Wie sehr Literatur überraschen kann, beweist Marica Bodrožić mit ihrem neusten Roman „Das Herzflorett“. Pepsi ist ein Mädchen, hin- und hergeschoben zwischen Dalmatien und dem bundesdeutschen Hessen. Ein junges Mädchen, eine junge Frau, die sich wehrlos all den Zwängen ihrer Kultur, ihrer Herkunft, ihrer Familie, der Geschichte und den Wirren in ihrem Heimatland ausgesetzt fühlt.
Pepsi ist noch sehr jung, als sich die Eltern der Arbeit wegen Richtung Norden, nach Deutschland auf den Weg machen. Manchmal lebt sie bei der Grossmutter, machmal bei Tanten. Ihre Eltern sieht sie nur ganz selten, wenn sie mit Taschen vollbepackt von dort herkommen, wo sich in der Ferne ihr Leben abspielt. Pepsi hat gelernt, sich in ihrer kleinen Welt zurechtzufinden, genauso wie ihr Bruder und ihre Schwester. Sie fühlt sich oft allein, ein Gefühl, das erst mit den Jahren zu Einsamkeit wird. Liebe zu ihren Eltern gibt es nicht. Das einzige, was im Leben ihrer Eltern zu zählen scheint, ist die Arbeit in Deutschland. So wie Pepsi in einem Leben dazwischen festhängt, so tun es die Eltern. Pepsi gibt sich ganz in die begrenzte Welt um sie herum, die Natur, die feinen Beobachtungen, aber manchmal auch das vielfache Gefühl von Hunger. Pepsi wird nie nur annähernd satt, sei es körperlich, emotional oder geistig. Auch Pepsis Versuche einer Annäherung, ihre Liebe zu ihrer Mutter anzusprechen, scheitern schmerzlich.
Irgendwann werden die drei Geschwister in ein altes Haus in Deutschland mitgenommen, in eine Wohnung, in der es an allem fehlt, Nähe nur aufgezwungen ist. Das Land, aus dem ihre Eltern zuvor Taschen voller Geschenke mitbrachten, entpuppt sich als grau, fremd und abweisend. Pepsi fühlt sich in der neuen Umgebung noch viel offensichtlicher fremd, als dort in Dalmatien, wo ihr wenigstens die Natur Augenblicke der Geborgenheit schenkte. Pepsi verstummt, trotz der Strenge ihrer Mutter. Erst recht durch den Alkoholismus ihres Vaters, die grünen Flaschen, die den Vater in ein tobendes Ungetüm verwandeln. Einziger Ort, an dem Pepsi Trost und Welt findet, sind Bücher. Erst ein altes Lexikon, das sie verstecken muss, das ihr die Welt der Erwachsenen erschliesst, eine Welt, die ihr in Hessen niemand erklärt. Bücher, Worte, Sätze werden zu einem Tor in eine andere Welt, während die Eltern im Kampf gegen scheinbar drohende Armut immer mehr verhärten. Nur wenn Vater säuft und die Mutter ihren ungefilterten Emotionen freien Lauf lässt, bricht etwas auf. Etwas, das tief verletzt. Nicht nur Pepsi.
Ihre Schwester versucht aufzubegehren, stemmt sich gegen die nicht verhandelbaren Regeln ihrer Eltern. Sie bricht aus. Und als sie zurückgeholt wird, ist sie nicht mehr die selbe, abgesunken in ein tiefes Schweigen, als wolle sie sich ganz auf sich selbst zurückziehen. Pepsi nennt ihre Schwester zärtlich Herzmandel. Aber ihre Schwester scheint ebenso verloren wie sie selbst. Ganz anders der Bruder, der sich als Junge viel leichter in die partiarchischen Strukturen seiner Diaspora einzufügen weiss.
Es sind äussere Begebenheiten, zuerst die Katastrophe von Tschernobyl, später der Jugoslawienkrieg, das Auseinanderbrechen eines Staates, das sich schon lange angekündigt hatte. Die kleine Wohnung in Hessen wird zu einem Dreh- und Angelpunkt vieler Flüchtlinge, die alles verloren haben. Die Familie versinkt in der Pflicht zu helfen und im Kampf selbst überleben zu müssen. Bis sich auch Pepsi mit letzter Kraft aufzulehnen versucht.
„Das Herzflorett“ sticht mitten ins Herz. Dieser Roman ist mit derart viel Empathie geschrieben, das man das Buch zwischenzeitlich weglegen muss. Zum einen die unsägliche Einsamkeit eines Mädchens, einer jungen Frau, zum andern die tiefen Verletzungen durch körperliche und verbale Übergriffe. Und doch schreibt Marica Bodrožić zart, meist in langen Sätzen, voller Bilder, die treffen. Atemlos erzählt, weil die Sprache alles ist, was Pepsi hat, um einer Welt zu begegnen, einer Welt zu entgegenen, die ihr fast keinen Platz lässt. Marica Bodrožić erzählt nicht nur eine schwierige Kindheit und Jugend. „Das Herzflorett“ ist der Palast, den sich Pepsi mit Sprache erschafft.
„Das Herzflorett“ ist ein Geschenk einer Autorin, die mich zu tiefst berührt.
Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.
Ob Terézia Mora, Ronya Othmann oder Joanna Bator, von Frauen erduldete und erlittene Gewalt ist immer wieder Thema in der Literatur, als wäre die Literatur die Waffe, um sich mit Sprache gegen diese Gewalt zu wehren.
Nicht ganz einfach für mich als Mann, zumal mich die Lektüre dieser Bücher und die Gespräche darüber immer und immer wieder mit Selbstreflexion konfrontieren; Wie weit bin ich selbst Teil dieser Mechanismen? Wie viel davon ist mir bewusst, wie viel ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen? Was hat sich in meine Sprache eingeschlichen? Warum scheint sich in Büchern leichte Unterhaltung mit den Sonnenseiten der Liebe zu beschäftigen und „ernste“ Literatur mit den Schattenseiten? Warum beschleicht mich beim Lesen immer wieder das Gefühl, „auf der falschen Seite“ zu sein.
Weder Gewalt an Frauen, oder all die unauffälligen, verborgenen männlichen Verhaltensweisen, die sich bewusst oder unterbewusst gegen Frauen richten bis hin zu offensichtlicher Misogynie, waren Thema am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. Aber selbst der ofenfrische Roman der jungen Michelle Steinbeck widmet sich dem Thema, lässt Männer oder zumindest Männlichkeit schlecht aussehen.
Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator, nicht zum ersten Mal Gast (Man kündigt in Leukerbad weibliche Gäste als Gästinnen an. Etwas was mir weder über die Lippen noch in die Tasten geht, zumindest vorläufig.) in Leukerbad, brachte einen monumentalen Roman ins Wallis. Auf 800 Seiten erzählt Joanna Bator virtuos, verschachtelt und leidenschaftlich von vier Generationen Frauen, einem Jahrhundert deutsch-polnischer Geschichte. Eine Geschichte, in der die Männer einzig und allein da sind, Schwierigkeiten zu machen, abwesend zu sein oder sich ganz offensichtlich gegen die weibliche Kraft zu wenden, bis hin zu schreiender Gewalt.
Noch offensichtlicher wird es bei Ronya Othmann, die sich mit ihrem Roman „Vierundsiebzig“ auf beklemmende Weise mit ihrer jesidischen Herkunft, ihren Wurzeln beschäftigt. 2014 verübte der IS einen Genozid an den Jesiden im Sindschar-Gebirge. Weitab von der medialen Aufmerksamkeit wurden im Norden des Iraks Tausende von Jesiden umgebracht, hauptsächlich Männer, während man Frauen als Sexsklavinnen verkauft und Kinder zu Selbstmordsoldaten macht. Ein Massaker in einer langen Reihe, das vierundsiebzigste, ein Genozid über Jahrhunderte, ein genetisch verankertes Trauma einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die als Minderheit immer und immer wieder zwischen die Fronten gerät. Ein massenhaftes Töten fanatischer Männer. „Vierundsiebzig“ ist ein langer Erklärungsversuch einer jungen Autorin, die nicht nur in ihrem Roman um eine Stimme ringt. Selbst während des Gesprächs am Festival über ihr Buch rang sie nach Fassung. Ein Buch, dem ich möglichst viel Publikum wünsche!
Viel abgeklärter die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora, die in ihrem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ erstmals aus der Sicht einer Frau erzählt. Muna liebt Magnus. Es könnte eine Liebesgeschichte sein, ist aber viel mehr die Leidensgeschichte einer Frau, die sich nicht aus dem Dunstkreis eines Mannes befreien kann, der sie fesselt und erniedrigt. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.
Das sind nur ein paar wenige Eindrücke aus dem vielfältigen Programm des diesjährigen Festivals, das trotz prominenter Absagen, reiste ich doch mit vollständiger Svenja-Leiber-Bibliothek an, äusserst dicht und kurzweilig war. Selbst mit den Unmengen an Wasser, die dem Wallis in diesen Tagen arg zu schaffen machten. Ein grossartiges Geschenk!
Marigold und Rose sind Zwillinge. Noch nicht einmal ein Jahr alt und schon mitten im Leben, auch wenn dieses nur aus Zimmer, Haus und Garten besteht. Eine Welt, die langsam aufbricht. Eine Welt, von der die Zwillinge, von der Maigold schon ahnt, dass alles anders sein wird.
Bis zum Nobelpreis war Louise Glück ein Geheimtipp, der Preis für viele eine Überraschung. Aber mit der Verleihung begann die grosse Auseinandersetzung des Publikums mit dem Werk der Lyrikerin, einer ganz eigenwilligen Stimme. Dass „Maigold und Rose“ als letztes Buch vor ihrem Tod im Oktober 2023 erschien, ist nicht nur seltsam, weil es das einzige Prosawerk der Dichterin ist, sondern weil sich die damals fast 80jährige Dichterin in diesem Buch ins Wesen eines Säuglings begibt, in ein Leben, in dem die Sprache noch nicht artikuliert wird, sich alles im Werden begreift. Louise Glück blickt durch die Wahrnehmung eines Kleinkinds auf eine Welt, die sich noch ganz im Kleinräumigen verortet, einer kleinen, in vielerlei Hinsicht paradiesischen Welt, von der die nicht einmal Einjährige ahnt, dass sie dereinst vertrieben wird.
Obwohl Zwillinge, ist vieles an den beiden verschieden. Marigold liebt Bücher, die Rose nicht interessieren. Sie „liest“, auch wenn sich ihr der Sinn der vielen Zeichen in den Büchern noch nicht erschliesst. Aber sie mag die Bilder, Bilder von Tieren. Irgendwann würde sich das Geheimnis der Schrift auflösen. Und dann würde sie selbst zu schreiben beginnen, Bücher schreiben. Die Bestimmung ihrer Schwester Rose ist es, brav zu sein, angepasst. Sie sind Schwestern, Zwillinge, und doch fühlt sich Marigold einsam, ausgeschlossen vom Leben ihrer Schwester, sehr oft auch von der Zuwendung ihrer Mutter. Marigold spürt, dass Rose bei der Mutter an erster Stelle steht, dass Rose für ihre Artigkeit, ihre Angepasstheit bevorzugt wird. Da hilft auch die Liebe ihres Vaters nicht viel.
„Eigentlich waren die Zwillinge ein Baby, nur eben zweigeteilt. Ich bin ein halbes Baby, dachte Maigold. Ich bin das Hirn, und Rose ist das Herz.“ So sehr Marigold sich in Gedanken schon in ihrem eigenen Buch verstrickt, so sehr empfindet sie damit die wachsende Distanz zur Welt, zu ihrer Schwester, zu Mutter und Vater. Kein Wunder beginnt Rose früher zu sprechen als sie, ist ihr Blick doch viel mehr nach Innen gerichtet. „Rose lernte zu sprechen, und Marigold lernte zu beobachten.“ Vielleicht liegt die Bestimmung der beiden Mädchen schon in ihren Namen. Rose ist die, die zu verzücken weiss. Und Marigold, bei uns besser bekannt unter dem Namen Ringelblume, ist jene, die ihre Werte in ihrer indirekten Wirkung sieht – nicht zuletzt als Heilpflanze.
Legt man die Erzählung „Marigold und Rose“ über das Leben der Autorin, drängen sich gewisse Interpretationen auf. „Marigold und Rose“ ist viel mehr als ein kleines Kunstwerk einer grossen Dichterin. Vielleicht ist diese kleine Erzählung ein Schlüssel zum Urschmerz der Autorin. Vielleicht eine Erklärung dafür, was später aus ihrem Leben wurde. Aber ebenso verschliesst sich die Autorin. Am Ende eines Lebens schreibt die Nobelpreisträgerin eine kleine Erzählung über ein Mädchen vor der Zeit des Erinnerns. Schreiben ist immer Erinnern. Vielleicht sucht auch die Autorin mit dieser Erzählung.
„Marigold und Rose“ ist voller Vielleicht. Eine schillernde Erzählung voller Ahnungen. Ein Text, der mich zur Reflexion zwingt, tragen wir doch alle einen Zwilling mit uns herum, jenes gespiegelte Ich, die andere Seite, den anderen Weg. „Marigold und Rose“ ist kein Vermächtnis, aber der Beweis, dass das Schreiben über Grenzen hinaus erzählen kann.
Louise Glück, geboren 1943 in New York, veröffentlichte dreizehn Gedichtbände, zwei Essaysammlungen und ein Prosakurzstück. 2020 wurde sie ausgezeichnet mit dem Literaturnobelpreis «für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht». Für ihre Werke erhielt sie u. a. auch den Pulitzerpreis, den Bollingen Prize, den National Book Award und die Gold Medal for Poetry from the American Academy of Arts and Letters. Sie lehrte an der Yale und der Stanford University. Louise Glück starb am 13. Oktober 2023 im Alter von 80 Jahren.
Eva Bonné übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.
„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist vieles; eine Liebes- und Leidensgeschichte, ein Versuch einer Emanzipation, die Geschichte eines deutschen Lebens vor und nach der Wende und ein emotionaler Erklärungsversuch. Térezia Mora erzählt vielschichtig, taucht tief in die Psyche einer Frau und zeigt die Unaufhaltsamkeit menschlichen Schicksals.
Muna wächst als Einzelkind vor der Wende in einer ostdeutschen Kleinstadt auf. Der Vater starb früh an Lungenkrebs, die Mutter versucht sich an ihrem Engagement am örtlichen Theater festzuhalten, schwankt zwischen Alkohol und Depression und überlässt ihre Tochter sich selbst. Eine Kindheit zwischen Einengung und Verlorenheit. Kaum ist der 18. Geburtstag von Muna vorbei, muss die Mutter mit einer Alkohol- und Tablettenvergiftung notfallmässig ins Spital gebracht werden, lässt Muna im Ungewissen darüber, was wirklich passiert ist. Die eine Woche zwischen Geburtstag und Einweisung der Mutter ist für Muna eine Woche voller Glück. Endlich tut sich eine Tür auf.
«Es wird Zeit, dass du etwas aus deinem Leben machst.»
Leben ist permanente Unsicherheit. Nichts an Munas Leben gab ihr Sicherheit. Am ehesten noch die Träume von einer Befreiung, von Ausbildung, von einem eigenen Leben, weit weg vom alten. Sie erfährt schon früh von ihrem Geschick zu schreiben, arbeitet als Praktikantin in einer Redaktion und glänzt bei kleinen Schreibwettbewerben. Bis sie auf eben einer solchen Redaktion Magnus kennenlernt, Lehrer und Fotograf. Sie verliebt sich in den um einiges älteren Mann, obwohl der sie kaum beachtet, sich kühl und distanziert gibt. Und als wäre der Unerklärbarkeiten nicht genug, verschwindet Magnus nach der ersten und einzigen gemeinsamen Nacht.
Muna beginnt Literatur zu studieren und hält sich mit vielerlei Jobs über Wasser. Sie arbeitet an Forschungsprojekten zu Frauenrechten, zieht von Berlin über London nach Wien, immer auf der Suche nach einem festen Stand, mit der Sehnsucht nach Ankommen und der Hoffnung, dereinst Magnus wiederzusehen, dem sie Briefe schreibt, die sie bei einem Freund von ihm hinterlegt. Sieben Jahre nach seinem Verschwinden trifft sie ihn wieder, im Foyer eines Theaters. Sie setzt alles daran, wieder mit ihm zusammenzukommen, manövriert sich von einer zur nächsten Abhängigkeit, reist ihm von Stadt zu Stadt nach, bis nach Übersee und blendet geflissentlich aus, dass Magnus längst nicht der Mann ist, der sie auf Händen trägt. Ganz im Gegenteil. Es fliesst Blut.
«Begehren, sagte er schließlich. Das glaube ich. Dass das ziemlich zuverlässig funktioniert. Der Rest ist Schwulst.»
Der Roman ist konsequent aus der Sicht von Muna geschrieben. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.
Die Lektüre dieses Romans erzeugt Schmerz, weil es nur schwer erklär- und ertragbar ist, dass eine intelligente Frau nicht erkennt, was passiert, selbst dann, wenn ihr Nahestehende schonungslos spiegeln, wie perspektivlos sie in eine ungewisse Zukunft torkelt.
„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist ergreifend, eine Geschichte, die unter die Haut geht, in einer Sprache, die grosse Meisterschaft verrät, so souverän erzählt wie das Leben Munas in Zwängen eingeschlossen ist.
Im Sommer ist Terézia Mora Gast im Literaturhaus St. Gallen.
Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman «Das Ungeheuer» erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband «Seltsame Materie», wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt ausserdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.
„Krähen im Park“ sticht mitten in die Zeit. Christoph Peters verwebt ein Geschehen vieler ProtagonistInnen an einem einzigen Tag, Lebensläufe, die sich manchmal streifen oder auch nur in der gleichen Stadt, ab diesem 9. November 2021 in Berlin, abspielen, meisterhaft gespiegelt in den verschiedensten Perspektiven, die Oberflächlichkeiten einer Gesellschaft am Wendepunkt entlarvend.
Zu Besuch in der Stadt meines Freundes stand ich nachts manchmal am Fenster seiner Wohnung oder auf dem kleinen Balkon, auf dem nur ein Stuhl Platz hatte. Bei Dunkelheit sah man in all die Wohn- und Schlafzimmer auf der Gegenseite, die die Sicht nicht mit Gardinen versperrten. Ich sah für eine Weile in die Leben all der mir Unbekannten, ein ins Licht gesetztes Szenario vieler gleichzeitiger Leben, die nichts miteinander zu tun hatten. Damals nahm mich mein Freund weg vom Fenster, weil er Kommentare fürchtete.
Ganz anders Christoph Peters mit „Krähen im Park“. Er nimmt mich mitten hinein in die Leben vieler, erzählt vom erfolglosen Schriftsteller Urban, dem es seit Jahren nicht gelingt, wieder zurück in jene Spur zu kommen, die mit zwei Romanen so vielversprechend begonnen hatte. Von einer Frau Irma, einer ehemals erfolgreichen Schauspielerin, nun Influencerin, die alles versucht, nun wenigstens ihre Tochter Leonie gewinnbringend zu vermarkten. Von Joyce, einer Fluggastkontrolleurin, enttäuscht von den Männern, enttäuscht vom Leben, enttäuscht von ihrer Tochter Dina, die sich unverständlicherweise an einen Türken gehängt hat. Von Dina selbst, mit achtzehn nach dem Abitur von Emre schwanger geworden, eigentlich glücklich und doch ganz verunsichert, wie sie an diesem Tag zum Arzt geht, um sich ihrer Schwangerschaft sicher zu sein und aus ihrem Glück gerissen wird. Von Emre, dem türkischen Paketboxer, der eigentlich Dina zum Arzt hätte begleiten sollen, dem aber die Tekwando-Prüfung wichtiger ist, sich gleichzeitig aber in seinen schlechten Gefühlen windet. Von Ali Zayed, einem afghanischen Flüchtling, erst seit ein paar Stunden von Belarus kommend in der ihm vollkommen fremden Stadt, auf der Suche nach seinem Cousin…
Was wie ein Wimmelbild erscheinen mag, ist ein sorgfältig konstruierter Teppich aus unterschiedlichsten Biographien, ganz und gar nicht wirr zu lesen, so glasklar arrangiert und inszeniert, dass ich staune, wie gut es dem Autor gelingt, die verschiedenen Charaktere auch aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Wie scheinbar Objektives aus der Sicht eines andern meinen permanenten Versuch einzuordnen unterbricht. Wie tief man in sich selbst versenkt ist und es nicht schafft, den eigenen Tunnel zu verlassen.
Zusammengehalten werden all die Leben durch den Besuch des französischen Starschriftstellers Bernard Entremont, der aus Paris angereist ist, um einen mit 30 000 Euro dotierten Literaturpreis entgegenzunehmen. Eine Veranstaltung in den Coronabeschränkungen, vielleicht die letzte ihrer Art, mit einem Schriftsteller, den man hasst oder vergöttert, der sich gelangweilt zeigt und sich über sich selber wundert, dass er nicht einfach via Leinwand ein kurzes Lächeln hätte zeigen können. Entremont (unschwer als Michel Houellebecq zu erkennen) in seinem nachlässigen Parka, dauernd rauchend, auch wenn sich sonst alle an Verbote halten, immer nach einem attraktiven Gegenüber suchend.
Die Kulturschickeria ist in heller Aufregung. Während sich die einen um jeden Preis ihre ganz persönliche Scheibe von dem Literaturspektakel abschneiden wollen, sich der geehrte Bernard Entremont sich in seiner Langeweile suhlt, geht es im gleichen Moment nicht unweit vom diesem Geschehen ums unmittelbare Überleben, knallen kleine und grosse Katastrophen.
Corona hat unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Auch wenn sich die Wellen scheinbar geglättet haben, wissen wir alle, wie dünn das Eis, wie filigran die Normalität, wie flüchtig das Glück ist. Christoph Peters Roman ist eine Gesellschaftsstudie ohne Analyse. Und doch wird klar, wie sehr wir uns in einer künstlichen Blase bewegen, die einen innerhalb, die andern auf immer ausgeschlossen. Auch wenn es Christoph Peters vermeidet zu moralisieren, schmerzt die unmittelbare Nähe all der wirklichen und eingebildeten Katastrophen. Christoph Peters verblüfft und überrascht. Sein Roman ist ein oppulentes Sittengemälde einer Zeit, die sich mit aller Macht über Wasser hält.
Interview
Es geht ihnen nicht um ihre eigenen Befindlichkeiten, aber sehr wohl um die Befindlichkeit der Welt. Ich spüre ihre Betroffenheit. Aber es ist eine in den beschriebenen Personen gespiegelte Befindlichkeit. Nicht zuletzt auch jene der Ausweglosigkeit. Es gab in den schwierigen Zeiten der Pandemie und mit den grossen Friedens- und Klimademonstrationen kurz davor auch die kleine Hoffnung, es würde sich etwas ändern. Ist ihr Roman auch ein Bild dessen, wie wir weiter feiern auf dem lecken Dampfer?
Soweit ich mich selbst erinnere und wenn ich dann noch die Erzählungen meiner Eltern und Grosseltern dazunehme – zwei Weltkriege, Weltwirftschaftskrise, der Verlust von allem, was sie besessen haben, im Bombenhagel -, war der Dampfer eigentlich immer leck. Die Menschen haben trotzdem gefeiert. Neulich habe ich eine Dokumentation über die 1950er Jahre gesehen: Da wurden überall Atombunker gebaut und ABC-Waffen-Trainings durchgeführt, gleichzeitig kam der Rock ’n’Roll auf – der bis dahin vermutlich wildeste Tanz der Neuzeit. Während der 1980er, als ich selbst erwachsen wurde, standen neben der weiterhin dramatischen Atomkriegsdrohung Waldsterben, Ozonloch, tote Flüsse im Fokus der Weltuntergangsszenarien. Auch wir haben damals in der permanenten Angst gelebt, die „letzte Generation“ zu sein, sind zu politischen Aktionsgruppen und Demonstrationen gegangen, aber am Wochenende eben auch in die Grossraumdisco. Da, wo im Roman gefeiert wird – bei der Preisverleihung zu Ehren des französischen Starliteraten Bernard Entremont in der Akademie der Künste und auf der halboffiziellen After-Show-Party im Haus der Schauspielerin und Salonniere, Mariann Krüger –, ist es eher der Versuch, trotz der heiklen Lage, die Rituale bougeoisen Kulturlebens aufrecht zu erhalten, beziehungsweise vorsichtig wieder aufzunehmen. Das klappt natürlich nur teilweise. Einige der Figuren interessieren sich ohnehin nur am Rande für die globale Lage, sondern sind hauptsächlich mit ihren eigenen, persönlichen Problemen beschäftigt, wie das ja auch im wirklichen Leben nicht selten der Fall ist.
Was mich an ihrem Roman auch fasziniert, sind die verschiedenen Perspektiven. Während sie stets sehr nahe an ihrem Pesonal schreiben, die Welt aus ihrer Sicht schildern, relativiert sich diese Ansicht bei einem Szenenwechsel, wenn das Licht auf eine andere Bühne gerichtet wird. Alles ist sowohl als auch, selbst bei der Person des afghanischen Flüchlings Ali Zayed, dessen Geschichte bewusst macht, dass es gleich neben Luxus, Hochglanz und kalt gestelltem Sekt um Leben und Tod geht. Es scheint ihnen um viel mehr zu gehen, als nur eine Geschichte zu erzählen.
Ich habe versucht, eine Art Momentaufnahme der Gesellschaft im Brennpunkt und Schmelztiegel Berlin zu Beginn des 2. Corona-Winters zu zeichnen. Es gibt viele, etwa gleich wichtige Figuren aus sehr verschiedenen Milieus – Kulturschickeria, Gross- und Kleinbürgertum, Migranten, junge und alte Paare unterschiedlicher Orientierung, einige, die im Westen, andere die im Osten sozialisiert sind. Einerseits leben sie alle in ihren eigenen Welten, andererseits greifen diese Welten dann doch stärker ineinander, als man auf den ersten Blick vermuten würde, teils zufällig, teils – wenn man so will – fast schicksalhaft. Das Private wird politsch und der Politiker wird von seinen privaten Konflikten eingeholt. Für andere, wie den afghanischen Flüchtling Ali Zayed oder den Paketfahrer Emre, spielt das alles kaum eine Rolle. Der eine versucht, sich irgendwie in der Fremde zu orientieren, der andere hat eine junge Freundin, Dina, die schwanger ist, und träumt vom künftigen Familienglück. Fast alle sind auf der Suche nach etwas, das dem eigenen Leben eine Wendung zum entschieden Besseren geben könnte, wobei jeder andere Vorstellungen hat, was es sein könnte. In gewisser Weise ist der Roman auch der Versuch, aus den sogenannten „Blasen“, in denen wir uns mehr und mehr abgekapselt haben, herauszukommen und einen etwas grösseren Ausschnitt aus den vielen, extrem heterogenen Lebenswelten zu zeigen, aus denen unsere nach-postmodernen Grossstädte bestehen.
Ausgerechnet der Sohn von Professor Bernburger, der Gesundheitspolitiker mit Ambitionen ist und Verfechter einer rigorosen Impfpflicht, entpuppt sich als Coronakritiker und Anhänger kruder Verschwörungstheorien. Eine Szenerie, die wir sehr gut kennen; Familien, in denen der Coronatsunami tektonische Verschiebungen verursacht hat. Trotzdem ist ihr Roman kein Coronaroman. Und doch ist der Vius da. Ein schreibender Freund meinte einmal, es wäre unmöglich, einen vernünftigen Coronaroman zu schreiben. Mussten sie sich um eine richtige Dosierung bemühnen?
Als ich wusste, dass ich diesen Roman schreiben würde und dass er am 9. November 2021 spielen sollte, sah es noch ganz so aus, als wäre Corona bis dahin kein grosses Thema mehr. Ursprünglich wollte ich erzählen, wie das Leben nach der Krise allmählich wieder zur vor-pandemischen Normalität zurückkehrt. Als sich dann abzeichnete, dass das Virus doch hartnäckiger sein würde als erhofft, habe ich entschieden, diese zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen einfach als gegeben hinzunehmen – ein bisschen wie eine schwierige Wetterlage. Corona und die Art, wie die Figuren im Roman darauf reagieren, spielt also eine Rolle, ist aber nicht der alles determinierende Faktor. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die Pandemie ja auch schon gut anderthalb Jahre und man hatte sich allmählich daran gewöhnt. Da ich diese vielen verschiedenen Protagonisten hatte, konnte ich von sehr unterschiedlichen Arten erzählen, wie die Leute mit dem Virus umgehen: Von der panischen Sorge, über gelassene Bereitschaft, sich den Regeln entsprechend zu verhalten, bis hin zu verschwörungsgläubigem Verfolgungswahn. Nicht wenige der Figuren haben aber bereits wieder oder von vorneherein ein achselzuckendes Desinteresse dem ganzen Themenkomplex gegenüber. Dadurch musste ich nicht ständig aufpassen, dass das Virus den Text vollständig unter seine Kontrolle brachte.
Nicht zuletzt ist ihr Roman auch eine Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb. Auf der einen Seite der erfolgsverwöhnte Misanthrop und Lebemann Bernard Entremont, um den eine bunte Schar Kulturbeflissener Bücklinge macht, auf der anderen Seite Urban Fischer, ein fast vergessener Schriftsteller, dessen Selbstverständnis mehr als angekratzt ist. Auf der einen Seite ein aufgeblasener Hype um einen grossen Namen, der Aufmerksamkeit generiert, auf der anderen Seite die pure Selbstzerfleischung. Beide haben die Bodenhaftung verloren. Aber ist nicht Bodenhaftung eine Unabdingbarkeit für gute Literatur?
„Bodenhaftung“ finde ich einen eher schwierigen Begriff im Zusammenhang mit Literatur. Er suggeriert, dass Literatur eine realistische, gesellschaftspolitisch reflektierte, auf genauer Beobachtung der Verhältnisse durch einen souveränen Autor basierende Perspektive haben sollte. Diese Art des „relevanten Realismus“ ist aber nur eine von sehr vielen Möglichkeiten interessante Texte zu schreiben. Grundsätzlich kann der Blick eines Autors natürlich hauptsächlich nach Aussen gehen, sich also der möglichst genauen Wahrnehmung der menschlichen Verhältnisse um ihn herum in seiner Zeit zuwenden. Andererseits bietet aber auch die radikale Selbstbeobachtung bis hin zur völligen Isolation von Autor, Erzähler und/oder Protagonisten Möglichkeiten, Dinge aus innerseelischen Dunkelkammern und psychischen Grenzbereichen ans Licht zu bringen und gerade dadurch neue Perspektiven auf die menschliche Existenz zu öffnen. Das Imaginieren, Phantasieren, der Entwurf völlig anderer Welten und Wirklichkeiten ist eine weitere Möglichkeit, so alt wie die Literatur selbst und ebenso berechtig wie wichtig, um Alternativen zu den gegebenen Verhältnissen ins Auge zu fassen oder Fluchtrouten aufzuzeigen. Daneben kann sich der Fokus auf die Sprache selbst, ihre Strukturen, Grenzen und Entgrenzungen richten und gerade dadurch neue Zugänge zur inneren und äusseren Welt ermöglichen, die verschlossen bleiben, solange der Autor am „Boden haftet“.
Es gibt eine Szene in ihrem Roman, in der der Afghane Ali Zayed in einem der vielen Berliner Parks sitzt und Krähen beobachtet. Afghanische und deutsche Krähen scheinen sich genauso zu unterscheiden wie afghanische und deutsche Menschen. Aber zumindest können deutsche Krähen mit den Abfällen aus Mülleimern in Parks ganz gut leben. In vielem tönen sie nur an. Auch die Geschichte von Ali Zayed ist „nicht zu Ende erzählt“. Das Personal ihrer Romane kommt immer wieder mal vor, wenn auch mit anderem Gewicht. Was entscheidet, ob eine Figur wie Ali Zayed wieder auftauchen wird?
Die Unterschiede zwischen afghanischen und berliner Nebelkrähen sind ornithologisch nicht hundertprozentig abgesichert: Ich habe in Pakistan immer wieder grosse Schwärme dieser Art gesehen und bin einfach mal davon ausgegangen, dass in Afghanistan eher der pakistanische Typ verbreitet ist: etwas kleiner, schlanker, insgesamt eleganter im Erscheinungsbild und das Grau ein bisschen blaustichig – was gut zu den „crows which are blue“ des Edith-Stein-Mottos zu Beginn des Romans passt. Ob sich die Charakteristika der Krähen auf die Menschen übertragen lassen, sei mal dahingestellt. – Tatsächlich wandern gelegentlich Figuren von Text zu Text weiter oder tauchen nach Jahren, manchmal Jahrzehnten plötzlich wieder auf. Wie genau es dazu kommt, weiss ich nicht. Irgendwie haben alle diese Gestalten eine Art Eigenleben in meinem Kopf oder sonstwo, und dort gehen sie, auch wenn ich sie gerade nicht erzählend im Blick habe, ihren jeweiligen Beschäftigungen nach. Manche widersetzen sich gezielt den Lebensplänen, die ich für sie gedacht hatte. So ist der Yakuza Fumio Onishi ursprünglich nur Protagonist einer Kurzgeschichte, „Maneki neko“, gewesen, die im Berliner Hauptzollamt spielte und eigentlich mit seinem Tod enden sollte. Dazu kam es dann aber nicht, so dass Fumio zur Hauptfigur in „Der Arm des Kraken“ wurde, wieder mit der Aussicht, am Ende getötet zu werden. Doch er hat auch den Roman überlebt und sich nach Tokio bzw. in „Das Jahr der Katze“ geflüchtet. Aktuell agiert er vermutlich in der Unterwelt von Los Angeles. Ich würde ihm eigentlich sehr gern dabei zuschauen, aber bislang hat er mir seinen genauen Aufenthaltsort nicht verraten. Ob Ali Zayed sich noch einmal melden wird, kann ich momentan nicht sagen – ausgeschlossen ist es nicht.
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand «Tage in Tokio» (2021) und «Der Sandkasten» (2022).
Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und sein bester Freund Jaromir 99 nehmen mich an einem Weihnachtsabend mit in ihre Stadt Prag, Jaroslav Rudiš mit seiner literarischen Imagination, der Zeichner, Comiczeichner und Maler Jaromír Švejdík mit seinen wunderschönen Illustrationen. Ein schmales Buch mit einer ganz speziellen Aura!
Prag ist ihre Stadt, ihre Heimat, aufgeladen mit Geschichten von Verstorbenen und Gegenwärtigen, von Geistern und Begeisterten. Ein Winterspaziergang an einem 24. Dezember, wenn alles auf jenes erhellende Licht wartet, wird mit den beiden zu einem ganz besonderen, vielsinnlichen Abenteuer!
„Ich wusste nichts von Kafka, von Hašek und Hrabal. Ich wusste nicht, dass ich später einmal in Prag leben und mit dem Ertrunkenen in einer Band singen werde. Dass ich mal eine Italienerin aus Milano treffen werde, deren Mann Strassenbahnfahrer war und sich immer gewünscht hatte, Strassenbahnfahrer in Prag zu sein. Ich wusste nicht, dass sich in Prag Dichter, Maler und Musiker in Vögel und Fische verwandeln. Ich wusste nicht, das mir mal der König von Prag im Anker beibringen will, wie man alle Prager Schlösser aufsperrt.“
Auch ich weiss nicht viel über diese Stadt. Nur eines weiss ich mit Sicherheit; wenn ich dereinst mit dem Zug nach Prag fahre und wie der Erzähler am Bahnhof stehe, werde ich mich mit diesem Buch in der Tasche auf den Weg machen, über die Karlsbrücke in die schmalen Gassen der Altstadt. Ich werde in die Geschichten eintauchen und in diesen Tagen vielleicht sogar das eine oder andere Bier trinken, weil tschechisches Bier zu den besten gehört, und weil man wohl Bier trinken muss, um einen Schlüssel, einen Zugang in all den alt eingesessenen Spelunken der Stadt mit ihren seltsamen Namen zu bekommen. Einen Schlüssel zu den Menschen, zu den Geistern, zu den Erleuchteten und Verschatteten, zu den Lebenden und den Toten.
Prag ist die Stadt von Jaroslav Rudiš. Und nur wer wie er eine Stadt kennt, kennt das, was für Touristen unsichtbar in den Zwischenräumen und Mauern, in der Moldau, die leise und träge durch die Stadt fliesst, in den Schichten darunter und darüber ist und wirkt, was die Vogel in die Stadt tragen, was an Schatten durch die Stadt geistert.
Der Erzähler trifft sie wieder; Hana, die er mit 17 kurz vor der Wende im Sommer 1989 in Prag in einer vollen Kneipe, im Schwarzen Ochsen trifft, den Leuchtturm, den Mann, dessen Kopf leuchtet, der ihm vom letzten Atemzug Franz Kafkas erzählt, dass dieser wie alle Künstler nun einer der Krähen wäre, der Leuchtturm, der eigentlich Kavka heisst, alle aber bloss Kafka nennen, so wie jenen Franz, den alle kennen. Er trifft den König von Prag. Nicht jenen von der Burg hoch oben über der Stadt, sondern jenen aus der Gasse, der weiss, wie Schlösser zu knacken sind, durchaus methaphorisch! Er trifft die Italienerin, die von Prag schwärmt als wäre sie die schönste aller italienischen Städte. Sie treffen sich und ziehen von Kneipe zu Kneipe, warten auf den Moment, wo ihnen das Christkind ein Geschenk bringt.
„Weihnachten in Prag“ ist ein magisch, surrealer Spaziergang durch eine Stadt, der auch Kälte und Schnee den Liebreiz nicht vertreiben kann – ganz im Gegenteil. Wer eine Stadt so kennt wie Jaroslav Rudiš, der weiss, dass die Stadt nicht von den Fassaden lebt, sondern von den Geschichten dahinter und den Menschen, die dort leben und lebten, von den Eigenwilligen, den Spinnern, den Verschrobenen und Verrückten. Wer diesen literarischen Spaziergang mitmacht, wer sich traut, dem wird ein Geheimnis zuteil. „Weihnachten in Prag“ bezaubert gleich vielfach, nicht zuletzt durch die stimmungsvollen und eigenwilligen, kongenialen Illustrationen von Jaromír Švejdík!
Wir sehen uns im Ausgeschossenen Auge!
Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstrasse», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.
Jaromír Švejdík alias Jaromir99, geboren 1963, ist Comiczeichner, Maler sowie Sänger und Texter der tschechischen Kultband Priessnitz. Er arbeitet als Musiker für verschiedene Bands, zeichnet Storyboards für Filme und veröffentlichte mehrere Graphic Novels und Comics. Zuletzt auf Deutsch erschienen: «Alois Nebel» und «Alois Nebel ‒ Leben nach Fahrplan». Er lebt und arbeitet in Prag.
Es war keine Überraschung und ist die richtige Wahl. Als Christian Haller auf die Bühne im Foyer des Stadttheaters Basel auf die Bühne gebeten wurde und sich FotografInnen und erste GratulantInnen positionierten, darunter Ständerätin Eva Herzog, trat ein tief gerührter Mann ins Rampenlicht und dankte für das «Sahnehäubchen» auf einer grossen Arbeit.
Hier wiedergegeben die Laudatio von Michael Luisier, SRF Literaturredaktor und seit diesem Jahr Mitglied der Jury des Schweizer Buchpreises:
Die Geschichte ist bekannt. Ein Mann geht durch Nacht und Nebel. Betritt einen Lichtkreis, verlässt ihn wieder und taucht im nächsten Lichtkreis wieder auf. Ein anderer Mann beobachtet ihn dabei. Und weil der sich gerade mit physikalischen Fragen auseinandersetzt, mit Atommodellen und der Beschaffenheit des Lichts, kommt ihm der Gedanke, respektive die entscheidende Frage in den Sinn: Woher weiss man, dass ein Mensch, der soeben einen Lichtkreis verlassen hat und weitergeht, im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht? Und nicht einfach verschwindet?
Diese Anekdote erzählt die Geschichte hinter der Entdeckung der Quantenmechanik durch den Physiker Werner Heisenberg. Sie ist der Ausgangspunkt einer Novelle, die sehr bald zu einer ähnlich dringenden Frage führt, nämlich: Wie geht man generell mit Dingen um, die stattfinden, obwohl sie eigentlich nicht stattfinden sollten? Und – hier kommt die Literatur ins Spiel – wie beschreibt man die?
Wie sagt man Unsagbares? Wie beschreibt man – literarisch – nicht zu Beschreibendes? Das sind die zentralen Fragen des Texts.
Christian Haller, Schriftsteller und selbst Naturwissenschaftler, hat sich dieser literarischsten aller Aufgabe gestellt. Haller hat sich als Literat für die Novelle als Erzählform entschieden, weil es sich dabei grundsätzlich um die Vermittlung einer «sich ereigneten unerhörten Begebenheit» handelt, wie es bei Goethe heisst.
Der Naturwissenschaftler, der sehr wohl weiss, dass die Naturwissenschaft nicht alles erklären kann, hat sich für ein nicht materielles Phänomen in einer materiellen Welt entschieden. Im Text ist von «Durchbrüchen» die Rede, erlebt durch die zweite Figur dieses Textes, den Beobachteten, dessen Weg genauso beschrieben wird wie der des Beobachters. An diesem zeigt Christian Haller diese «Durchbrüche», die man auch spirituell deuten kann, als Ausdruck von Rausch, als Zustände welcher Art auch immer. Oder vielleicht auch ganz anders, wer weiss. Es selbst sagt es nicht.
Meisterhaft ist es Christian Haller gelungen, sich dabei aufs Wesentliche zu beschränken: Zwei miteinander verschränkte Geschichten im Wechsel erzählt, wobei nicht ein Wort zu viel ist, nicht ein Moment aus blossem Zufall entstanden scheint. Alles ist so einfach, schön und klar geschaffen, als könnte man Unsagbares tatsächlich nur auf diese Weise sagen.
Ja. Die Novelle «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Klarheit, Schönheit und im besten Sinne auch Einfachheit. Drei Argumente für eine Verleihung des Schweizer Buchpreis 2023. Christian Haller, wir gratulieren Ihnen dazu.
Zu Beginn des Jahres 1925 war der eben habilitierte Werner Heisenberg in seinen Studien zur Quantentheorie kurz vor dem Durchbruch, erst erahnend, was diese in der Wissenschaft anrichten würden. Christian Haller nimmt sich in seiner Novelle „Sich lichtende Nebel“ nicht nur genau jener Zeit an, sondern dem Gefühl damals Weniger, dass unsere Wahrnehmung alles andere als deckungsgleich mit der „Wahrheit“ sein muss.
Erstaunlich genug, dass Christian Haller sich einem physikalischen Thema mit derartiger Leichtigkeit literarisch widmen kann, dass er es schafft, einen solchen Stoff, einen solchen Moment des sich lichtenden Nebel mit der zarten Beschreibung zweier nicht unähnlichen und in ihrer Biografie so unterschiedlichen Protagonisten zu verknüpfen. Selbst wenn ich das, was Heisenberg, von Christian Haller respektvoll „Beobachter“ genannt, damals in seinem Denken entwickelte, nicht wirklich verstehe, erahne ich den Moment des „Sich Lichtens“. Nicht dass es Heisenberg damals wie Schuppen von den Augen fiel – aber die Ahnung, was sein Erkennen für Konsequenzen auslösen würde, muss als Gefühl erschütternd gewesen sein.
Christian Haller verwebt die Geschehnisse um den jungen Physiker Heisenberg mit den schwierigen Tagen eines emeritierten Historikers. Helstedt hat sich nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen, auch wenn er sich ab und an mit seinem Kollegen Sörensen trifft und in der Suche nach Erkenntnis, reichlich unterstützt durch Wein, Austausch sucht. Eine Suche, die ihm neben seinem Schmerz mehr und mehr die Gewissheit gibt, dass mit dem Nichtmehrdasein nicht zwingend eine Liebe zu Ende sein muss. Heisenberg und Helstedt erahnen, dass es neben der offensichtlichen „Wirklichkeit“ Ebenen geben muss, die sich unserer (meiner) Vorstellung entziehen.
«Seine Schrift auf der weissen Heftseite war wie die Spur im Schnee, die ein Fuchs gezogen hatte.»
Beide, Heisenberg und Helstedt, wagen einen Aufbruch. Heisenberg aus den Fesseln eines vorgegebenen Denkens, Helstedt aus seiner inneren Isolation. „Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Novelle darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit Hallers eigner Herkunft, seinem Leben auseinandersetzen, sei der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zum Buch wurde, erklärte Christian Haller an einem Auftritt an den Solothurner Literaturtagen 2023. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.
So schmal das Buch ist, so erkenntnisreich die Ahnungen, die es provozieren kann. „Sich lichtende Nebel“ ist ein starkes Stück Literatur! Ich spüre seine grosse Faszination, die die Sprache selbst für den Autor bedeutet, die Weite an Erkenntnis, die sich offenbart.
Christian Haller hätte es sich leichter machen können. Aber die Tiefen von Einsicht und Erkenntnis sind nicht hell ausgeleuchtet. Nur wer sich darum bemüht, dem lichten sich die Nebel.
Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. 2006 mit dem Aargauer Literaturpreis, ein Jahr später mit dem Schillerpreis und 2015 mit dem Kunstpreis des Kantons Aargau ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.
Aus eigener Intiative vergeben die 7. Weinfelder Buchtag jedes Jahr einen Buchpreis. Sowohl Buchtage wie Buchpreis wurden von Katharina Alder, Inhaberin der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden, initiiert. Hier die Laudatio von Katharina Alder:
Judith Keller ist an den Weinfelder Buchtagen keine Unbekannte. Bereits 2021 wurde sie für den ersten Weinfelder Buchpreis nominiert, damals mit ihrem zweiten Roman «Oder?», der beim Gesunden Menschenversand erschienen ist. Soeben ist ihr neuer Roman «Wilde Manöver» bei Luchterhand erschienen und knüpft stilistisch an ihren Vorgänger und auch an das von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnete Debüt «Die Fragwürdigen» an.
Judith Keller besticht in ihren fiebertraumartigen Romanen durch ihren schrägen Humor, ihre Lust am Fabulieren und einer hinreissenden Beobachtungsgabe. Ihre Figuren bewegen sich in einem weiten Spannungsfeld von schräg, schwermütig, eigensinnig bis leichtfüssig. In der Tradition eines Franz Hohlers widmet sie ihre Texte den kleinen Leuten, den Menschen in ihren normalen und abstrusen Alltagssituationen und nimmt sie in detailreichen Erzählungen unter ihren präzisen, interessierten Blick. Dieses Auge für poetische Irrwitzigkeiten und gleichzeitig ein berührend Normales bereichert den Schweizer Literaturbetrieb.
Auch sprachlich muten Judith Kellers Romane spielerisch an. Mit einer schelmischen Ernsthaftigkeit nähert sie sich dem nackten Material der Sprache und stellt es aus. Dabei zeigt sie ein gutes Händchen im Umgang mit Sprechweisen, Mundart und Sprachwitz. Sie experimentiert sowohl mit der Form, als auch mit der Leserschaft, den Genres, der Darstellung und der Typografie. Die Leserschaft wird in den Prozess der Textentstehung mit eingebunden. Ganz anders ihr Umgang mit der Autorschaft, wo sie – entgegen dem momentanen autofiktionalen Hype in der Literatur – sich und ihre Biografie aus dem Text raushält und die fiktionale Welt auf Weiteste ausreizt. Müssige Diskussionen um das Autobiografische an Texten bleibt aus, viel lieber versüsst sie den Lesegenuss mit unzuverlässigen ErzählerInnen, denen man eigentlich nicht trauen sollte und trotzdem folgt.
Judith Keller liebt unklare Situationen, Stoffe, die schwierig zu beschreiben sind und immer ein bisschen im Dunkeln bleiben. In dieser Schreiblust und ihrem Mut, sperrige und ungeglättete Texte zu schreiben, in alle Ecken des Literarischen vorzudringen und sie auszuforschen, möchten wir sie mit diesem Preis unterstützen.
Judith Keller, 1985 in Lachen in der Schweiz geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert und war Redakteurin der Literaturzeitschrift EDIT. Für den Erzählungsband «Die Fragwürdigen» wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.
Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.
Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.
Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln. Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!
«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.
Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.
«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.
Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.
«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will. Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm. Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.
Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz.
«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive. Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun? «Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.
Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin.
«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde. Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.
Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».