Zwei Höhepunkte an den 40. Literaturtagen in Solothurn waren aus meiner Sicht die 81jährige Anna Felder, die den Schweizer Grand Prix Literatur 2018 erhielt und die noch ganz junge Judith Keller, die mit ihrer ersten Geschichtensammlung «Die Fragwürdigen» längst nicht nur mein Herz rührt und meine Seele erquickt.
Anna Felder, die Tessinerin, die in Aarau lebt, hat nicht nur immer noch ein helles, offenes Gesicht. Sie besitzt ein helles, offenes Bewusstsein, ist eine stille und äusserst feinfühlige Beobachterin, die die Kostbarkeiten des Moments in literarische Bilder zu fassen vermag. Kleinsttragödien, die immer ein Spiegel von Grossem sind, Schöpferin von Texten, die allein durch den Klang der Assoziation eine Richtung geben können. Geschichten, die in Fragmenten aus der Stille
steigen, die durchaus das Potenzial zu vielen hundert Seiten hätten. Anna Felder spürt der Kraft der Möglichkeiten nach, spielt mit der Imagination, nimmt sich dem Kleinen, Zarten an.
Wichtiger als Handlung ist ihr die Situation, alles, was aus der Vergangenheit in den einen Moment hineinwirkt. Ihre Geschichten im schmalen Band „Circolare“ sind Momentaufnahmen, langsam gewachsen, auch im Schreiben. Sie schreibt zuhause zu Beginn stets von Hand mit dem Blick in den Garten des Nachbarn. Ihr Papierkorb steht neben dem Stuhl, nicht nur um Sätze wegzuwerfen, sondern auch um nach ihnen zu suchen, wenn das Weggeworfene doch das Richtige war. Worte sind Schlüssel zu unendlich vielen Geschichten, einer Fülle an Leben. Momente, die mit Leben aufgeladen sind. Sie schreibt Geschichten, um Fragen ihres Lebens zu beantworten, im Wissen darum, dass stets neue Fragen entstehen, Fragen nie wirklich beantwortet sind.
Und ganz besonders erwähnenswert ist, dass die Geschichten in „Circolare“ äusserst sorgfältig übersetzt sind, nicht von ihrem Klang, ihrer Melodie einbüssen durch die Übersetzungen von Ruth Gantert, Maja Pflug, Barbara Sauser und Clà Riatsch. So sehr sich Anna Felder für die Kehrseiten der Menschen interessiert, so sehr bemüht sich Anna Felder um die Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks. Grosse Literatur einer ganz bescheidenen, aber grossen Dichterin.
In der Kürze und Prägnanz mit einander verwandt und doch weit weg von Anna Felder sind die Geschichten der jungen Judith Keller. Einer Frau, die auf der Bühne ihre Geschichten aus einem rot gefütterten Hut fischt, zieht die aus einem Zauberhut, wägt ab, „wirft“ sie den Zuschauern zu, tief in den dunkeln Raum, einzelne Sätze wie Aufforderungen an das Publikum. Geschichten, die ins Lachen branden, ein Lachen, das bleibt, noch lange nachhallt. Judith Keller
scheint in einem unendlichen Reservoir an Geschichten wühlen zu können. Ganz im Gegensatz zu Anna Felder sind es aber nicht unbedingt Beobachtungen an den Menschen, sondern an der Sprache, an Redewendungen, die ihr entgegenspringen, zum Beispiel bei der Lektüre der Zeitung, abstrakte Bezeichnungen, unbeabsichtigte Metaphern, schräge Momente in absoluter Normalität. Geschichten, die feststellen und im Moment ihrer Feststellung kippen. Judith Keller nimmt den Blick von aussen, auch jenen von Tieren, sei es auch nur eine Taube. Der Humor ihres Erzählers liegt nicht in der Pointe, sondern im Grad der Wiedererkennung des Lesers, der Zuhörerin.
Judith Keller ist eine Zauberin. Sie zaubert Geschichten her, so leicht, als wäre es keine Anstrengung, sie zu schreiben, ihnen nachzugehen, als wären sie immer zufällig da, bei ihr, wo sich die Geschichten materialisieren. Die Geschichten passieren sie. Sie, die im schwarzen Kleid mit weissen Tupfen, den roten, samtigen Schuhen und den roten mit einem schwarzen Band über dem Kopf zusammengebundenen Haaren auf der Bühne zaubert. Judith Keller, eine Gschichtenmagierin – bezaubernd!
Die Solothurner Literaturtage waren auch in ihrer 40. Ausgabe ein strahlendes Ereignis. Organisiert von Beseelten, die es schafften, jenen Geist des Aufbruchs in die Gegenwart hinüberzuführen. Die Solothurner Literaturtage sind weit mehr als eine Leistungsschau. Für drei Tage wird die kleine Stadt an der Aare zu einer grossen Stadt der lebendigen Literatur.

Arme des Clans auf den Plan. Und als Naomi, Tetus Enkelin, mehr als nur ins Visier der Schergen des Clans gerät und Moody, Mettlers Enkel in Liebe entbrannt, die Fassung verliert, droht die Situation zur ausgewachsenen Katastrophe zu werden.
Peter Höner, geboren 1947 in Eupen, aufgewachsen in Belgien und der Schweiz, Schauspielstudium in Hamburg und Schauspieler u. a. in Basel, Bremen und Berlin. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, 1986 – 1990 Afrikaaufenthalt. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern. Lebt und schreibt zusammen mit seiner Frau Michèle Minelli.
Imier auf. Eine Stadt, in der damals die Uhrenindustrie erwachte, sonst aber unsichere Zeiten durchlebte, erst recht als im Jahr 1851 die Unzufriedenheit vieler gegen die Obrigkeit Waffengewalt provozierte, Unruhestifter gejagt wurden, Ortschaften wie St. Imier bevölkerungsmässig förmlich explodierten. Doch die Aufbruchstimmung setzte sich nicht bis in die Familien und Traditionen durch. Die Frauen trafen sich, lasen in Zeitschriften vom Paradies in Übersee und schmiedeten Pläne. Die beiden Ersten, Colette Colomb und Juliette Grosjean, wanderten jede mit einer Longine A20 als Kriegskasse aus. Sie wollten unbedingt fort, in der Hoffnung, dort ihre gegenseitige Liebe ausleben zu können. Doch wenige Monate nach ihrer Abreise erhielten die noch Zurückgebliebenen die Todesnachricht „erdrosselt“ und einen Koffer mit den Habseeligkeiten der beiden Verlorenen. Die beiden Longine A20 aber blieben verschwunden.
Aus Winterthur, geboren 1947, Schauspielstudium an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg, Schauspieler u.a. in Hamburg, Bremen, Berlin, Basel, Mannheim und Baden. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. Von 1986 bis 1990 Afrikaaufenthalt. 1997 – 2000 Präsident der Gruppe Olten. Von 2000 bis 2004 wohnhaft in Wien, seit Mai 2004 wieder in der Schweiz. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern.
Im Roman «Anaconda 0.2» von Urs Richle findet Leos Vater im verlassenen Zimmer seines Sohnes eine als Spieluhr getarnte Bombe. Während die Mutter am Tod ihres Sohnes zerbricht, stochert der Vater in den Überresten der Existenz seines Sohnes. Was er findet, bringt nur noch mehr Rätsel. Wer war sein Sohn? Wann verloren er und seine Frau ihren Sohn? Wem galt die Bombe im Zimmer des Sohnes?
Urs Richle ist Vater dreier Kinder. Seit 15 Jahren beschäftigt er sich mit Informatik, ursprünglich um dem ökonomischen Druck beim Schreiben zu entfliehen, mit dem Wunsch Drehbücher zu schreiben. Nun hat ihn das Thema so sehr gepackt, dass daraus 3 Romane werden sollen. 2010 erschien «Das taube Herz», die «abenteurliche Geschichte über den Menschheitstraum, eine denkende Maschine zu bauen». Im 18. Jahrhundert waren es die Apparatebauer mit Allmachtsphantasien, heute sind es Genwissenschaftler und Programmierer. Urs Richle bleibt zuversichtlich. Er ist kein Schwarzmaler, kein Pessimist. An diesem Sonntag in Aarau wäre eine heisse Diskussion im Anschluss an die Lesung erfrischend gewesen. Schade.
Das ist aber nur die eine Ebene dieses überaus gelungenen und grossartigen Romans. Leo ist tot, aus einer Familie herausgerissen. So wie sich der Vater in der Vergangenheit des Sohnes verbeisst, will die Mutter ein Gesicht, den Namen des Mörders, den Prozess gegen jenen Mann, der das Hartgummigeschoss abgefeuert hatte. Aus dem Krieg, den der Sohn als Aktivist und Hacker, Demonstrant und Konspirant führte, wird ein Krieg zwischen den Eltern, die in ihrem Schmerz den Weg aus der Trauer in komplett verschiedenen Richtungen suchen. Ein Krieg, der auch die beiden Schwestern Leos einsam werden lässt. Ein Krieg, der unsere Kinder an den irreparablen Zuständen von Umwelt und Gesellschaft zerbrechen lässt.
nder und später die Enkelkinder. Und dann lernt sie Félix kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, Marthes erste große Liebe. Félix, der Maler ist und noch einmal zehn Jahre älter, wirbelt ihr Leben völlig durcheinander. 600000 Leserinnen und Leser und in Solothurn bei der ersten Lesung unter der Mittagssonne etwas mehr als 20 Aufmerksame. Die Schriftstellerin war so nervös, als wäre sie kurz vor ihrer ersten Verabredung. Im Publikum sass auch Uli Wittman, der Übersetzer und Lebenspartner der Autorin, der neben Noëlle Châtelet andere Grosse ins Deutsche übersetzt: Le Clézio, Michel Houellebecq.
Kamikaze Mozart erzählt von Fumika, einer japanischen Musikstudentin in Berkeley, die sich in den Schweizer Physiker Wolfgang verliebt, der im Team von Robert Oppenheimer an der Atombombe baut. In Japan hat ihre Familie für sie einen Mann bestimmt, den sie noch nie gesehen hat und der Kamikaze-Anwärter bei der Luftwaffe ist. Nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor wird Fumika mit den andern 130 000 «feindlichen Elementen» interniert. In der Wüste von Santa Fe, wo die Internierten beim Bau von Wolfgangs Reaktor eingesetzt werden, sehen sie sich wieder. Wolfgang hat sich inzwischen ganz in den Dienst der «Bombe gegen die Nazis» gestellt, und die Liebe zu einer «Feindin» bringt ihn jetzt in Schwierigkeiten. Schreiben sei wie das Handeln mit Dynamit.
hres bisherigen Lebens auf, reist nach Prizren. Erinnerungen an ihre idyllische Kindheit in der osmanisch geprägten Stadt, die sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie verlassen musste, drängen machtvoll in ihre Schweizer Gegenwart. Aber die Welt ihrer Kindheit findet sie nicht wieder in Prizren, und auch sie selbst hat sich verändert. Sie sucht einen Platz in ihrem neuen Land, der neuen Sprache. Die Unselbstständigkeit ihrer einsamen Mutter erträgt sie nur schlecht und mit jedem neuen deutschen Wort wächst die Entfernung zu ihr. Während die Mutter sich zunehmend isoliert, versucht die Erzählerin dem Stillstand zu entkommen.