, 2021, 336 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05856-8

Iulia ist verheiratet mit Niels. Und Niels ist Pfarrer. Iulia weiss, dass sie eine Rolle zu spielen hat; jene der Mutter, jene der Ehefrau, jene der Gemahlin eines Pfarrers und jene der Bankfrau, zwischen Schalter und Direktion. Während Lone auf der Intensivstation liegt und niemand weiss, was von jener Lone bleiben wird, die sie einmal war, während der Vater und die Stiefmutter am Bett der Patientin wachen und eigentlich erwarten, dass Iulia auch die Rolle, der sich sorgenden Schwester am Bettrand zu spielen hätte, besucht Iulia die verwaiste Wohnung ihrer Schwester, um festzustellen, dass das abrupt unterbrochene Leben ihrer Schwester im Gegensatz zu ihrem eigenen Leben aus lauter Notwendigkeiten besteht. Dass Frauen, Familien auf sie warten, sie brauchen. Iulia packt die Taschen ihrer Schwester, setzt sich in ihr Auto und klappert die Adressen ab, nach denen sie erst eine Weile suchen muss.

Zwei Schwestern. Aus dem gleichen Stall. Mit fast identischen Vorzeichen. Zwei Leben, die einst ganz nah waren und sich immer mehr ins Gegensätzliche verloren. Aber Lone ist Iulias grosse Schwester, das grosse Gestirn an ihrem Himmel, ein Fixstern. In Iulias wohlgeordnetem Leben ist die chaotische Komponente der Schwester ein Gegengewicht. Aber in dem Moment, als Lone im Spital zu schwinden droht, bricht Iulias filigranes Gefüge in sich zusammen; der Beruf, die Ehe, sogar das Bild der perfekten Familie.

Bin ich, was ich will? Kenne ich die Menschen, die mir am nächsten sind? Ist das Gegenteil von Ordnung wirklich Chaos? Wie weit schnüre ich mich selbst ein und fürchte mich vor den kleinsten Ausbrüchen? Weiss ich, was ich will? Mareike Krügel stellt die grossen Fragen, die man allzu oft mit Bedacht verdrängt, weil sie uns herausfordern. Weil sie Risiko bergen. Weil sie Konsequenzen haben könnten. „Schwestern“ ist ein Roman über die Liebe. Nicht zuletzt über jene zu sich selbst. Und das Eingeständnis, sich verrannt zu haben. Ikarus lehrt uns, nicht allzu weit hinauf zu fliegen. Aber aus lauter Angst, beim Fliegen die Federn zu verlieren und dabei den Boden nie zu verlassen, das darf es nicht gewesen sein. Iulia beginnt zu fliegen.

Interview

Meine Frau und ich haben fünf Kinder. Schön, dass sie mittlerweile zwischen 26 und 36 sind und die Kurve geschafft haben. Auch wenn sich die Erinnerungen an die intensive Familienzeit verklären, spätestens dann, wenn man ein Wochenende zusammen mit den beiden Enkelkindern verbracht hat, weiss man wieder, wie es gewesen sein muss, damals.
Deshalb ist mein Verständnis gross, dass sie nicht einfach Schubladen voller Texte haben, meine Bewunderung aber ebenso gross, dass dann aber in hoher Kadenz doch immer wieder ein Buch von Ihnen erscheint. Wie schaffen Sie die Mehrfachbelastung? Gäbe es eine Mareike Krügel ohne das Schreiben?

Die Mehrfachbelastung macht mir deutlich zu schaffen, das muss ich zugeben. Es mangelt mir allerdings nicht an Schreibzeit – das ist eher eine Frage der Disziplin und Organisation, denn Stunden hat der Tag eigentlich genug. Es mangelt mir an Denkzeit. Gute Romane müssen nicht nur vorausgedacht und sorgfältig konstruiert werden – finde ich jedenfalls -, sondern brauchen viel Reifezeit, in denen der Stoff und die Figuren sich setzen oder entwickeln können. Wenn mir dann ständig das Leben dazwischenkommt und das Gehirn keine Musse hat, stecke ich schnell fest.

Meine Lösung ist, mich in möglichst reizarmer Umgebung aufzuhalten. Schleswig-Holstein ist dafür der ideale Ort. Hier ist es derart langweilig, dass meine Fantasie keine Konkurrenz durch die Realität bekommt.

Ob es mich ohne das Schreiben gäbe, weiss ich nicht. Das müsste ich wohl ausprobieren, und vermutlich wäre ich überrascht. Aber ich bilde mir ein, das Schreiben, wie auch das Lesen, Zuhören und Erzählen, zu brauchen. Mein Drang zu schreiben und mich in Geschichten aufzuhalten, wird jedenfalls mit zunehmenden Alter nicht weniger, sondern eher mehr.

„Schwester“ ist eine Liebesgeschichte an die Schwester. Aber auch eine Liebesgeschichte an einen Beruf, den der Hebamme. Lore ist mehr als eine Hebamme. Oder vielleicht das Abbild dessen, was Hebamme einmal war. Nicht wie heute eingekeilt in eine perfektioniertes Gesundheitssystem, Krankenkassen und Versicherungen, idealisierter Geburt und der schwindenden Risikobereitschaft aller. Ist die Hebamme eines der Opfer einer industrialisierten Gesundheitsmaschinerie?

Eine Gesundheitsmaschinerie hat sich in meinen Augen definitiv entwickelt, aber sie erscheint mir nicht industrialisiert. Im Endeffekt stehen an allen entscheidenden Stellen Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, nach bestem Wissen zu helfen und zu heilen. Sie alle stehen unter Druck, aber sie profitieren auch von verbesserten Strukturen und evidenzbasierten Vorgaben. Ich bin höchst dankbar für das Gesundheitssystem und die Krankenkassen. Es gibt nur immer eine Kehrseite, die man nicht wegreden darf und an der unermüdlich verbessert werden sollte.

Hebammen spüren diese zwei Seiten der modernen Medizin ebenfalls. Sie können sich absichern, sind eingebunden in ein System, das ihnen einen Platz einräumt, und müssen nicht mehr ausserhalb oder sogar in Konkurrenz dazu stehen. Das ist auch eine gute Entwicklung. Ich glaube, das der Beruf der Hebamme sehr romantisiert wird –  Hebammen haben durchaus aktiv an den düsteren Kapiteln der Medizingeschichte mitgewirkt.

Vielleicht ist Lone also eher ein Abbild dessen, was eine Hebamme sein könnte, was diesen Beruf auch heute oder womöglich eben gerade heute auszeichnet. Wenn man das im Blick behält, kann man vielleicht die Gratwanderung schaffen zwischen medizinischer Absicherung und individueller Gesundheit.

Lore und Iulia (Warum nicht Julia?) sind ungleiche Schwestern. Schwestern, die sich durch ihre Ungleichheit aus den Augen verloren, deren Leben keine Überschneidungen mehr kannte. Brüder und Schwestern sind etwas Seltsames. Man kann sie sich nicht aussuchen. Und selbst wenn man sich verloren hat, selbst wenn man sich hasst, bleibt eine Verbindung. Iulia kehrt zu ihrer Schwester zurück, auch wenn nicht direkt an ihrer Seite. Sie transformiert sich, bricht auf. Ist ihr Buch eine Ermunterung?

Ich habe keine Intention beim Schreiben eines Buches ausser der, eine Geschichte zu erzählen und Antwortmöglichkeiten auf meine eigenen Fragen zu suchen. Gerne darf man diesen Roman aber als Ermunterung verstehen, sich mit der – wie Sie es treffend nennen – seltsamen Verbindung auseinanderzusetzen. Sich ihrer bewusst zu werden. Wenn eine Figur innerhalb eines Familien-Systems sich verändert, verschiebt sich das ganze System. Oft auch im Erwachsenenalter, wenn die Familienmitglieder schon längst ganz eigene Leben führen.

Als vor einigen Jahren mein Bruder starb, habe ich die Person, die seine Freunde mir beschrieben, kaum erkannt. Er war ausserhalb der Herkunftsfamilie ein ganz anderer Mensch. Diese Erfahrung hat mich sehr beschäftigt und auch demütig gemacht. Iulia bekommt im Roman die Chance, ihre Schwester auf neue Art kennenzulernen, und dabei verändert sich ihr Blick auf sich selbst. Auch sie ist schliesslich nicht festgelegt auf eine einzige Rolle oder ein Lebensmuster, auch wenn ihre Herkunft sie das lange hat glauben lassen.

(Iulia wird mit I geschrieben, damit der Bezug zu ihrer Namenspatronin, der Tochter des Augustus, deutlich wird, und auch, damit der Name eine Umständlichkeit hat, ein Hindernis, das ihr quasi von ihren Eltern mitgegeben wurde, während ihr Bruder – Justus – die Schreibweise zugewiesen bekam, die nie buchstabiert werden muss.)

Mareike Krügel Arbeitsplatz © Mareike Krügel

Iulia ist die Frau eines Pastors. So brav, angepasst und untergeordnet, dass es zusammen mit ihrem Beruf als adrett gekleidete Bankfachfrau fast karikiert anmutet. Ihr Mann ist ein gänzlich guter Mann, Vorbild einer ganzen Gemeinde. Und sie mit ihm ebenso dazu verdammt. Ist man als Mutter nicht auch verdammt?

Diese Frage bringt mich zum Lachen, weil sie so direkt ist. Kann man es besser formulieren? Ich glaube nicht. Man ist als Mutter verdammt. Oder als Elternteil womöglich, denn auch das Vatersein bringt ja einen Haufen an gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen mit sich, und wer auch nur einen Hauch Perfektionismus in sich hat, kann schnell das Gefühl bekommen, verdammt zu sein. Aber wie bei der Rolle der Pastorenfrau oder des Pastors selbst liegt auch eine Befriedigung darin, die Sache eben gut zu machen. Ein grosses Problem des Mutter- oder Vaterseins liegt für mich darin, dass die Bestätigung so gut tut, dass sie süchtig machen kann. Dann wird das Gute-Mutter-Sein zum Selbstbild. Fast möchte ich jeder Familie wenigstens ein Kind wünschen, das so viel Persönlichkeit mit auf die Welt bringt, dass es die Eltern ganz schnell von dem Trugschluss kuriert, wer ein braves Kind hat, hat alles richtig gemacht.

„Schwester“ ist kein Buch für junge Leute, die die Absicht haben, Kinder zu bekommen, die eine undefinierbare Angst vor Spitalluft mit sich tragen und Risiko möglichst minimieren wollen. Bräuchte ihr Buch nicht den Warnhinweis „Für alle Frauen, die unmittelbar vor einer Geburt stehen, ist die Lektüre dieses Romans ungeeignet.“?

Ich selber kann mich gut erinnern, dass die einzigen Romane, die ich vor den Geburten meiner Kinder lesen mochte, die von Jane Austen waren. Für alles andere war ich zu empfindlich. Ich bin zuversichtlich, dass Menschen, die unmittelbar davor stehen, ein Kind zu bekommen, spätestens wenn Iulia die Intensivstation betritt, das Buch zur Seite legen und sich andere Lektüre suchen.

Im Übrigen hatte ich vor der Geburt meines Sohnes nur eine einzige Bekannte, die mir ganz offen von ihren Geburten erzählte. Ich war schockiert und überzeugt, dass sie eine Ausnahme sein musste. Denn nicht einmal im Vorbereitungskurs war etwas anderes als euphemistische Umschreibungen zu hören für das, was drumherum und im Fahrwasser einer Geburt so alles passiert. Ich glaube fest, dass in der Möglichkeit, viele Geschichten zu dieser existentiellen und höchst individuell empfundenen Situation zu hören oder zu lesen, die Chance liegt, Selbstvertrauen zu entwickeln und handlungsfähig zu bleiben, wenn es schwierig wird. Eine gute Geburt ist eine, während der sich weder Väter noch Mütter ausgeliefert gefühlt haben.

Das Leben besteht aus verpassten Chancen und Möglichkeiten. Was tun Sie dagegen?

Ich schreibe Romane. Etwas anderes fällt mir nicht ein. In den Zeiten, in denen ich nicht schreibe, trauere ich den verpassten Chancen hinterher, hadere und nerve meinen Mann, ohne zu merken, dass ich gerade weitere Chancen verpasse. Ich ertrage das alles einigermassen, indem ich den Figuren in meiner Fantasie erlaube, etwas zu erleben.

Mareike Krügel wurde 1977 in Kiel geboren. Seit 2003 hat sie vier Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Kappeln. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Rezension von «Sieh mich an» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Peter von Velbert

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper

Philipp Dorn ist Krimiautor. Und weil Arbeiten abgeschlossen sind und die Kasse aufgestockt, nimmt sich Philipp mit seinem neuen Joe Louis ein paar Tage Ferien in Italien. Nicht nur seinem Sehnsuchtsort, sondern auch jenem seiner Mutter, die er vor noch nicht langer Zeit zu Grabe tragen musste.

Mein erstes Auto kaufte ich für wenig Geld meiner Patentante ab, einen gelben Suzuki, den meine Gotte liebevoll Susi nannte und mir dann Sorgfalt ihrem Schützling gegenüber sehr ans Herz legte. Menschen, die ihrem Auto Namen geben, sind mir grundsätzlich suspekt. Ebenso solche, die aus Freude am Sound den Motor ihres Lieblings aufheulen lassen. Philipp Dorn hat sich mit einem neuen (Gebraucht-) Wagen belohnt, nachdem der alte, ein Jaguar, mit seinen Macken immer eigenwilliger wurde. Belohnt für ein abgeschlossenes Manuskript, belohnt mit einer Pause. Er fährt weg Richtung Süden, in eine Gegend in Italien, von der Philipp weiss, dass es in weiter Vergangenheit eine Liebe seiner Mutter gab, die er, der Sohn, mit einem Nein beendete.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05726-4

Damals lebten seine Eltern wohl noch unter dem gleichen Dach, er Pfarrer, sie Lehrerin, aber eine Affäre der Mutter hatte den Vater kalt werden lassen. Man spielte gegen Aussen das makellose Paar, und liess das eigene Zuhause zu einem stummen, frostigen Nebeneinander werden. Als Philipp vierzehn war, lud ihn seine Mutter auf ein Eis ein und fragte ihn, ob er mit ihr nach Italien siedeln würde. Ihrer Liebe zu einem amerikanischen Soldaten wegen. Philipp wollte nicht. Wollte nicht all seine Pläne sausen lassen, kein neues Leben beginnen, wo doch das hiesige erst so richtig in Schwung zu kommen schien. Die Mutter blieb. Der kalte Krieg zwischen den Eltern auch. 

Später unternahm Philipp mit seiner Mutter das eine und andere Mal Reisen nach Italien. Reisen, bei denen man sich noch immer nach seiner Mutter umdrehte und später nach ihm, weil man es löblich fand; ein Sohn mit seiner alten Mutter. Doch jetzt, Mutter schon länger tot, er von ihr zurückgelassen, vieles weggeräumt, Brigitte, deine langjährige Freundin verloren, ausgezogen aus der Wohnung, fährt Philipp weg, gen Süden. In einem Ferienhaus mit Pool will er Ordnung in sein Leben, seine Gedanken bringen, Platz schaffen für Neues. Bis er in einer schlaflosen Nacht ein Plätschern im Pool hört und beim Näherkommen eine Frau schwimmen sieht, nackt, Länge um Länge. Bis er sich von seinem Balkon aus zu erkennen gibt und man sich zu einem Glas Wein dort trifft. Bis aus den nächtlichen Treffen im Gezirpe der Zikaden lange Gespräche wachsen. Woher man kommt und wohin es gehen soll. Und Philipp spürt, dass das, was er glaubte, abgeschlossen zu haben, das Abenteuer einer Frau näherzukommen, mit einem Mal zu einem Gefühl wird, das ihn gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Wer ist die Frau, die ihm im Bademantel nachts gegenübersitzt, die ihm Geständnisse über die Lippen lockt, die ihn staunend machen? 

So wie Philipp mit seinem Auto durch die Toskana kurvt, so dreht er sich hinein in seine eigene und die Vergangenheit seiner Mutter. Philipps Nein damals, das Wissen, dass er mit jenem Nein das falsche Leben seiner Mutter um Jahre verlängerte, das abgewürgte Glück in Italien und die immerwährende Frage, was gewesen wäre wenn, treibt ihn um.

„Das Glück meiner Mutter“ liest sich leicht, ohne zu behaupten, der Roman wäre leichte Kost. Nur liegt Thommie Bayer nichts daran, dort zu dramatisieren, wo Risse tief genug sind. Philipp ist ein Normalo, seine Selbstzufriedenheit und Distanz zu seiner Welt manchmal fast unerträglich – so wie seine infantile Liebe zu seinem fahrenden Spielzeug. Aber man muss Protagonisten nicht lieben. Dafür die Art des Erzählens. Thommie Bayer hat seine ganz eigene. Ich mag sie sehr!

Interview 

Eine Reise nach Italien, eine Ferienwohnung in der Toskana, tiefroter Wein, warme Nächte und eine Frau, die nackt ihre Bahnen im Pool zieht. Eine Fahrt mit dem Auto gen Süden, unabhängig, beinah frei von Pflichten. Genug Geld im Rücken und den leisen Kitzel eines Geheimnisses aus der Vergangenheit. Du bedienst gleich einige Sehnsüchte. Erst recht jetzt in dieser queren Zeit. Philipp hat fast alles. Seine Mutter damals fast nichts mehr, nur einen Platz im falschen Leben. Ist das nicht genau der Spiegel der heutigen Zeit? Klagen noch und noch und man vergisst, wo man lebt?
Das kann man so sehen. Ich denke zwar beim Schreiben nicht über Allgemeines nach, aber es schleicht sich irgendwie von selbst mit ein. Und wenn ich meine eigenen Sehnsüchte spazierengehen lasse, finden die automatisch ihre Komplizen, die Leute, die dieselben Sehnsüchte haben. Und wenn ich mir die Romanfigur vorstelle, wird die automatisch zu einer, die von der heutigen Zeit geprägt ist.

Die Mutter damals fragte ihren Jungen, ob er bereit wäre, weit weg ein neues Leben mit ihr zu beginnen. Ein Nein machte für eine ganze Weile alles zu und liess das Leben der Mutter auch später nur noch durch einen Spalt am Grossen und Ganzen teilhaben. Zumindest ist das die interpretierte Schuld, die sich Philipp aufgeladen hat. Machen wir nicht ganze Leben kaputt durch hineininterpretierte Schuld?
Ganz bestimmt tun wir das. Aber zum Erwachsenwerden gehört das Übernehmen von Verantwortung, auch der für frühere Verfehlungen. Der Blick wird weiter, die Perspektiven ändern sich, und was für einen vierzehnjährigen Jungen ganz naheliegend und vollkommen verständlich war, wird für den fast fünfzigjährigen Mann zu etwas, das er bereut und gerne ungeschehen gemacht hätte.

Philipp lernt Livia kennen, eine junge Frau, die ihm schon beim ersten Treffen mit aller Selbstverständlichkeit das Innerste entlockt. Eine Begegnung, die wahrscheinlich nur im Dunkel der Nacht jenen Zauber entwickeln konnte. Was kann die Nacht, was der Tag nicht kann?
Vielleicht wirft uns die Nacht auf uns selbst zurück, vielleicht hat sie auch an sich schon einen Zauber, der auf manches abfärbt, was in ihr geschieht. Das Licht ist weitgehend weg, sodass alles, was wir noch sehen, sich in ganz anderer Weise zeigt, die Stille der Umgebung macht das Wenige, was wir hören bedeutender, und das Gefühl ganz alleine oder fast alleine wach zu sein während alle anderen schlafen, ist aufregend. Man fühlt sich wacher als wach.

Philipp war seiner Mutter sehr nah, obwohl er nicht erst nach ihrem Tod feststellen musste, dass sie sich nach seinem Nein damals nie mehr wirklich für sein Leben interessierte. Als wolle sie sich nie mehr die Finger an fremdem Leben verbrennen. Als wäre sie nur mehr auf sich selbst fokussiert. Aber hängt nicht genau dort der Fallstrick, wo man sein Leben von fremdem Leben allzu abhängig macht?
Ja. Genauso ist es. Aber wir leben mit anderen. Eremitage ist nicht die Lösung. Das nennt man Schicksal. Wenn man alt genug ist, Verantwortung zu übernehmen, ist man vielleicht auch alt genug, sich in die Verbindung mit anderen Menschen zu schicken. Und eine solche Verbindung lässt nun mal nicht jeden jederzeit frei.

In einem „alten Leben“ warst du Musiker. Vor deinem Roman steht das Zitat des Liedermachers Francesco De Gregori „È tutta stesa al sole, vecchio, questa vecchia storia.“ Wo treffen sich Literatur und Musik in deinem Leben?
Sind beide wohl ganz eng verzahnt. Das Poetische in Liedtexten, das musikalische in Literatur, die Anregung, die von beiden Künsten ausgeht, das Inspirierende und Bewegende darin. Sicher auch das Gefühl der gesteigerten Anwesenheit in den besten Momenten. Beides ist irgendwie immer da, ob ich nun gerade lese oder Musik höre, oder nicht.

Hat dein Auto in deiner Garage einen Namen?
Es heisst „Edelkatz“. Manchmal auch „Superschöner Edelkatz“.

Ein Buch und eine Musik, die dich nicht loslassen. Und warum?
Ein Buch fällt mir gerade nicht ein, aber ein Stück Musik, das sich immer wieder bei mir meldet ist „Broken Barricades“ von Procol Harum. Die leitende Klavierfigur übt noch immer diese Faszination auf mich aus wie beim ersten Mal als ich es hörte. Und das muss so etwa fünfzig Jahre her sein.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das innere Ausland».

Rezension von «Das innere Ausland» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Thommie Bayer

Georg M. Oswald «Vorleben», Piper

Lockte schon einmal die Versuchung, das Mobilphone ihrer Partnerin oder ihres Partners zu durchsuchen, die Briefe in der Schachtel ganz unten im Kleiderschrank, die Tagebücher aus der Zeit vorher? Wieviel wissen sie von der Geschichte derer, die sie lieben? Passierte es ihnen schon einmal, dass sie sich in Spekulationen darüber verloren, was Vorstellungskraft, offene Fragen und nagende Neugier in ihr Denken frassen?

Sophias vielversprechender Beginn einer Journalistinnenkarriere ist ins Straucheln geraten. Nicht weil sie die Fähigkeiten dazu verloren hätte, sondern weil man sie irgendwie zu übersehen scheint, obwohl alles an ihr am rechten Fleck ist. Sie hadert. Bis eine Freundin ihr zu einem Job verhilft, von dem sie sich mehr als nur ein Stück Sicherheit verspricht. Sie soll das Staatliche Symphonieorchester München und ihre MusikerInnen bei ihren Proben und Konzertreisen begleiten und dabei das Programmheft der kommenden Saison mit ihren Texten bestücken. Texte, die den Blick von Aussen auf Musik, Interpretation und KünstlerInnen richten, die nicht fachsimpeln, sondern literarischen Kontrapunkt zu den Klängen auf der Bühne liefern sollen. Schreiben, von dem sich Sophia viel verspricht, zumal sich der Cellist Daniel fast von Beginn weg nicht nur für ihre Aufgabe zu interessieren scheint.

Die Ereignisse überstürzen sich. Eben noch voller Zweifel ebnet sich alles. Sophia mag den charmanten Cellisten, der sie von Anfang an auf Händen trägt, der sie dazu verleitet, ihr Zimmer in einer WG aufzugeben und in seine grosse, mondäne Dachwohnung in der Münchner Innenstadt zu ziehen. Während Daniel ausserhalb probt, soll die Wohnung, an der alles Souveränität und Stabilität ausstrahlt, ihr neues Zuhause, ihr Arbeits- und Musseort werden. 

Georg M. Oswald «Vorleben», Piper, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, IBAN 978-3-492-05567-3

Aber nachdem das Programmheft gedruckt ist und nichts mehr darüber hinwegtäuscht, dass ihr Beitrag darin trotz fürstlicher Bezahlung nicht mehr als Text ist, macht sich erneut jene Leere breit, die Sophia zweifeln lässt, ob das Schreiben wirklich ihr Weg ist. Daniel macht ihr zwar Mut und drängt sie zu nichts. Aber jeder Tag in der grossen Wohnung wird zu einer immer verzweifelteren Suche nach ihrer Bestimmung. Er, der seine Bestimmung gefunden hat, sie, die in Selbstzweifeln und Verunsicherung den dünnen Boden unter den Füssen zu verlieren droht. Bis Sophia aus lauter Neugier in einem weissen Fotoalbum ganz hinten ein paar lose Polaroidfotos findet; eine junge Frau darauf mit farbigen Haaren und wilder Kleidung. Fast gleichzeitig stösst sie in der Buchhandlung ums Eck auf einen „Reiseführer für Eingeborene“ und darin auf einen Artikel mit der Überschrift „Die Schlange beim Tanze – das schöne und schreckliche Leben der Nadja Perlmann“.

Was sie wie ein Blitz trifft und sich zu wilden Spekulationen auftürmt, bietet ihr mit einem Mal das, wonach sie hoffte; Stoff. Eine Geschichte, die sich ihr auftut, in die sie sich schreibend verlieren kann. Gleichzeitig droht der Verrat an dem Mann, der ihr alles entgegenbringt, was sich wie wirkliche Liebe anfühlt. Und als Sophia in ihrer Witterung nach der grossen Geschichte, der Wahrheit und einer finsteren Vergangenheit nicht mehr zu halten ist und in Daniels Kellerabteil einen Sack mit weiteren schriftlichen Indizien findet, die offenbaren, dass das propere Leben, die Fassade ihre Mutmassungen zu bestätigen scheinen, kommt es zum „Showdown“.

Georg M. Oswalds Roman ist die Suche nach Bestimmung, ein Roman über die Macht der Leidenschaft, der Spekulation, den Kampf gegen die Vergangenheit. Georg M. Oswalds Romane sind kluge Unterhaltung, flirrende Arrangements von Figuren, die ganz nahe an der Wirklichkeit sind.

© Peter von Felbert

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman „Alles was zählt“, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman „Vom Geist der Gesetze“ und der Band „Wie war dein Tag, Schatz?“.

Rezension von Georg M. Oswalds Roman «Alle, die du liebst» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Rainer Jund «Tage in Weiss», Piper

«Das Leben muss weitergehen … vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht muss das Leben gar nicht weitergehen, vielleicht muss es einfach gar nichts. Nichts. Nur eines müssen wir: ein Wunder sein. Verletzlich sein. Sterben.»

Rainer Junds Buch ist kein Roman, eher eine Art reflexive Sammlung von Spitalgeschichten. Aber selbst diese Klassifikation wird dem überaus literarischen Schreiben des Arztes und Schriftstellers nicht gerecht. Wäre es ein Roman, wäre ein Protagonist im Zentrum. So sind es sie alle: Sie, die dort arbeiten, weiss gekleidet oder nicht. Sie, die dort hineingehen und etwas erhoffen, als Begleitung oder direkt betroffen. Sie, die dort in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen, die in extremis über Leben oder Tod entscheiden. Sie, die bewegungslos daliegen, weggetreten. Sie, die schon beim Eintritt alles besser wissen. Sie, denen alles oder fast alles genommen wird oder werden muss.

„Tage in Weiss“ erzählt von Liebe, Leben und Tod, von Verzweiflung, Ergebenheit und Hingabe. Rainer Jund erzählt in allem von allem: zarte Liebesgeschichten, schmerzhafte Trennunsgeschichten, solche von Macht und Ohnmacht, manchmal actiongeladen, manchmal ganz nach Innen gerichtet, genauso wie der Arzt im Spital zwischen seinen selbstvergessenen Einsätzen einen Moment der Rück- und Einkehr braucht.

Rainer Jund nimmt mich als Leser an der Hand, nicht weil er eine Sammlung Spitalanektoten zum Besten geben will, um mir zu beweisen, wie sehr im Kosmos Spital die Post abgeht. Er nimmt mich bei der Hand und führt mich zu den Menschen, denen in jenen Mauern das Schicksal durch Fremdbestimmung aufgezwungen wird, wo sich in Extremsituationen das zeigt, was sonst hinter Fassaden, Coolness und Selbstbeherrschung verborgen bleibt. Er nimmt mich an der Hand und zeigt mir das wahre Antlitz des Menschen, sei es in der Liebesgeschichte eines alten Ehepaars, wo der greise Ehemann am Bett seiner Frau sitzt und die durchscheinende Haut auf der Hand in seiner Hand streichelt oder wenn Naivität, Nicht- und Halbwissen auf Wissen und Wissenschaft prallt. Zuweilen reisst er mich an der Hand in einen Kampf um Leben und Tod, ob gewonnen oder verloren, dorthin, wo alles vorbei ist, die Nähe, das Glück, das Leiden, das Leben.

Rainer Jund «Tage in Weiss», Piper, 2020, 240 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-492-05878-0

Rainer Jund schildert die Arbeit jener Menschen in Weiss, die sich in diese Farbe gewandet manchmal fast in Maschinen verwandeln, unter Stress zu reinem Funktionieren und Reagieren gezwungen werden. Zum Glück der Betroffenen, denn nähmen die Helfenden in allem Stress ihre Emotionen wahr, fände der Kampf gleich an mehreren Fronten statt, ganz zum Nachteil jener, deren Leben an einem Faden hängt.
Da ist auch kein Funke Heroismus, denn Rainer Jund zeigt in den Schwächen und Fehlern die Menschlichkeit.

Wer im Spital liegt, liegt unter einer Decke. Wer geht, geht im Spitalhemd oder im Morgenmantel. Aber eigentlich sind sie alle nackt, ihrer Schalen, Krusten, Schichten und Fassaden beraubt. Noch in diese Nacktheit hinein schneidet das Skalpell, öffnet noch einmal, noch tiefer. So wie Rainer Jund mit seinem Schreiben. 

Und manchmal sind es einfach und immer wieder Sätze, die mich als Leser berühren. „Es gibt Menschen, deren Leid wie Schimmel auf dem feuchten Boden drängender Erwartungen aufkeimt.“ „Die Leere in mir war wie ein kahler Block.“

Noch während meiner Ausbildungszeit leistete ich Zivildienst in einem grossen Spital, zuerst einen Monat auf der septischen Abteilung, später auf der Orthopädie. Als ich mich am ersten Tag zum ersten Mal weiss eingekleidet hatte, nahm mich eine Pflegefachfrau an ihre Seite und mit zu einer Wundreinigung am Oberschenkel eines jungen Mannes. Der Mann sass aufrecht in seinem Bett. Die Schwester packte den Schenkel aus und begann mit ihren Gerätschaften die handlange Wunde zu reinigen. Mir wurde übel. Die Schwester schickte mich, nachdem sie mein bleiches Gesicht mit einem kurzen Seitenblick diagnostiziert hatte, weg, zurück ins Stationszimmer, wo mich Minuten später, nachdem man mich höflich gefragt hatte, ob ich wieder zum Einsatz bereit sei, eine andere Schwester bat, ihr zu folgen. In einem anderen Zimmer musste bei einer jungen Frau eine Magensonde gelegt werden. Aber nachdem sich die Patientin immer wieder mit Würgereizen gegen den langen Fremdkörper in ihrem Innern zu wehren schien, begannen meine Beine erneut zu wackeln. Ich zog mich kommentarlos zurück und schaffte es gerade noch auf das Personalklo auf der Etage. Dort sass ich dann ziemlich lange auf dem heruntergelassenen Klodeckel. Würde ich das schaffen, nachdem meine Standhaftigkeit schon mit den ersten beiden Einsätzen in Frage gestellt wurde? Oder war das alles Strategie, um dem jungen Gockel zu zeigen, wo «Bartli den Most holt»?

In „Tage in Weiss“ ist kein Funke Selbstinszenierung. Rainer Jund geht es um die Geschichten hinter den Gesichtern, hinter den Augen, hinter geschlossenen Lidern.

Unbedingt lesen, wer sich traut!

© Rainer Jund

Rainer Jund, geboren 1965, studierte Medizin und Wissenschaftsmarketing. Nach seiner Ausbildung an der Universitätsklinik München praktiziert er heute als HNO-Arzt. In den letzten Jahren näherte er sich seinem Beruf zunehmend auch erzählerisch. Er lebt mit seiner Frau, ebenfalls Ärztin, und ihren drei gemeinsamen Kindern in München. „Tage in Weiß“ ist seine erste literarische Veröffentlichung.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Willi Achten «Die wir liebten», Piper, Gastbeitrag von Frank Keil

Willi Achten gibt den einstigen Heimkindern der Bundesrepublik Deutschland mit seinem wuchtigen Roman „Die wir liebten“ eine literarische Stimme. 

Frank Keil

Im Gnadenhof
Gastbeitrag von Frank Keil

Vorab zur Einleitung und zum besseren Verständnis: Was für die Schweiz die „Verding-Kinder“ sind, das sind für die Bundesrepublik die „Heimkinder“. Kinder und Jugendliche, die im Nachkriegsdeutschland ihrer Freiheit beraubt wurden; die in meist kirchlichen Heimen beider Konfessionen, aber auch in kommunalen Heimen untergebracht wurden. Die dort arbeiten mussten, deren Schulpflicht zuweilen ausgesetzt war und denen Kontaktmöglichkeiten zu Eltern, Verwandten oder Freunden untersagt wurden – ohne das staatliche Stellen ihrer Pflicht der Kontrolle nachgingen; ohne dass es irgendeine unabhängige Instanz gab, an die sich die Kinder und Jugendlichen hätten wenden können. Bis weit in die 1970er-Jahre ging das, als sich zugleich die bundesdeutsche Gesellschaft unter dem Einfluss der so genannten Studentenrevolte immer mehr liberalisierte. Salopp gesagt: Während in der Öffentlichkeit über antiautoritäre Erziehung debattiert wurde, wurde in den Heimen noch handfest und unhinterfragt geprügelt.
Erst als ab etwa Anfang bis Mitte der 1970er-Jahre eine neue Generation von Erziehern und Erzieherinnen in der staatlichen wie privaten Jugendhilfe auftauchte, änderten sich die Heime; viele wurden nach und nach geschlossen; neue Lebens- und Wohnformen für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familiensituationen entwickelten sich.

Und dennoch dauerte es weitere 30 Jahre, bis die Geschichte der repressiven, jahrzehntelang gültigen Heimerziehung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und besonders die längst erwachsenen und zugleich tief traumatisierten einstigen Heimkinder gehört und dann befragt wurden. Es war interessanterweise ein Buch, das diesen Prozess einleitete: „Schläge im Namen des Herrn“ des SPIEGEL-Journalisten Peter Wensierski, 2006 (!) erschien es.

Seitdem wurde nach anfänglich erheblichen Widerständen der beiden Kirchen verschiedene Entschädigungsfonds für die einstigen Heimzöglinge aufgelegt. Seitdem gibt es auch eine tiefgehende historische Forschung – aktuell wird etwa untersucht, in wieweit an den Heimkindern nicht zugelassene Medikamente erprobt wurden und in wie weit sie wichtigen Unternehmen zuarbeiten mussten, ohne je dafür entlohnt worden zu sein. Es gibt zudem – wie bei den Verding-Kindern auch – eine Reihe von Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder; Lebens- und Überlebensberichte, autobiografisch grundiert, oft in kleinen Verlagen erschienen oder in Selbstverlagen veröffentlicht.
Was aber bisher weitgehend fehlt, ist eine literarische Aufarbeitung – vergleichbar mit dem so genannten Internatsroman. Nun hat Willi Achten mit seinem Roman „Die wir liebten“ erste, wichtige Pflöcke eingeschlagen.

Und der schickt Edgar und Roman, die zwei Brüder, die Söhne des Bäckers, in die apokalyptische Heim-Welt. Die beiden Jungen kennen das Haus, vor dem sie nun stehen, zwangsweise hierher gebracht. Das Haus, das ein Heim beherbergt. Sie standen schon öfter davor; letzten Weihnachten erst, als sie den übriggebliebenen Kuchen ablieferten, eine Spende; an der Pforte hatten sie ihn abgegeben, weiter waren sie wie auch die Jahre zuvor nicht gekommen, und es war ihnen recht. Hatten dafür die Zigarre entgegengenommen, vom Heimleiter, auch wenn ihr Vater, der Bäcker, der den Kuchen spendete, der sich nicht mehr verkaufen liess, gar nicht rauchte. Aber das erzählten sie nicht, so wie sie auch nicht fragten, was das für ein Heim sei und wie es einem dort ergehe und wie man in dieses Heim komme, das „Gnadenhof“ heisst; besser nicht fragen, weil Fragen Wissen nach sich ziehen kann. Und dann – womöglich – Handeln.

Da sind wir sind Seite 253 angekommen. Alles, was wir zuvor gelesen haben, war notwendiges Vorspiel, war unverzichtbares Intro, einerseits. Ist die Vorgeschichte einer nun offen ausbrechenden Katastrophe, die notwendig zu erzählen ist, um zu verstehen, was auf den nun folgenden, etwas mehr als 100 Seiten geschieht. 

Willi Achten «Die wir lieben», Piper, 2020, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05994-7

Denn sie sind anfangs eine ganz normale Familie. Im Grossen und Ganzen jedenfalls, in einem kleinen Ort, im Rheinland. Vater, Mutter, zwei Kinder. Eine Grossmutter noch dazu, ein Vetter der Grossmutter, der in der väterlichen Backstube arbeitet und hilft, dann noch die Grosstante Mia; die etwas anders ist, sehr eigen sozusagen, die für ihr Leben gern strickt, alles einstrickt, wirklich alles, sitzend unter einer Marienfigur. Die Mutter hat eine Art Kiosk, einen Lottoladen, auch sie arbeitet viel, und sie arbeitet gern. Es ist das Jahr 1971, als wir dazu kommen.

Ob es zwischen den Eltern die grosse Liebe ist, wohl eher nicht. Vielleicht war sie es mal. Vielleicht haben sich die beiden durchaus mehr erhofft, voneinander. Nun sind sie eine ganz normale, eine klassische Familie, in einer Zeit – ich erinnere das, es ist eine prägende Erinnerung –, als in den Nachrichten die Zahl der unehelichen Kinder vermeldet wurde, die stieg und stieg. Und entsprechend kommt alles ins Rutschen, als der Vater auf dem Dorffest mit der Tierärztin tanzt, zu Procul Harum, zu A Whiter Shade of Pale. Und sich dann mit ihr trifft. Und dann das erste Mal nachts nicht nach Hause kommt. Sondern woanders ist, wo er bleibt. Nicht gleich, aber bald.

Die beiden Jungs ahnen, was nun passieren wird. Auch wenn sie das Gegenteil hoffen. Und der Vater ist ja morgens da, steht in der Backstube; wann immer es möglich ist, helfen ihm die Söhne, springen ein, vielleicht kann das das Schlimmste verhindern. Und noch ist der Vater ja da, noch hören sie mit ihm gemeinsam Radio, wenn Fussball ist, bis die Ergebnisse feststehen. Über das, was geschieht, mit ihnen, im Einzelnen wie mit allen zusammen, wird nicht gesprochen. Es wird gehofft. Und das ist nicht genug; es ist bei weitem nicht genug.

Denn sie alle sind nicht allein auf der Welt. Es gibt den Dorfpolizisten, der schon vorher Dorfpolizist war und dem entsprechend eine gnadenlose Brutalität zu eigen ist. Und es gibt die Fürsorgerin, die die zerbrechende Familie nicht aus ihrem Blick lässt und die nur darauf wartet, dass sie einschreiten kann; aus eigenem Antrieb heraus wie von Amts wegen. Aber erst mal nimmt sie sich Mia vor, die zurückgebliebene Großtante, das schwächste Glied in einer sich auflösenden Kette, um die sich der Staat doch zu kümmern hat. Und dann ist es soweit und Edgar und Roman können nicht mehr entkommen.

Willi Achten erzählt das so kraftvoll wie schonungslos. Er verfügt über einen realitätssicheren und wahrhaft packenden Erzählstil, dass man zuweilen kaum weiterlesen mag, weil man das fürchtet, was auf den nächsten Seiten passieren wird und das passiert dann auch. Er holt uns in eine Welt zurück, die historisch gesehen, so lange her nicht ist und auf die oft genug nur verklärend geschaut wird, weil es damals besonders schaurige Popmusik gab und die regierenden Männer unförmige, schwarze und schwere Schuhe trugen und sich das dünne Haar mit Birkenwasser tränkten, ach, ist das lange her, so gefühlt, und was war das seltsam.
Was Willi Achten uns mit seiner eigentlich ganz klassischen Familiengeschichte dagegen nahe bringt, ist ein zuweilen fast körperlich zu fassendes Erschrecken über die eingangs kurz skizzierte Erziehungswelt der 1970er-Jahre; von prügelnden Lehrern bis nahezu allmächtigen Fürsorgerinnen, flankiert von oft hilflosen Erwachsenen, die gerade anfingen an der sich vorsichtig ausbreitenden Liberalität bei der Gestaltung von Lebensentwürfen zu erproben.

Und so ist der zweite Teil des Romans nichts geringeres als eine geradezu apokalyptische Reise in die Abgründe der westdeutschen Heimerziehung, die fast lückenlos und nahezu ungebremst, weil auch personell gestützt auf die Ideale und Abläufe der Nazizeit aufbaute und die sich jahrzehntelang ungeprüft und unhinterfragt austoben konnte, auch weil sie Gesetz war und niemand in die Speichen des sich drehenden Rades griff. Und die so spät in Frage gestellt wurde und die noch später endetet, nach der so genannten Heimkampagne kritischer Pädagogikstudenten, bei der nicht zuletzt eine gewisse Ulrike Meinhof eine nicht unwichtige Rolle spielte.
Dieser Zeit und besonders ihren Opfern hat Willi Achten mit seinem Roman ein überaus lesenswertes Dokument überlassen.

Willi Achten wuchs in einem Dorf am Nieder­rhein auf. Er studierte in Bonn und Köln. Seit den frühen 1990er-Jahren ist er als Schriftsteller tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Willi Achten lebt im niederländischen Vaals bei Aachen.

Webseite des Autors

Beitragsfoto © Heike Lachmann / Piper Verlag

Thommie Bayer «Das innere Ausland», Piper

Andreas Vollmann hat sich in seinem Rentnerleben in seinem Haus in Südfrankreich eingerichtet. Aber der Tod seiner Schwester, mit der er das Haus teilte und das unvermittelte Auftauchen einer jungen Frau, die behauptet, die Tochter seiner Schwester zu sein, bringen das Leben des ehemaligen Bahnschaffners gehörig durcheinander.

Man installiert sich in einem Leben, das auf den Grundmauern der eigenen Lebensgeschichte, all ihrer Beziehungen, von Familie, Partnerschaften basiert. Man installiert sich so sehr, dass kleinste Veränderungen zu tiefen Rissen führen können. Erst recht dann, wenn ganze Teile des Fundaments wegbrechen, weil sich die Vergangenheit nicht als die entpuppt, von der man immer glaubte, sie zu kennen. Man will Menschen und ihre Geschichte kennen, füllt Leerstellen mit Ahnungen auf, die zu Tatsachen werden und muss allzu leicht feststellen, dass man sich an Auslassungen, Verschwiegenem und Lügen orientierte.

Andreas Vollmann glaubt nach einem Grossteil seines Lebens zusammen mit seiner Schwester Nina, diese zu kennen. Mehr als andere, weil sie früh zu Waisen wurden, das Schicksal sie zusammenschweisste. Nina die Macherin, die Stütze in seinem Leben. Andreas Vollmann glaubt auch sich zu kennen, sein an Routine und Gewohnheiten gebundenes Leben. Er liest keine Zeitung, kümmert sich nicht um das, was um ihn geschieht, spricht nicht einmal die Sprache, in der man der Nachbarschaft begegnen könnte. Obwohl er weiss, dass sein Leben nicht so einfach weiterzuführen ist, trinkt er weiterhin seinen Kaffee, wischt den Platz vor dem Haus und legt Briefe und Rechnungen zum Haufen ungeöffneter Post.

Bis Malin auftaucht, eine junge Frau, elegant gekleidet, mit einem grossen Koffer und noch grösserer Entschlossenheit. Sie sei die Tochter seiner verstorbenen Schwester. Andreas Vollmann trägt den Koffer ins Haus. Malin folgt ihm. So schnell Andreas Vollmann klar ist, dass die junge Frau kein zufälliger Besuch ist, so schnell nistet sich Malin im Haus ihrer Mutter ein. Eine Tatsache, der sich der Onkel schnell ergibt, zumal ihm die junge Frau sympathisch ist und er das Zusammensein mit Malin schnell zu geniessen versteht. Aber Malin trägt eine Geschichte mit sich, die Tochter seiner Schwester eine Vergangenheit, die Andreas Vollmann nur schwer mit dem zusammenbringt, was ihm bisher Wahrheit war. Eingeschlossen in ein Leben ohne Perspektive tut sich plötzlich nicht nur Vergangenheit auf, sondern Zukunft.

„Ich habe jedenfalls irgendwann verstanden, dass ich fremd bin. Ob in Deutschland oder sonst wo, ich gehöre nicht dazu. Ich war immer woanders, in einer Art innerem Ausland.“

Thommie Bayer erzählt Geschichten, die sich für Protagonisten und Lesende erst allmählich zusammenfügen. Er erzählt von der Kluft zwischen jenen Geschichten, die man sich selbst zusammenreimt und jenen, die das Leben schreibt. Er schreibt von einem in die Jahre gekommenen Mann, den das Leben mit einer unbekannten Nichte noch einmal aufrüttelt, dem sich mit einem Mal doch noch die Chance bietet, an dem teilzunehmen, was an ihm vorbeigegangen schien.

Und Thommie Bayer tut dies witzig und gekonnt. Ein Schriftsteller, dem man die Songwriter-, Liedermachervergangenheit anmerkt, denn da wird auf engstem Raum ein Kleinkosmos beschrieben. Ein Schriftsteller, der weiss, wie Dialoge funktionieren, der verdichtet erzählt, in manchen „Einstellungen“ so nah, dass ich nicht nur sehe, sondern rieche.

Unbedingt lesen! Perfekte Unterhaltungsliteratur mit Tiefgang und Liebe fürs Detail!

Ein kleines Interview mit Thommie Bayer:

Andreas Vollmann ist ein Archetyp, der in Zukunft immer häufiger anzutreffen ist; Jemand, dem es in seinem Leben nicht gelingen wollte, sich in Menschen und Beziehungen zu verankern. Jemand, der beim Tod der einzigen Bezugsperson droht, in Einsamkeit und Isolation zu versinken. Jemand, der sich irgendwann nur noch um sich selbst kümmert, der ganze „Rest“ ihn nichts mehr anzugehen scheint. Wohin, wenn nur noch Karriere (so wie bei seiner Nichte Malin) und der eigene Frieden (so wie scheinbar bei Andreas Vollmann) zählt?
Wir haben hier bei uns die Familie so lange denunziert und dekonstruiert, dass wir sie nicht mehr als Wert ansehen, sondern als etwas Zerstörerisches. In Südeuropa und den USA ist das noch nicht so – die amerikanische Literatur macht einen regelrechten Kult um die Familie, in italienischen Geschichten ist sie eine Selbstverständlichkeit – aber der Weg dorthin scheint auch dort schon zügig beschritten zu werden. Die Folge ist Vereinzelung, Freiheit, Individualität. Und wenn Individualität und Nachdenklichkeit zusammenkommen, dann folgt daraus ein Bewusstsein des Andersseins, des Nicht-dazu-passens, des Außenseitertums. Der eine wird diesen existenziellen Schrecken mit einer Ersatzfamilie zu kompensieren versuchen, sich anpassen an Kollegen, Freunde, Vereinsbrüder, der andere mag sein Leben lang nach einem Zweierbündnis suchen, der romantischen Liebe, einer unverbrüchlichen Freundschaft, und selbst wenn ihm das gelingt, wird er eines Tages – im Alter oder schon früher – mit dem Verlust dieses einzigen Menschen konfrontiert und auf sich selbst zurückgeworfen sein.  Mir scheint, dass heute schon viele alte Menschen so leben. Und vielleicht auch zunehmend jüngere.

Die Bühne Ihres Romans ist klein, ein Weiler irgendwo in Südfrankreich. Das Personal schmal, ein Pensionist, seine Nichte, ein paar kleine Nebenrollen wie die Putzfrau, der Hund des Nachbarn, der immer dann kläfft, wenn sich mehr als die Blätter bewegen und die Katze. Trotzdem machen Sie im Geschehen die Welt auf. Es sind die grossen Themen eines Lebens: Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Wo liegt der Sinn? Wo lag der Initialgedanke zu diesem Roman?
Die Anfangsideen für meine Bücher sind oft simpel und oft nur formal. Ich erinnere mich, dass ich diesmal eine Geschwisterliebe mit einer „abwesenden Hauptfigur“ schreiben wollte. Dass es ein Familienroman ohne Familie werden würde, merkte ich dann bald, dieses Thema brachte sich selbst ein. So geht es oft beim Schreiben. Das Wichtige wächst einfach dazu.

„Not schweisst zusammen.“ Das galt für Nina und Andreas, als sie kleine Kinder waren und zuerst die Mutter durch einen Unfall, später den Vater durch eine Krankheit verloren. Das galt für Nina und Andreas später, weil Nina ihren Lebensmut zwischenzeitlich verlor und die Konstanz ihres Bruders brauchte und für Andreas als Pensionist, weil ihm mit der fehlenden Aufgabe fast alles genommen wurde, was er hatte. Das gilt für Malin, die auf der Suche nach ihrer Vergangenheit Antworten braucht. Diese Redewendung scheint nicht nur im kleinen zu gelten, sondern bis in die Politik. Sie halten sich in Ihrem Roman an die guten Seiten des „Zusammengeschweisstseins“.
Ich halte mich wohl immer an die guten Seiten, das ist meine Art zu schreiben, meine Utopie wenn man so will. Freundlichkeit, Guter Wille, Respekt und Empathie existieren im Prinzip ungeachtet all der Psychopathen, Egomanen, Fanatiker und Menschenbenutzer, das will ich nie vergessen und nie geringschätzen.

Sie haben mehr als zwei Dutzend Bücher verfasst, ein Dutzend Tonträger mit Musik und sie malen. Es gibt viele Schriftsteller, die sich in mehreren Disziplinen ausdrücken, aber nur ganz wenige, die so vielseitig sind wie sie. Friedrich Dürrenmatt schrieb und malte, Silvio Blatter schreibt und malt. Erica Pedretti ist neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin Objektkünstlerin und Malerin. Wie vertragen sich die Disziplinen nebeneinander? Streiten sich die Disziplinen?
Sie gehen sich eher aus dem Weg. Meine Malerei ist ungegenständlich, erzählt oder schildert oder symbolisiert nichts, sie existiert einfach für sich selbst und spricht Gefühl und Verstand an ohne entschlüsselt oder verstanden werden zu wollen. Beim instrumentalen Teil der Musik ist es ähnlich, nur die Texte der Lieder sind verwandt mit dem Schreiben von Romanen. Aber sie sind auch durch ihre knappe, lyrische Form so weit entfernt davon, die Art ihrer Entstehung ist so anders, dass auch hier nichts einander ins Gehege kommt. Das einzige, was sie alle drei gemeinsam haben, ist die Kraft, die ich dafür brauche und mein Wesen, das sich in allen drei Formen manifestiert.

Eine der grossen Qualitäten Ihres Romans ist die Nähe. Nicht nur die Nähe zu den Protagonisten, die Nähe zum Ort, dem Haus, bis hinein ins Badezimmer. Es ist die Nähe, mit der Sie mit sprachlicher und erzählerischer Linse herangehen, wie nahe sie fokussieren. Wer Lieder schreibt, die etwas erzählen, wer malt und etwas zeigen möchte, muss die Dinge auf den Punkt bringen. Was sind die Eckpfeiler Ihres Schreibens?
Was die Form betrifft, denke ich, es sind Genauigkeit, Lakonie, Musikalität und Lesbarkeit. Die Themen sind wohl allesamt romantisch. Die Liebe, das Individuum, die Kunst, die Einsamkeit, die Sinnlichkeit und die Freiheit.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Seltene Affären».

Rezension «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Heinrich Steinfest «Die Büglerin», Piper

Was bestimmt die Wendungen eines Lebens? Gibt es eine zweite Chance? Wann werden Bindungen zu Fesseln? Heinrich Steinfels hat einen berührenden und faszinierenden Roman geschrieben, in dem er sich ohne philosophischen Exkurse mit grossen Fragen beschäftigt. „Die Büglerin“ ist die Geschichte einer Frau, die sich die Konsequenz zur Strafe erklärt, die einen einzigen Satz zu ihrem Leben macht.

Tonia bestraft sich mit dem Leben, das sie führt. Sie ist Büglerin. Ihr Beruf aber ist nicht die Folge einer Notwendigkeit oder weil es keine Alternativen gab. Sie will nicht nur die Kleidungsstücke fremder Menschen glätten, sondern hofft, durch ihr Tun irgendwann jenes undurchsichtige Geschehen zu glätten, dass sie wie einen Alp mit sich trägt. Die Frau von edler, fast nonnenhafter Erscheinung, die im Souterrain wohnt, alle Verbindungen zu ihrem alten Leben mehrfach kappte, still für sich in fremden Haushalten bügelt und sich davor hütet, Menschen zu nahe zu kommen, kam weit weg, mitten auf dem Meer, irgendwo vor der Chilenischen Küste zur Welt, in der Kajüte der Yacht ihrer Eltern, zweier Wissenschaftler, die durch Zufall und Glück zu Geld gekommen waren, viel Geld.

Tonia war ein Kind des Meeres, bis zum ersten grossen Bruch in ihrem Leben. Nachdem sie acht Jahre in einem italienischen Internat in Genua die Schule besuchen musste, erreicht sie mit vierzehn die Nachricht, dass ihre Eltern bei einem Sturm ihr Leben verloren. Eine Mitteilung, bei der nur sie weiss, wie sehr der Alkoholkonsum ihrer Eltern eine Rolle gespielt haben muss.

Tonia wird Meeresbiologin, lebt in einer grossen Villa in Wien zusammen mit ihrer Halbschwester, von der sie erst erfährt, als es um das Erbe ihrer Eltern geht und passt auf auf ihre Nichte Emilie, für die weder Schwager noch Halbschwester Zeit aufbringen wollen.

So klein die Welt auf einem Schiff, so begrenzt in einem Internat, so konzentriert die Wissenschaft auf einen Stoff, so klein ist Tonias Umfeld, trotz der Weite des Meeres und des Himmels, der Unendlichkeit in der Beschäftigung mit Meeresbiologie und der Grazie ihrer Erscheinung.

Bis der zweite, noch viel grössere Bruch in ihrem Leben alles verändert, das feinmaschige Gravitationsfeld ihres Lebens vollständig zerstört und sie sich selbst zum Verschwinden bringt. Sie taucht nach Hamburg ab, wirft allen Besitz „weg“ und beginnt ihre Strafe als Büglerin ohne Bedürfnisse, ein Leben lang dafür aussitzend, im richtigen Moment nicht das Richtige getan zu haben, in der Hoffnung, irgendwann jene Rätsel zu lösen, die ihr die Erklärung dafür geben, was damals passierte.

Obwohl Heinrich Steinfels ein preisgekrönter Krimiautor ist, ist „Die Büglerin“ kein Krimi, trotz der fatalen Schüsse in einem Kino, wo auf der Leinwand Tom Cruise die Welt als Ethan Hunt rettet. Heinrich Steinfels zeichnet das Leben einer Frau, das aus den Fugen gerät, die auf die Hoffnung setzt, irgendwann wenn auch nicht das Gleichgewicht wiederzufinden, so doch zumindest ihre auf sich genommene Schuld begleichen kann.

Heinrich Steinfels erzählt witzig und vielschichtig, episch und kurzweilig, rasant und detailversessen. Er zeichnet seine Figuren fast akribisch, weil er nicht ihr Aussehen, sondern ihre Wirkung beschreibt, ihr Tun und Handeln, ihre Leidenschaften und verborgensten Geheimnisse. „Die Büglerin“ ist ein Roman, der mich eintauchen lässt und packt. Kein Wunder wurde Heinrich Steinfels schon mehrfach für den Deutschen Buchpreis nominiert!

© Burkhard Riegels

Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit «Ein dickes Fell»; 2014 stand er mit «Der Allesforscher» auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für «Das Leben und Sterben der Flugzeuge».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Gaël Faye „Kleines Land“, Piper

Wir, eine Gruppe Lese- und Literaturinteressierter, treffen sich monatlich und diskutieren über ein Buch, eine Schriftstellerin, ein ganzes Werk, die Gegenwartsliteratur eines Landes, eine Literaturverfilmung… So wie es viele tun im Wissen darum, dass man einem Buch eigentlich nicht gerecht wird, wenn man es nach der Lektüre bloss in ein Regal schiebt. Dass ich dabei auch Bücher lese, die sonst an mir vorbeigehen würden, versteht sich von selbst.

So wie der Autor selbst kehrt Gabriel nach vielen Jahren im unfreiwilligen Exil in Frankreich zurück in das Land seiner Kindheit. Ein Entschluss, der nicht zu reifen brauchte, sondern einer, der Mut brauchte, um in ein Land zurückzukehren, dass ihm mit Macheten und Gewehren, die Mutter, die Familie, die Heimat nahm. Zurück in ein Land, das nicht mehr das sein würde, was es einst war.

Gabriels Kindheit in Burundi war die eines privilegierten Jungen. Zusammen mit seiner Schwester, einem erfolgreichen Vater und einer schönen Mutter wächst der junge Gabriel unter einer paradiesischen Glaskuppel auf, weit weg von Armut und dem schwelenden Konflikt zwischen Tutsis und Hutus.

1994 kostete der Stammeskrieg, der zu einem Völkermord ausartete eine Million Todesopfer. In hundert Tagen massakrierten Angehörige der Hutu-Mehrheit ca. 75% der Tutsi Minderheit und moderate Hutus, die sich dem Morden entgegenstellten. Ein Konflikt, der nicht erst in jenem Jahr entgleiste, sondern in den Ländern dieser beiden Volksgruppen immer wieder zu grossen Auseinandersetzungen führten.

Gabriel spürt diesen Konflikt. Aber Vater und Mutter versuchen den Jungen aus der Politik und den gegenwärtigen Konflikten und Problemen herauszuhalten. Gabriel zieht nach der Schule mit seiner Clique durchs Quartier. Sie klauen Mangos von den Bäumen der Nachbarn, baden im Fluss und treffen sich in einem ausgeweideten Autobus. Aber nicht nur die politische Situation im Land spitzt sich zu. «Nachts liess Mamas Zorn die Wände unseres Hauses wackeln.» Gabriel muss zusehen, wie die Ehe der Eltern immer mehr zu Maskerade wird, bis sie auseinanderbricht und Gabriels Mutter das Haus verlässt. Das Paradies beginnt zu bröckeln. Aber auch im Land rumort es. Obwohl die ersten freien Präsidentschaftswahlen Grund zur Hoffnung wären, stirbt diese, durch Morde und Attentate. Das empfindliche Ungleichgewicht im Land beginnt zu kippen. Gabriel und seine Freunde hören in der Ferne Schüsse. Das Personal in Gabriels Elternhaus erscheint nicht zur Arbeit und die Schule bleibt geschlossen. Angst schleicht sich ein. Ein Gefühl, das Gabriel so nicht kannte. «Da kann ich in meinem Gedächtnis wühlen, wie ich will, ich komme nicht mehr auf den Moment, ab dem es uns nicht mehr reichte, das bisschen zu teilen, was wir besassen, und wir keinem mehr trauten, jeden als Gefahr ansahen, eine unsichtbare Grenze zogen gegen die Aussenwelt, unser Viertel zur Festung erklärten und unsere Sackgasse zum Sperrgebiet.»

So beschaulich sich der erste Teil des Romans liest, so schrecklich, beissend und unwirklich wird das Geschehen im zweiten Teil von «Kleines Land». Gabriels Welt bricht auseinander. Aus lauter Angst kehrt die Mutter zurück ins Haus. Doch der Krieg im Land frisst sich in die Herzen aller. Die Reise zur Hochzeit von Verwandten wird zum Spiessrutenlauf und ein verzweifelter Anruf zum letzten Lebenszeichen. Gabriels Vater schafft zusammen mit seinen beiden Kindern die Flucht ins ehemalige Mutterland Frankreich. Die Mutter bleibt zurück. Mit ihr die für immer verlorene Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Sicherheit.

Ich gebe zu, das Buch hat seine Schwächen. Vieles von dem, was der Autor «verspricht», von dem er zu erzählen beginnt, lässt er fallen. So poetisch die Sprache in manchen Passagen ist, so hölzern an anderen. Und doch schafft es Gaël Faye mit seinem Buch, dass eine Tür aufgerissen wird. «Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.» Gaël Fayes Roman zwingt einem, nachzudenken. «Kleines Land» ist ein Buch über unheilbaren Verlust. Über den Irrtum, dass man sich durch Flucht zu retten vermag.

Gaël Faye, 1982 in Burundi geboren, wuchs als Kind einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters auf, bevor er 1995 als Folge des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten musste. Nach dem Ende seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er zwei Jahre als Investmentbanker in London, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um dort als Autor, Musiker und Sänger zu arbeiten. Sein erster Roman »Kleines Land« war nominiert für den Prix Goncourt und erhielt unter anderem den Prix Goncourt des Lycéens.
Übersetzer: Andrea Alvermann und Brigitte Grosse

Ein Buch zur Vertiefung: «Hundert Tage» (2008, Wallstein Verlag) von Lukas Bärfuss!
Ein sehenswerter Film: «Hotel Ruanda» von Terry George, 2004

Webseite des Autors

Birgit Vanderbeke „Wer dann noch lachen kann“, Piper

Ich las Birgit Vanderbekes neuen Roman „Wer dann noch lachen kann“ mit angehaltenem Atem. Ein Buch, das zur Sprache bringt, worüber andere schweigen. Birgit Vanderbeke traut sich hinzuschauen, tut das, was ihr Herr Winkelmann damals im Flüchtlingslager, als sie selbst ein kleines Mädchen war, ans Herz legte. Er sagte: Immer ganz genau hinschauen, hörst du!

Birgit Vanderbekes Bühne ist die Familie. Keine Bühne mit Kulissen, sondern  wahrhaftiger Hintergrund. Sie erzählt von ihrer Kindheit, die man keinem Kind wünscht. „In dieser Sache hatte ich etwas Pech.“ Was lakonisch klingt, ist Programm des Romans. Birgit Vanderbeke malt nicht den Schmerz und die Verwundung. Sie zelebriert die Kraft, die sie daraus entwickelt. Eine Kraft, die sie zu Sprache macht.

Vater und Mutter sind da, wenn auch nicht so, wie es sich für das Idyll Kleinfamilie ziemt. Vater arbeitet sich in leitende Funktion hoch in der Chemie und Mutter versucht sich nach einem Arbeitstag als Lehrerin als Mutter und Hausfrau. Was nach Familie aussieht, birgt Höllenqualen. Schon ganz am Anfang des Romans setzt die Autorin dem Schicksal des Mädchens in ihrem Buch all die Schicksale Verfolgter, Geflohener, Heimatloser, Ertrunkener gegenüber. Solcher, die nicht „bloss“ Pech mit den Eltern, sondern Pech mit ihrer ganzen Welt, selbst mit ihrem eigenen Leben hatten und haben.

Mit der Familie geflohen aus dem Osten, vorübergehend in einem Flüchtlingslager und im Westen alles daran setzend, am Aufschwung teilzuhaben, ist das kleine Mädchen, das oft nicht will, wie man es gerne hätte, eine Last, ein Prüfstein, ein lästiger Klotz. Je länger die Kampfehe der Eltern dauert, je tiefer sich die Mutter in Abhängigkeiten von Ärzten und Medikamenten, von Beruhigungsmitteln und Diagnosen verliert, desto wichtiger wird abends die starke Hand des Vaters, die den Bengel ins Lot prügeln soll. „Das Mädchen braucht eine starke Hand.“ Und wenn das noch zu wenig ist, auch einmal eine Portion Valium aus dem Tablettensortiment der Mutter.

Das Mädchen hat nur sich selbst und die tiefe Stimme im Ohr, die sie liebevoll „Karline“ nennt. Und nachts tröstet sie der Mikrochinese, dem sie alles erzählen kann.

„Sie hören dir einfach nicht zu und denken, wenn sie dir nicht zuhören, hälst du irgendwann die Klappe, bist endlich still und isst deine grünen Bohnen.“

Die Misshandlungen an der Tochter werden zum Martyrium. Bei den Ausbrüchen des Vaters bleibt es nicht. Ebenso tief gehen die verbalen Verunglimpfungen der Mutter. Beschimpfungen und Verurteilungen, die mit Mutterliebe nichts gemein zu haben scheinen. Sie beschreiben höchstens den Grad der mütterlichen Verzweiflung. Ebenso schmerzhaft sind die nicht enden wollenden Gänge zu einer ganzen Kette von Ärzten – bis es mir als Leser beinahe den Magen umdreht.

Viel später lässt sich die mittlerweile junge Frau nach einem Verkehrsunfall überreden, einen Mikrokinesietherapeuten zu konsultieren. Er würde ihre dauernden Schmerzen im Gegensatz zur traditionellen Medizin behandeln können. Was dort geschieht, unter den Händen eines alten Mannes, dessen Wesen die Verkörperung des Mikrochinesen aus der Kindheit zu sein scheint, ist viel mehr als Schmerztherapie.

Birgit Vanderbekes Roman ist nicht einfach, weil ihre Sprache den Inhalt kontrastiert. In wenigen Sätzen steckt derart viel Katastrophe, ohne dass die Autorin diese ausmalt, dass einem beim Lesen klamm wird. Warum diesen Roman trotzdem lesen? Wer nicht bloss zur Erbauung und Unterhaltung liest, wer sich wie von Herrn Winkelmann damals im Flüchtlingslager aufgefordert fühlt, genau hinzuschauen, liest dieses Buch und staunt.

Fünf Fragen an Birgit Vanderbeke:

So wie Kinder in den Jahren des unbegrenzt scheinenden Aufschwungs oft sich selbst überlassen waren, so kontrolliert sind sie in der Gegenwart, nie mehr allein, ständig in digitaler Begleitung. Letzthin beklagte sich ein in die Jahre gekommener Pädagoge am Radio, er vermisse das Kindergeschrei draussen. So sehr aus übermässiger „Freiheit“ damals Einsamkeit werden konnte, scheinen sich Kinder und Jugendliche heute in der digitalen Vernetzung zu verfangen. Welchen Rat gäben Sie einer werdenden Familie?

Die digitale Kindheit ist eine Katastrophe.
Ich mag, was Edward Snowden dazu gesagt hat: „Ein heute geborenes Kind wird nicht mehr wissen, was Privatleben ist. Es wird nicht mehr wissen, was ein Moment Privatsphäre bedeutet, einen Gedanken zu haben, der weder aufgenommen wurde, noch analysiert. Das ist ein Problem, denn das Privatleben ist wichtig, das Privatleben hilft uns zu bestimmen, wer wir sind und wer wir sein wollen.“
Und da allerdings fangen auch die kulturellen Unterschiede an. In Frankreich, wo ich lebe und wo mein vierjähriges Enkelkind lebt, sind
 die Bedingungen für eine Kindheit vermutlich etwas anders als in der Schweiz. Ganz sicher sind sie anders als in Deutschland. Hier in Frankreich werden die Kinder zunehmend nicht mehr geboren, sondern per Kaiserschnitt in die Welt befördert und sodann immer häufiger nicht gestillt, sondern mit künstlicher Nahrung gefüttert. Dies ist ein Trend in allen westlichen Ländern, der sich in naher Zukunft eher verstärken dürfte. Die Mütter in Frankreich geben – aus historischen Gründen und seit dem Ende des 2. Weltkriegs – ihre Kleinkinder sehr früh aus den Händen, oft schon im Alter von sechs Wochen, und lassen sie auswärtig betreuen. Die Folge ist in Frankreich ein, vorsichtig gesagt, kühles Verhältnis zu Kindern. Dazu paßt, dass junge Eltern schon mal den pädagogischen Rat bekommen, ihre Kinder während der ersten sechs Monate von elektronischen Medien möglichst fernzuhalten. Ab dann offenbar nicht mehr. Ich sehe im Sommer regelmäßig mengenweise Mütter, die in der Badeanstalt mit dem Display ihrer Apparate beschäftigt sind, während ihre Kinder gerade ihre ersten Kopfsprünge oder sonst irgendwas machen, für das sie sich sonderbarerweise Aufmerksamkeit, Beachtung oder sogar ein Lob gewünscht hätten, aber sie sind es nicht gewöhnt. In keinem Bereich ihres Kinderlebens. Selbst beim Essen.
Frankreich ist, was Kinder betrifft, vom ersten Lebenstag an eine weitgehend empathiefreie Zone. Entsprechend unbekümmert bedienen sich Eltern elektronischer Technologien, um sich ihre Kinder vom Leib zu halten, wobei „vom Leib halten“ ganz wörtlich zu nehmen ist: weg vom eigenen Körper. Auf Abstand. Von ganz klein an.
Umgekehrt ist es ebenfalls nicht ganz leicht: technologische und elektronische Abstinenz kann von einem bestimmten Alter an zum Handicap für ein Kind werden. Ich denke gerade jetzt oft darüber nach, weil im Augenblick unser Sohn und seine Frau der Auffassung sind, Louis sei noch nicht bereit dafür, den „kleinen Lord“ zu sehen, während ich der Auffassung bin, dass Louis besser demnächst den „kleinen Lord“ sehen sollte, als irgendwann mal bei einem Kindergeburtstag mit einem „ersten“ richtigen Film konfrontiert zu werden, den sich seine Eltern in diesem Fall nicht selbst aussuchen konnten. Nur am Rande: genau das ist im übrigen schon geschehen. Louis war mit seiner Schulklasse sogar schon zweimal im Kino, beide Male wurden Zeichentrickfilme gezeigt, die Eltern waren nicht dabei und wissen also nicht, was Louis gesehen hat. Einem solchen Kinobesuch hätte ich zum Beispiel nicht zugestimmt, während ich nichts dabei gefunden habe, mit meinem Sohn im selben Alter im Kino zuerst „Mary Poppins“, später „Sindbad der Seefahrer“ und im Alter von fünf Jahren zu Hause eine Kassette mit „Hatari“ anzuschauen, letztere Kassette übrigens so oft, dass er den Film bis heute auswendig kann. Fernsehen wiederum gab es nicht, und zwar weder für die Erwachsenen noch fürs Kind.
Das Spektrum reicht also von der kompletten Gleichgültigkeit, infolgedessen der elektronischen Verwahrlosung bis hin zu Zensurmaßnahmen im Dienste eines Kindeswohls, dessen Wahrnehmung oder auch Definition selbstverständlich im Rahmen des elterlichen Machtbereichs liegt, von dem man Eltern bitten möchte, ihn gelegentlich zu reflektieren, was aber sehr schwer ist, weil man als junge Mütter/Väter unaufhörlich mit grauenvollem pseudo-pädagogischen (wie auch pseudo-ernährungswissenschaftlichem) Zeug traktiert wird und das Kindeswohl ein heiß umkämpfter Markt mächtiger Protagonisten ist. Ich kann mich erinnern, dass ich „seinerzeit“ versucht habe, mich in der Beziehung zu unserem Sohn am liebsten überhaupt nicht pädagogisch, sondern nach Möglichkeit auf Augenhöhe zu verhalten, was ich im übrigen auch heute vertreten würde, weil ich es für ein Merkmal demokratischen Umgangs überhaupt halte.

Aus den Wunden Ihrer Kindheit wurde später schöpferische Kraft. Auch wenn der Schmerz durchdringt, höre ich keinen Zorn und schon gar keine Verbitterung. War es der Rat von Herrn Winkelmann, genau hinzuschauen, der Sie vor der seelischen Verätzung bewahrte? Nicht nur genau nach aussen hinzuschauen, sondern auch nach innen?

Ich habe diesem Onkel Winkelmann sehr vieles zu verdanken (und seiner Frau Eka und ihrem Mann, Onkel Grewatsch, ebenfalls, allen dreien): Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Beispiel. Güte. Geduld mit mir und anderen. Vielfältigkeit im Leben und Denken. Aber auch eine gewisse Unerbittlichkeit. Gründlichkeit. Mut.

Sie setzen das Unglück des Mädchens von Beginn weg in Relation zu all den schlimmen Kinderschicksalen der Gegenwart. Verbirgt sich darin eine Spur Scham? Ihr Roman ist alles andere als eine nach innen gerichtete Bauchnabelschau, das das eigene Schicksal über alle andere setzt. Wieviel Optimismus ist übrig geblieben?

Keineswegs schäme ich mich für Dinge, die mir zugefügt worden sind, allerdings habe ich lange über etwas nachgedacht, was im Augenblick eine gefährliche Wendung in den westlichen Zivilisationen nimmt. Ich denke, dass ein Opfer das Recht hat, auf eine Tat hinzuweisen, die an ihm begangen worden ist. Im Strafrecht nennt man das „eine Anklage erheben“. Das Opfer ist allerdings nicht zu einem Urteil befugt. Das ist allein ein Richter. In der kürzlich zur Hysterie getriebenen „Me-too“-Welle hat man sehr genau sehen können, dass da etwas Entscheidendes vor einiger Zeit eingeführt wurde und inzwischen sehr drastisch passiert, indem nämlich die selbsternannten Opfer in unseren Kulturen zu ebenfalls selbsternannten (und von Medien in ihrer Selbsternennung ermutigten) Richtern werden. Das ist außerordentlich gefährlich, es setzt unser Rechtssystem außer kraft, und zwar nicht nur das juristische, sondern ganz allgemein unseren Kompaß, der ohnehin schon sehr ungesund auf die beiden Pole „Gut“ gegen „Böse“ zusammengeschrumpft worden ist. Das, was dazwischen liegt, nämlich der überwiegende Teil dessen, was Leben ausmacht, wird in seiner gesamten „Artenvielfalt“ mal kurz verdampft. Was inzwischen der Form nach entstanden ist, könnte man so formulieren: Jemand glaubt, dass ihm jemand anderes etwas Unerlaubtes angetan hat. Unerlaubt ist inzwischen dank unserer jahrelangen Übung in «political correctness» ziemlich vieles, manche dieser Verbote kenne ich oder kennt der „Täter» vielleicht gar nicht jeder, aber so ist es. Aufgrund dessen, was also jemand glaubt, dass ihm an Unerlaubtem angetan ist von jemandem, der vielleicht zum Zeitpunkt der Tat gar nicht wußte, dass es nicht erlaubt ist oder war, wird dieser Täter mal kurzerhand von demjenigen, der glaubt, dass ihm das angetan worden ist und von dem inzwischen jedenfalls die Medien wissen, dass es verboten ist oder war, verurteilt, und zwar immer zur Höchststrafe, weshalb ja Kevin Spacey heute seinen Beruf so wenig mehr ausüben kann wie Sebastian Edathy und Jörg Kachelmann, an dessen „Fall“ man genau erkennen kann, worum dieses Opfer-Theater geht, denn Jörg Kachelmann kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, obwohl ein Gericht ihn freigesprochen hat, und auch in Spaceys und Edathys Fall hat es entweder gar keinen Prozeß oder gar keine Verurteilung seitens eines Gerichtes gegeben. Wir sind also im Begriff, die Exekutive in den westlichen Zivilisationen aus der Instanz zu entfernen, wo sie in demokratische Verfassungen zu liegen hat und in gesellschaftliche Hände zu verlagern, die nicht dazu ermächtigt sein sollten, Urteile zu fällen und Strafen zu verhängen.

Sie erzählen in Ihrem Roman nicht aus. Da bleiben viele Leerstellen, die sich während des Lesens aber unweigerlich mit Vorstellung füllen. Manchmal beinahe penetrant, vorschnell. Sie erzählen aus einer Innensicht, spitzen zu, was mir als Leser oft den Atem stocken liess, auch aus Angst, was alles noch passieren könnte. Ihre Sprache braucht Stimme. Viele Passagen las ich laut – und sie drangen tief ein. Sie reduzieren, verdichten. Sind sie eine Dichterin?

Dichten ist rhetorisch das „Verdichten“, das metaphorische Sprechen und Denken.
In diesem Sinn bin ich absolut keine Dichterin.
Was ich tue, ist genau das Gegenteil: ich versuche, Zusammenhänge aus der Metapher rauszuholen. Ich denke – wie die meisten Frauen – überwiegend metonymisch. Das setze ich ein, um scheinbar von Stöckchen auf Hölzchen zu kommen (oder umgekehrt), assoziative Schleifen, das Abschweifen, auch manchmal das Weglassen zu erlauben, mit den Erträgen, die ich beim Abschweifen und Weglassen gesammelt habe, wieder zurückzugehen und auf diese Weise Klarheit in Verhältnisse zu bringen, die ich als „verschwiemelt“ oder auch metaphorisch verfestigt oder verknotet empfinde. Ich versuche, Klarheit zu gewinnen, weil ich glaube, dass Klarheit etwas Wunderbares und Erstrebenswertes ist.

Sie widmen Ihre Aufmerksamkeit nicht dem Schmerz, sondern der Kraft, der inneren Kraft, der Selbstheilung. Wo ist die Grenze? Wie schafft man es, aus Schmerz kreative Energie zu gewinnen?

Keine Ahnung.
Ehrlich.
Aber ich denke darüber nach. Der dritte Band dieser Trilogie hat seit vergangener Woche einen Titel, den ich noch nicht verraten möchte. Bei mir selbst habe ich ein Wort für das, was im Augenblick ziemlich gelöscht wird und ziemlich weit auch schon ausgelöscht worden ist, und ich denke, da liegt ein Schlüssel: Es so etwas wie „Menschenwissen“.
Vielleicht kriege ich’s raus oder komme der Antwort näher. Ich weiß es noch nicht.

Frau Vanderbeke. Ich bin tief beeindruckt von der Offenheit, die Sie zeigen. Ich bedanke mich für die geschenkte Zeit und bin sicher, dass die Antworten längst nicht nur mich zum Nachdenken zwingen.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.

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Besprechung ihres vorletzten Romans auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Annette Pehnt „Lexikon der Liebe“, Piper

Nachdem vor ein paar Jahren bei Piper der erste Band «Lexikon der Angst» herauskam, leuchtet Annette Pehnt in ihrem neuen Erzählband «Lexikon der Liebe» die Spielarten der Liebe aus. Nie sentimental, ohne rosa Brille, dafür mit viel Empathie und einem klaren, scharfen Blick in die Tiefen der Psyche, gepaart mit traumwandlerischem, sprachlichem Können.

Annette Pehnt ist eine Beobachterin, jemand, der sich nicht von Fassaden blenden lässt. Eine Schriftstellerin, die sowohl in ihrem Beobachten und auch in ihrem Schreiben um die Feinheiten, die Zwischentöne, das Bild dahinter bemüht ist. Annette Pehnt muss eine fleissige Schreiberin sein. Was sich unter alphabetisch gesetzten Titeln im Band «Lexikon der Liebe» sammelte, sind Geschichten, Augenblicke, Szenen, in denen sich Aussicht und Weitsicht auftut. Kein Lexikon, das den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen soll. Annette Pehnt fühlt in all den Texten mit und nach, ohne dass es emotionale Fäden zieht. Sie braucht keine Brille. Sie erzeugt ungeheure Nähe. Ob sie blinde Nähe einer Mutter, stumme Leidenschaft in einem Hotelzimmer oder den Kult um einen Gegenstand beschreibt, es sind Sehnsüchte aller Art. Annette Pehnt schreibt, was den Menschen bewegt. Im ersten Band war es die Angst, im zweiten nun die Liebe. Keine Rührseeligkeit und Sentimentalität. Ich erkenne mich und die Welt in ihren Texten wieder. Sie lügen nicht, heucheln nicht, machen mir nichts vor. Sie widerspiegeln, auch wenn der Spiegel zuweilen beschlagen den unmittelbaren Blick zurückprallen lässt. Manche Texte brauchen Zeit. Ein Buch, aus dem man sich gerne vor dem Einschlafen vorliest.

Vor Wikizeiten muss es Menschen gegeben haben, die aus purer Neugier in einem Lexikon blätterteten und lasen, auf der Suche nach nichts. Unter trügerischen Stichworten wie «Geschenk», «Knospen» oder «Morgenlicht» verbergen sich Miniaturen grosser und kleiner Ängste, fremder und bekannter. Die Angst einer Frau vor den Berührungen ihres Mannes, die Angst vor dem eigenen Schatten, die Angst, unnütz zu sein. Dramatisches, Unabänderliches, Tragisches, jeder Text Stoff für einen Roman. Da schreibt jemand, der die Psyche kennt, nicht nur die eigenen Ängste freizügig ausbreitet. Manche Texte sind abgerundet und «fertig» erzählt. Andere zwingen mich, die Gedanken, die Szene weiterzuspinnen bis zur Selbstreflexion.

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie als Dozentin und freie Autorin mit ihrer Familie in Freiburg im Breisgau. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2011 erschien ihr Roman »Chronik der Nähe«, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband »Lexikon der Angst«, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie »Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher«. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen »Der Bärbeiß«. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Briefe an Charley«.

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