Sparmassnahmen kippen literaturblatt.ch! #SchweizerBuchpreis 24/01

«Besuchen Sie die Literaturblogs unserer Partner und erfahren Sie, welche Bücher und AutorInnen die Szene bewegen», stand bisher auf der Webseite zum Schweizer Buchpreis. Aber was die «Szene» meint, scheint nicht mehr unterstützungswürdig zu sein, als Partner sind wir entlassen.

Schade. Aber „Sparmassnahme“ scheint der Grund zu sein, dass der grösste Buchbranchenverband der Schweiz auf eine Berichterstattung auf der Literaturplattform literaturblatt.ch verzichtet. Die gute Nachricht; Gallus Frei wird auch in Zukunft den Schweizer Buchpreis begleiten – dafür kritischer – und wie vieles in der Szene, unbezahlt, unbezahlbar!

«Wer schreibt, möchte Geschichten weiterreichen, damit jede Leserin, jeder Leser darin die eigenen findet. Damit das gelingt, brauchen wir Menschen wie Gallus Frei: Mit seiner Neugier, seiner Begeisterung, seinem Fachwissen ebnet er den Weg zum Buch und hilft so den Schreibenden und den Lesenden zueinanderzufinden.» Karl Rühmann, 2020 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Die Trennung kam unerwartet. literaturblatt.ch war gerne ein ganz kleiner Teil des Unternehmens und verstand sich stets als Stimme von Leserinnen und Lesern. Die Berichterstattung auf literaturblatt.ch soll Auseinandersetzung weit über das Buch hinaus sein. Aber nachdem es in den letzten Jahren für Literatur in den grossen Medien immer weniger Platz gibt, auf Radio SRF wurde mit „52 beste Bücher“ einer der gewichtigsten Literatursendungen gestrichen, in Zeitungen werden sorgfältige Buchbesprechungen immer seltener, das Feuilleton immer schmaler, ist es nicht verwunderlich, wenn es auch für unabhängige Buchpreisbegleitung keinen Platz, kein Budget mehr gibt.

„Ausser Kugler, Schütt, Ebel und Bucheli kommt kaum noch jemand zu Wort, und selbst die NZZ hat durch die Entlassung sämtlicher freier Mitarbeiter 80% der früher publizierten Kritiken gestrichen. In dieser Situation ist eine Aktivität wie die auf literaturblatt.ch, auch wenn die Artikel nicht gedruckt erscheinen, von grosser Wichtigkeit. Nach wie vor braucht die Literatur die Kritik, und es erscheinen immer mehr Bücher, die überhaupt keine kritische Würdigung erfahren, während die wenigen wahrgenommenen so besprochen werden, dass eine einzige Kritik gleichlautend in 24 bzw. 28 Zeitungen erscheint. Ist es ein Verriss, so ist es eine schweizweite Abkanzelung, ist es ein Lob, trifft es vielfach Indiskutables, während die Perlen daneben unbeachtet bleiben. In dieser Situation kann eine Website, die auch dem Übersehenen noch eine Chance gibt oder einer schweizweit verbreiteten Beurteilung eine alternative Meinung gegenüberstellt, nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Aber es passt. Nach etwelchen erfolglosen Versuchen, für literaturblatt.ch regelmässige Mitfinanzierung zu organisieren, verkraftet man(n) auch diese Sparmassnahme. Vielleicht auch darum, weil der SBVV sehr gut weiss, wie werbewirksam das Medium literaturblatt.ch ist und sich die Literaturplattform auch ohne finanzierten Auftrag für die Literatur einsetzen wird. Schade darum, weil es die Berichterstattung kostenlos macht, nicht wertlos, aber „gratis“.

„In Zeiten schwindender Buchbesprechungen in den Printmedien sind Internetportale wie literaturblatt.ch wichtige Orientierungshilfen in der Flut der Neuerscheinungen.“ Christian Haller, Träger des Schweizer Buchpreises 2023

Dass ich nicht mehr Teil des Unternehmens «Schweizer Buchpreis» sein soll, schmerzt auch deshalb, weil es 5 Jahre waren, während denen ich auf literaturblatt.ch alles tat, um die Berichterstattung über den Buchpreis möglichst abwechslungsreich und wirksam zu gestalten. Die Berichterstattung sollte ein eigenes Gesicht, ein eigenes Profil bekommen. So bebilderte die junge Illustratorin Lea Le die jeweiligen Berichte, unentgeltlich, einfach nur, weil es eine gute Sache war.

«Die Feuilletons werden dünner. Umso wichtiger ist es, bestehende Perlen im Netz zu stärken – wie zum Beispiel literaturblatt.ch, wo schon seit 2016 eine Rezension die andere über den Computerbildschirm jagt. Mein besonderer Tipp? gegenzauber.literaturblatt.ch – ein Who’s-Who von kurzen, schlagkräftigen Texten von A wie Agnes Siegenthaler bis Z wie Zsuzsanna Gahse.» Simon Froehling, 2022 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Damit literaturblatt.ch weiterhin unabhängig über die Literatur im allgemeinen und über den Schweizer Buchpreis im Speziellen berichten kann, möchte ich Sie zu einem Unterstützungsbeitrag aufrufen. Als Gegenleistung nehme ich mit Ihnen direkt Kontakt auf, um Ihnen eine Freude meinerseits zu schenken, sei dies ein Buch, ein Nachtessen, ein Treffen…

„Gallus Freis Begeisterung für Bücher ist im wahrsten Sinne ansteckend.“ Michael Hugentobler, 2021 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Kontoangaben: 
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil, Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil, CH05 8080 8002 7947 0833 6, ID (BC-Nr.): 80808, SWIFT-BIC: RAIFCH22, Bemerkung: Unterstützer*in

«Der Schweizer Buchpreis und die aufmerksame Anwesenheit von Gallus Frei / literaturblatt.ch gehören für mich zusammen: Seine immer genaue und ausführliche Berichterstattung online hat mich und mein Debüt „Die Nachkommende“ während der Nominierung 2019 begleitet und bleibt in bester Erinnerung.» Ivna Žic, 2019 nominiert für den Schweizer Buchpreis

Illustrationen © leale.ch

Schon jetzt vielen Dank an K. S. und E. J. für die grosszügige Unterstützung!

«Ohne Kaputtgehen kein Ganzwerden» Die Lyrikerin Isabella Krainer trifft die Illustratorin Lea Le

«Witzig und bissig, kurz und prägnant. Gleichsam verspielt und bodenständig, taktvoll und frech. Und ungeheuer lautverliebt und deutungsreich.» Das ist die Lyrik von Isabella Krainer. Zusammen mit der jungen Illustratorin Lea Le performten die beiden aus den Tiefen des menschlichen Seins.

Isabella Krainer lebt und wirkt seit Jahrzehnten in der Steiermark. Ihre Lyrik, erzählt sie, wurde nicht Lyrik, weil sie beabsichtigte, solche zu schreiben, sondern weil Menschen, die ihre Texte lasen, irgendwann meinten: «Isabella, du schreibst Lyrik.» Und genau das spürt man den Texten der Dichterin an. Ihre Lyrik ist ihre Auseinandersetzung mit sich selbst, ihrer Geschichte, ihrer Umgebung, der Welt. Ihre Lyrik ist der Versuch einer Antwort, einer Entgegnung, einer Erklärung. Aber sehr oft auch ein Gegenentwurf, ein Dagegenhalten.

akademische erkenntnis // noch mehr / dosenravioli / aber der blick / auf die welt / ist ein / anderer

Isabella Krainers Lyrik entspringt nicht so sehr den Kopf; ihre ganze Person, all die Erfahrungen, die sie im engen Austausch mit den Menschen ihrer Umgebung macht, wirken durch die Texte hindurch. Und so sehr die Texte körperlich werden, so sehr entspringen sie der Weisheit und Klugheit einer Frau, die mit ihrem Blick in die Tiefen des Menschseins nicht dort aufhört, wo die vermeintliche Rücksicht beginnt.

Die Tatsache, dass Lyrik den Geist und das Sehen öffnet, legt auch nahe, diese Textform und ihre Darbietung mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen zusammenzubringen. Dabei war die Kombination, das Zusammenspiel von Lyrik und Illustration gleichermassen Wagnis und Experiment.

hochzeitstag // sie hat / die Blumen / eingefrischt / Schwermut / gabs geschüttelt …


Lea Le, eben erst mit seinem Förderbeitrag des Kantons Thurgau ausgezeichnet und schon länger zeichnende Kraft im und ums Literaturhaus Thurgau, arbeitet seit zwei Jahren als selbstständige Illustratorin in ihrem Atelier in St. Gallen. Angeregt durch die kraftvollen Texte Isabella Krainers entstand die Idee, die beiden Künstlerinnen auf der Bühne zusammentreffen zu lassen.

mindestsicherheit neu // mord / ab sofort / nur noch / im alleingang / beihilfe / gekürzt

«Es war Liebe auf den ersten Blick», erzählte Isabella Krainer während eines Gesprächs, «wir trafen uns eigentlich nur einmal via Zoom zu einem gegenseitigen Beschnuppern und wussten schon nach den ersten Augenblicken, dass dieses Experiment mehr als einmalig werden würde.»

Was die BesucherInnen an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau geboten bekamen, war eine ganz besondere Art der Performance. Als würde man durch ein überdimensionales Bilder- und Textbuch des Lebens blättern, «von der Wiege bis zur Bahre». Man wurde Zeuge einer Verinnerlichung.

«mein lyrikband hat ecken, kanten und blaue flecken. kurz, er ist vom leben gezeichnet. obwohl bereits 2020 veröffentlicht, liest sich „vom kaputtgehen“ wie pandemie. dass sich das eine oder andere gedicht dennoch herausnimmt, den ernst des lebens auszulachen, hat mit trotz zu tun. viel mehr aber, mit der unbändigen freude daran, abenteuer zu erleben.
und genau das war die zusammenarbeit mit lea le, deren illustrationen am 26. april 2022, im kult-bau in st. gallen zum ersten mal meine sprache sprechen durften. lyrik & illustration, eine performance, deren experimenteller charakter in keinem passenderen rahmen zur geltung gekommen wäre.
dass unsere performance am 28. april 2022 im literaturhaus thurgau noch einmal, gestärkt durch positive rückmeldungen und die abenteuerlust des publikums wirken konnte, war fast schon kitschig. denn plötzlich war sie da, die magie. ließ gedichte aufatmen und zeichnete sie mit leben aus.
und auch die tage, die ich in der gästewohnung des literaturhauses verbringen durfte, hatten einen zauber inne. hätte lea auch diese illustriert, wäre selbst die bleistiftzeichnung bunt geworden.
gallus, herzlichen dank! deine liebe zur literatur macht aus bühnen sehnsuchtsorte.» Isabella Krainer

«Was für ein Abenteuer das war. Der Stressschweiss hat sich sowas von gelohnt!» Lea Le

Zur Information: Am 8. Juli wird diese Reihe der experimentellen Performance weitergehen: Die Schriftstellerin und Dichterin Simone Lappert wird für einen Tag mit dem Musiker Andi Bissig im Literaturhaus arbeiten. Beide werden sich an diesem Tag zum ersten Mal schöpferisch miteinander «auseinandersetzen». Am Abend dannpräsentieren die beiden, was auch den Tag entstanden ist.

Webseite Isabella Krainer

Webseite Lea Le

Beitragsfotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau
Zeichnungen © Lea Frei

Dienstag, 26. April im KultBau St. Gallen und Donnerstag, 28. April im Literaturhaus Thurgau: Isabella Krainer & Lea Le «Vom Kaputtgehen», eine Performance

Zusammen mit der St. Galler Illustratorin Lea Le performt die steirische Lyrikerin Isabella Krainer. Lyrik und Illustration formen Bilder, treten in Austausch, erwidern und befragen sich. Kunstformen begegnen sich!

von wegen

vater war dafür
sagte nur
deswegen

verwegen

mutter fragte wofür
dachte nur
weswegen

verlegen

krieg vor der tür
kämpfe nur
entlegen

von wegen

An einem ganz normalen Leben entlang, von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt über Familienleben und Schulzeit bis zur Entwicklung von Geschlechterrollen, zu unvermeidlichen Kontakten mit politischer Wirklichkeit und zum Ringen um Mitmenschlichkeit spannt Isabella Krainer den Bogen einer österreichischen Jedermensch-Biografie. Immer weit am Rand der Komfortzone – oder schon jenseits davon – bewegen sich die Figuren, fühlen sich nicht zugehörig und gehindert am Weiterkommen.

Isabella Krainer «Vom Kaputtgehen», Limbus, 2020, 91 Seiten, CHF 18.90, ISBN 978-3-99039-170-9

Die österreichische Lebenswirklichkeit dringt in die Sprache dieser Gedichte, in der Krainer – unentwegt ihr enormes Sprachbewusstsein beweisend – mit Mundartelementen Heimatgefühl erzeugt, das sie mit Doppeldeutigkeiten und Konnotationen, kleinen Verschiebungen aber gleich wieder ungemütlich gestaltet. Alltägliches bekommt eine neue Bedeutung, Bekanntes wird überraschend anders, Erwartungen werden unterlaufen, Wörter treffen bis in den Kern.

„Dass Lyrik grösstes Vergnügen bereiten kann, trotzdem jene Schärfe und Würze birgt, die der Lyrik in ihrer Konzentration eigen ist und doch kunstvoll, gewieft und vielschichtig daherkommt, das beweist Isabella Krainer in ihrem ersten bei Limbus erschienen Gedichtband.“ Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, 2020

manchmal

manchmal möchten möhren
eingesetzt
vielleicht auch zu höchstleistungen
angetrieben
oder mehr noch
wegen
medial produzierter minderwertigkeitskomplexe
karotten genannt
und überhaupt
attraktiver
werden

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, verfasst Lyrik und Prosa und macht gern Theater. Bis 2017 lebte sie in Tirol, aktuell in der Steiermark und pendelt zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Förderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet. Im Rahmen des stubenrein-Festivals (steirischerherbst’19) las sie aus ihren Gedichten. Als Murauer Bezirksschreiberin sammelt sie Zuschreibungen von der Straße auf und verarbeitet, was Frauen abverlangt wird, von A bis Z.

Lea Le (1995) lebt und arbeitet in St. Gallen als selbständige Illustratorin, Event- und Comiczeichnerin. 2022 Förderbeitrag des Kantons Thurgau
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Programm KultBau

Programm Literaturhaus Thurgau

 

 

Lea Le «Emma und ihre Tochter», Plattform Gegenzauber

Nele liebt ihre Mutter. Emma liebt ihre Tochter. Manchmal wie eine Mutter, manchmal ganz anders.
Emma findet ihre Tochter anziehend. Schon als sie kaum grösser war als eine Mandel. Obwohl sie sie nie gesehen hatte. Und wenn, dann hätte sie nur in ein unvollständig entwickeltes Gesicht blicken können. Sie war schwanger und alleine. Alleine mit ihrem Kind. Umgab es körperlich wie auch im Gedanken fest und warm. Hätte Emma ihr Befinden zu dieser Zeit schon zu formulieren versucht, wäre es ihr nicht möglich gewesen. Sie empfand in Zuständen, mit allen Sinnen. Deuten konnte sie das damals nicht. Es waren kleine, kurze Höhepunkte, wie die Empfindung großen Glücks, das einen aufschrecken lässt.
Sie genoss, dass etwas in ihr wuchs. Es fühlte sich wie ihr eigenes an. Ein Kind, flüsterte sie im Gedanken und dachte dabei nicht nur an eine neue Freude in ihrem Leben. Sie dachte dabei an einen neuen Sinn. Eine Unterhaltung, eine Aufgabe, an Befriedigung und an Glück. Sie bebilderte die Gedanken in ihrem Kopf. Spielen würde sie mit ihr. Sie morgens und abends mit Öl einreiben. Überall. Emma runzelte die Stirn. Wieso schwoll ihre Vulva warm an? Sie eilte in die Küche, machte sich einen Tee. Verunsichert schob sie die Gedanken von sich. Kann nicht sein, dass mich diese Vorstellung eben erregt hat, oder? 
In solche gedanklichen Sackgassen geriet sie öfter. Emma beunruhigte das.

Nele war fünf Monate alt. Emma legte sie jeden Morgen auf den Wickeltisch. Sie ölte ihr nacktes Baby ein, strich ihr über die Glieder, streckte ihren Rücken. Sie wagte es nicht mehr, ihrem Kind zwischen die Beine zu sehen. Die Zehen. Zu abnormal schienen ihr ihre Gedanken. Die Fingerchen. Emma hatte Angst. Sie hoffte, diese Lust würde verschwinden. Die Öhrchen. Woher kamen nur diese unnatürlichen Bedürfnisse! Die Kraft wich aus ihr. Ihre Knie beugten sich, trafen aufeinander. Sitzen. Toilette. Auszeit. 
Fast jeden Morgen musste Emma Pausen einlegen. Tränen unterdrücken. All das, was sie ihrem Kind schon angetan hatte! Es darf nie wieder geschehen. Sie bereute es zutiefst. Es ist mein Kind! Ein Kind! Ein Kind.

Nele war zwei Jahre alt. Sie spielte im Garten. An diesem Tag waren es Tierfigürchen aus Holz. Ein gelbes Sommerkleid. Emma beobachtete sie verliebt. Ihre Gedanken schweiften ab, hinterließen ein schlechtes Gewissen. Schuld. Dreck. Schmerz.
Ihr sehnlichster Wunsch war es, dass sie am nächsten Morgen ohne solche Gedanken aufwachen würde. Ihr Kind beschützen vor dem, was sie ihr in der Vergangenheit angetan hatte. Sie würde sich gerne bestrafen für diese schlimmen Dinge. Sie wollte damit aufhören müssen. Deswegen wurde sie stetig unvorsichtiger. Sie wollte gesehen werden. Erwischt werden. Demütigung erfahren. Es sollte ihr ausgetrieben werden, diese Gelüste und Taten.

Nele war drei Jahre alt. Sie sprach manchmal schon ganze Sätze. Zählen auf sieben. Aufs Töpfchen zeigen, Bescheid sagen, wenn sie etwas möchte. 
Eine Panik bedrängte Emma mehr und mehr. Ihr Kind formte sich zu einem Individuum, das selbst entscheiden konnte. Ein eigenständiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Eigenen Interessen. Ein eigenes Universum. Emma kämpfte. Hielt immer länger stand. Die Übergriffe waren schnell und verkrampft. Voller Zwang. Voller Angst. Voller Ekel.

Nele war dreieinhalb Jahre alt. Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie vor ein paar Tagen im Wald einen Igel aus einer Kastanie und zwei schwarzen Beeren gebastelt habe, als sie zu zweit spazieren gingen. Da wurde es Emma klar: Ihre Tochter war nun in der Lage, sich zu erinnern. Der Gedanke, sie könnte sich an die letzten Übergriffe erinnern … Emma ging auf die Toilette. Sie übergab sich. Sie übergab sich erneut. Dermaßen angewidert.
Diese Erkenntnis brachte Änderung.

Nele ist heute zwölf Jahre alt. Sie und ihre Mutter Emma liegen nebeneinander auf einem Strandtuch. Schulter an Schulter lesen sie getrennte Bücher. Jede in ihrem eigenen Universum. Emma schielt hin und wieder hinüber, wenn ihre Tochter die Seite umblättert. Den erhaschten Textfragmenten nach muss es sich um eine Liebestragödie handeln. Irgendwie berührt sie das außergewöhnlich stark. Sie senkt ihre Arme. Dort wo das Buch nun ihren Bauch berührt, genau dort schmerz es sie. Sie schließt die Augen, bewegt ihre Pupillen nach unten. Rot ist es. Unterdrückte Tränen.
Mein eigenes Kind. Ein Kind. Ein Kind. 
Nele legt ihr Buch zur Seite. Mama? Wieder ins kalte Nass? lacht sie. Mhm schluckt Emma. Nele schlüpft in den Schwimmreifen, blickt ihre Mutter fordernd an, wie es Kinder eben tun, dann laufen sie zusammen ins Meer. Das Wasser ist wärmer als sonst. Nach wenigen Metern springt Nele auf, klammert sich an die Arme ihrer Mutter. Eine Qualle! An Land! Schnell! 
Emma wird von ihrem Kind ans Ufer zurückgezerrt. Nele läuft lachend zum Strandtuch und beginnt weiterzulesen. Wie groß sie schon ist, denkt Emma noch immer im Wasser stehend. Tatsächlich, es schweben ungewöhnlich viele Dinge in den seichten Wellen, stellt sie fest. Quallen kann sie keine sehen. Sie schmunzelt. Der sonst so gut aufgeräumte und überwachte Strandteil ist heute wilder als üblich. Emma klammert sich an den Reifen, watet erneut ins Wasser. Sie weint. Vor Freude. Ihre Tochter interessiert sich für Liebe. Ihre Tochter will mit ihr auf demselben Strandtuch liegen. Und das Beste, es sind die Quallen, wovor sie Angst hat. Nicht vor ihr. Nicht vor der eigenen Mutter.

Emma läuft weiter. Bald hat sie keinen Boden mehr unter den Füssen. Der Blick zum Strand zurück fühlt sich fremd an. Er fühlt sich so unecht an wie der Blick durch eine Kamera. 
Ein hässlich großes Gebäude ragt weiß aus der Düne. Emma paddelt mit den Füssen. Trotz den heißen Temperaturen wirkt der weiße Beton kalt. Sie paddelt schneller. Sie hasst diese Glaskuppel auf dem Dach. Eine suggerierte Freiheit. Emma schlägt im Wasser um sich.
Dann, zwischen Schirmen und Sand erkennt sie einen weißen Kittel. Emma beginnt zum Ufer zurück zu schwimmen. Nele! Sie holen sie jetzt schon? Sie gräbt ihre Füße heftig in den nassen Boden, um voran zu kommen. Die weiße Person erreicht das Strandtuch. Das dumpfe Geräusch des aufgeschäumten Wassers, wenn ihre Oberschenkel die Wasseroberfläche brechen. Nele steht auf. Die Tasche gepackt. Emma umklammert den Ring mit dem rechten, hebt den linken Arm zum Gruß. Sie tropft. Bis, bis nächste Woche dann? 
Ihre Tochter umarmt sie. Ein ruhiger, zustimmender Blick. Dann die weiße Stimme. Ihre Medikamente, Frau Obers. Es ist 18 Uhr.

Lea Le (24) ist dabei, ihr Bachelorstudium an der Hochschule Luzern in Illustration abzuschliessen. Sie arbeitet leidenschaftlich an Comics, in denen sie sich mit Themen wie Beziehungen, deren Konsequenzen und zwischenmenschliche Kommunikation auseinandersetzt.