Uli Wittstock «Bescherung auf Station 17», 6. unschöne Weihnachtsgeschichte

Schwester Gerlinde hat wohl das Flurlicht abgedunkelt, und ist in die Küche gewechselt, um die Reste des Stollens zu entsorgen. Das zumindest vermutet Pjotr, denn sie beide sind jetzt noch das Rumpfteam auf der Station, das allerdings in einer halben Stunde aufgefüllt werden wird, um dann einen guten Eindruck zu hinterlassen. Die Bewohner der Station waren nach dem Mittag alle noch einmal gebadet worden, doch Frau Mönkemeier hatte ein Stück Stollen zu gierig verschluckt, obwohl Pjotr ihn schon in Bonbongröße geschnitten hatte. Erst kamen aus ihrem Mund der Husten und in der Folge noch etwas mehr, Reste des Mittagsbrotes vor allem. Pjotr hatte bereits die Tischdecke in dem Wäschesack gestopft, Frau Mönkemeier in ihr Zimmer gefahren und ihre Bluse gewechselt, eine grüne, die nicht so recht zu ihrer beigen Jogginghose passen mochte. Aber vor Monaten, als Frau Mönkemeier noch sprach, hatte sie von der mit hellen Rüschen besetzten Bluse als ihrem Lieblingsstück gesprochen. Der Stoff ist inzwischen ein wenig verblichen, doch zeigt der Schnitt noch immer deutlich, dass Frau Mönkemeier in ihrem Leben viel Wert auf Eleganz gelegt hatte. Dass jetzt ein Lächeln über ihr Gesicht gleitet, könnte Pjotr sich einbilden, dazu allerdings ist er zu lange auf der Station, um solchen Täuschungen noch zu erliegen. Er knöpft die Bluse bis zum Hals zu, was kein Problem ist, da Frau Mönkemeier offenbar immer kleiner wird und zwischen den Hautfalten des Halses und dem Kragen nunmehr ein fingerbreit Platz ist. Dann dreht er den Rollstuhl in Richtung Fenster, mit Blick auf den Garten und das dezemberkahle Geäst zweier Platanen, wetterseitig Krähenschwarz. Im Speisesaal hat die Frühschicht bereits die Festtafel eingedeckt, Pjotr geht zum Weihnachtbaum und schaltet die Beleuchtung ein, buntes Geflacker, was eigentlich die Hausleitung mit Verweis auf die Energiekosten untersagt hat. Nur noch zu den Festtagen und nur von 18 bis 20 Uhr, so die Mail, die an alle im Haus ging. Doch seit dem Mittag ist der Parkplatz der Geschäftsleitung verwaist, und mit Flatterband abgesperrt, wohl für den hohen Besuch, der erwartet wird. „Ja mach ein bisschen Stimmung für den trüben Laden.“ Schwester Gerlinde steht hinter ihm und schaut nun ebenfalls auf die flackernden Lichter und die großen Kugeln dazwischen, die sich irgendwie lieblos in den dürren Zweigen der Fichte verteilen. Für den Weihnachtbaum ist der Hausmeister zuständig. An den Weihnachtsfeiertagen übernimmt Schwester Gerlinde grundsätzlich den langen Dienst. Sie habe wohl eine Tochter, so munkelt man im Team, doch der Kontakt sei vor Jahren abgebrochen. Pjotr wird noch heute Abend zu Hause anrufen, auf einer knarzenden Leitung weit über den Grenzfluss Richtung Osten, wenn dort die Bescherung vorbei ist, die auch in diesem Jahr gesichert ist, nicht zuletzt dank seiner monatlichen Überweisungen. „Die olle Steinberg kommt nachher persönlich.“ Schwester Gerlinde streicht, während sie spricht, mit ihrer rissigen Hand über die Tischdecke, um die letzten Falten zu glätten. Es sind genau diese Feinheiten, auf welche die Chefin großen Wert legt, und es das Team noch tagelang spüren lässt, wenn sie es für nötig erachtet, mit einem Bombardement von Mails, die gesamte Einrichtung an ihrer Enttäuschung teilhaben zu lassen. Nur der inzwischen nicht mehr zu leugnende Personalmangel hält sie offenbar davon ab, in solche Fällen schärfer zu reagieren. „Du kannst doch schon mal die Geschenke holen“ sagt Gerlinde und blickt mit einer gewissen Zufriedenheit über den Tisch, bevor sie die Teller so dreht, dass sie exakt ausgerichtet sind. Pjotr fühlt sich an das Schneidwerkzeug einer Erntemaschine erinnert, die sichelscharfen Teller, mit dem das alte Kraut vom Acker gesenst wird. Im Aufenthaltsraum steht seit gestern der Korb mit den Geschenken, dreiundzwanzig exakt gleiche Pakete, eingeschlagen in ein grünes Weihnachtspapier, und aus naheliegenden Gründen nicht mit einer Schleife umwickelt. „Sie glauben gar nicht, was der Mensch alles schlucken kann“ hatte jüngst die olle Steinberg bei einer der Stationsversammlungen erklärt und dabei gegrinst, als sei ihr die Mehrdeutigkeit des Satzes selber aufgefallen. Doch die Chefin ist niemand, die sich in Mehrdeutigkeiten ergeht. Pjotr wuchtet den Korb auf den Essenswagen und rattert ihn über den Flur zum Baum. An einer besonders kahlen Stelle stapelt er eine Art Weihnachtspyramide auf, für deren Spitze er allerdings noch einen Stern benötigt hätte oder auch ein Kreuz. Aber ein solches sucht man auf der Station vergebens, was nicht wundert, denn die wenig einladende Region, für welche die Einrichtung ihre Dienste vorhält, hat der Heilige Geist schon vor mehreren Generationen verlassen. „Noch zehn Minuten“ ruft Schwester Gerlinde vom Flur und öffnet die Zimmertüren. Die wenigsten der Stationsbewohner werden selbstständig den Weg zur Bescherung finden. Einige von ihnen verlassen ihr Bett ohnehin nicht mehr, die müssen nun zuerst in Richtung Baum geschoben werden. Geübt bugsiert Gerlinde den Herren aus Zimmer sechs und dreht das Bett so, dass der Weihnachtbaum gut im Blick ist. Pjotr folgt mit einer weißhaarigen Dame, deren Haut so durchscheinend ist, wie das Papier der Sterne am Fenster, hinter denen sich nun allmählich jene Dunkelheit ergießt, welche wohl zur Weihnacht gehört und die Lichterketten besonders glänzen lässt. „Das sieht doch jetzt wirklich gut aus“ sagt Schwester Gerlinde mit einer gewissen Zufriedenheit, als hätte sie gerade das Personal einer Weihnachtskrippe eingewiesen. Der Herr aus Zimmer sechs bewegt wie zur Bestätigung seinen Kopf. Kurz darauf haben sie die Betten im Flur so zusammengeschoben, dass für den Besuch noch ausreichend Platz bleibt. Dann huscht ein Lichtschein über die Wand, nicht der Weihnachtsstern, sondern das Fernlicht der Limousine, die nun in den Hof einfährt. Es sind offenbar mehrere Fahrzeuge, denn nun tanzen weitere Lichtflecken über den Flur. Pjotr läuft nun auf die andere Seite bis ans Ende des Gangs, um Frau Mönkemeier zu holen, der Herr aus Zimmer drei kommt ihm bereits entgegen. Frau Mönkemeier scheint sich kein bisschen bewegt zu haben, seit Pjotr sie zum Fenster geschoben hat, hinter dem die Dunkelheit nunmehr ziemlich vollendet ist. Nach einem kurzen prüfenden Blick löst Pjotr die Bremsen und schiebt die Dame zur Festtafel neben dem Baum. Der Herr aus Zimmer drei ist bereits angekommen und die übrigen Bewohner folgen allmählich, teils von Schwester Gerlinde unterstütz. Dann springt die Stationstür auf, als hätte sie jemand eingetreten. So pflegt nur die olle Steinberg durchs Haus zu poltern, im Schlepptau hat sie drei sogenannte Freiwillige aus der Frühschicht, die jetzt das Team verstärken sollen, damit der Heilige Schein im Pflegeheim auch wirklich gewahrt ist. „Toll, toll, toll – sehr weihnachtlich“ schnarrt sie über den Flur. In einer anderen Zeitrechnung soll sie Pionierleiterin gewesen sein. „Heute darf nichts schiefgehen, wir sind nachher immerhin in den Spätnachrichten zu sehen.“ Sie wirft noch einen kurzen Blick über das Arrangement mit Weihnachtsbaum, Geschenken und Festtafel, dann nimmt sie neben der Tür Aufstellung, bereit den hohen Besuch zu empfangen. „Uowarchs“ – plötzlich hallt ein Schrei über den Flur, der eher nach einem schwarzen Vogel als nach einem Menschen klingt. Der Herr von Zimmer drei äußert sich so, wenn er wegen irgendetwas aufgeregt ist. Pjotr geht zum ihm hinüber und legt die Hand auf seinen Arm. In diesem Moment geht die Tür erneut auf, und zwei große Rücken zwängen sich hindurch, mit geschulterter Kamera und einer Mikrofonangel. Der mit der Angel schiebt die olle Steinberg zur Seite, stellt sich dann vor sie und ruft „Kannst“. Nun folgt ihm der Kameramann, noch immer vorsichtig rückwärts gehend, und dann, deutlich kleiner, der Ministerpräsident, dessen dünnes Haar im Licht der Kamera aufscheint wie ein brennender Dornbusch. Die olle Steinberg will sich vordrängeln, doch der Mann mit der Mikrofonangel versperrt ihr weiter den Weg. Als nächstes, nahezu Türfüllend, folgen drei junge Männer, die den Eindruck erwecken, als würden sie Weihnachtsbäume mit der Hand pflücken, wahrscheinlich die Bodygouards. Der kleinste von ihnen stellt sich neben den Tonangelmann, so dass die olle Steinberg nun regelrecht eingekeilt ist. „Im Kasten“ ruft der Kameramann. Nun strömen weitere Menschen nach, ein Fotograf mit einem Ofenrohrartigen Objektiv vor dem Bauch, eine junge Frau mit Notizblock sowie mehrere junge Männer im Anzug, wahrscheinlich aus der Protokollabteilung. „Dann machen wir jetzt die Begrüßung.“ Der Kameramann stellt sich in Richtung Baum. „Herr Ministerpräsident, bitte hierher“ ruft er und winkt zugleich zur ollen Steinberg. „Achtung und Bitte.“ Während die Chefin versucht, sich am Tonmann vorbei zu schlängeln, schreit erneut der Herr von Zimmer drei. Die drei Bodyguards straffen sich und blicken noch finsterer, als sei schon Karfreitag und nicht erst Weihnachten. „Herzlich willkommen Herr Ministerpräsident. Wir freuen uns sehr, sie hier bei uns begrüßen zu können. Weihnachten feiern wir hier immer in großer Familie und sind stolz, dass sie heute unter uns weilen.» Warum die olle Steinmeier den Text von einem Zettel abliest, versteht Pjotr nicht, ebenso wenig wie die Antwort des Ministerpräsidenten, der sich nicht nur ins Amt genuschelt hat, sondern auch seitdem daran festhält, weitgehend unverstanden vor sich hin zu regieren. Der Fotograf hat das Objektiv in Stellung gebracht, das nun kanonenartig vor seinem Gesicht in den Raum ragt und schießt Blitzsalven ab. Dann, gewohnt voran zu gehen, wendet sich der Ministerpräsident in Richtung Weihnachtsbaum. Freundlich lächelnd und winkend geht er an den Betten vorbei, greift mal eine heraushängende Hand und schüttelt sie kräftig und hätte beinahe auch nach einem Fuß gegriffen, wenn die olle Steinberg ihn nicht einfach weitergeschoben hätte. Der Tross bewegt sich in Richtung Baum. „So jetzt noch mal bitte zu mir schauen.“ Der Kameramann steht mit leicht gebeugten Knien, hinter ihm der mit der Tonangel. Mit beiden Händen, als würde er nach einem Betonblock greifen, packt der Ministerpräsident eines der Geschenkpakete und bringt es hinüber zum Tisch. „Moment, sie sollten es direkt jemanden übergeben“ ruft der Kameramann und dreht sich zurück in Richtung Baum. „Also bitte noch einmal.“ Der Ministerpräsident greift erneut zu, blickt sich kurz um und geht dann zielstrebig auf Frau Mönkemeier zu. Pjotr hat in diesem Moment ein irgendwie ungutes Gefühl, doch da steht der kleine Mann schon vor ihrem Rollstuhl und legt das Geschenk vorsichtig auf ihre Knie. Diesen Augenblick nutzt nun der Mann mit dem Kanonenobjektiv und sorgt mit einer Kaskade von Serienblitzen für heftiges Geflacker. Später wird man darin möglicherweise den Auslöser für die weiteren Vorfälle sehen, was aber jetzt noch keiner wissen kann. Dieser Ort ist kein Platz für Hellseherei. Zunächst geht ein Zittern durch den dünnen Körper von Frau Mönkemeier. Ihre Hände krallen sich in die Griffe des Rollstuhls, so dass ihre Knöchel weiß hervorstehen. Ihr Mund bewegt sich, doch es fehlt nicht an Luft, sondern offenbar an Worten. Pjotr versucht am Kameramann vorbei zu kommen, um die Dame zu beruhigen, als sie sich plötzlich aufrichtet, mit einer Hand noch immer den Rollstuhl festhält und den anderen allmählich nach oben hebt. Dazu parallel strafft sich ihr kleiner Körper. Dann, mit einer überraschend jugendlichen Stimme, ruft sie: „Heil Hitler, mein Führer.“ Der Arm sinkt herab und sie versucht einen Schritt in Richtung des Ministerpräsidenten, doch der weicht zurück. Von rechts wirft sich nun der kleine Bodyguard dazwischen, die anderen beiden kommen von der anderen Seite, bringen Frau Mönkemeier zu Boden, wobei der Rollstuhl stört. Von einem kräftigen Tritt in Schwung gesetzt, rollt der in den Weihnachtsbaum, der erst gefährlich schwankt und dann schließlich umstürzt und mit der Spitze den Kameramann trifft, der vor Schreck in Knie geht und dann nach hinten kippt, die Kamera wie eine Truppenfahne nach oben haltend. „Uowarchs“ schreit der Herr aus Zimmer drei. Dann zieht für einen Moment weihnachtliche Stille ein. Pjotr blickt in die ramponierte Weihnachtlandschaft, aus der nun der Ministerpräsident herausgezogen wird, als hätte es einen Erdstoß gegeben. Die Spätnachrichten werden wohl ihre Programmplanung ändern müssen.

Uli Wittstock, geb. 1962 in Lutherstadt Wittenberg, aufgewachsen in Magdeburg. Nach dem Abitur hat er einen dreijährigen Ausflug ins Herz des Proletariats unternommen: Arbeit als Stahlschmelzer im VEB Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann. Anschließend studierte er evangelische Theologie. Nach der Wende hat er sich dem Journalismus zugewendet und ist seit 1992 beim MDR. Er schreibt regelmäßig Kolumnen und Kommentare.