Martina Altschäfer «Ginger und Fred», 5. unschöne Weihnachtsgeschichte

Eigentlich hatten Tom und ich geplant, nur einen Wellensittich anzuschaffen. Dann aber wurden wir belehrt, es gäbe für gesellige Papageienvögel nichts Schlimmeres, als ihr Leben in Einzelhaft in einen Käfig eingesperrt verbringen zu müssen und kauften doch zwei. 
Die beiden Wellensittiche, die wir direkt von einem Züchter erwarben, waren dottergelb und, wie er uns versicherte, in seiner Voliere bestens miteinander ausgekommen.
Das erwies sich leider als Fehlinformation. Vielleicht hatte er sie verwechselt – Wellensittiche können einander sehr ähnlich sehen – vielleicht hatte er sie uns absichtlich angedreht, weil er sie los sein wollte, denn bereits kurz nach ihrem Einzug in ihr neues Zuhause zeigten sie deutlich, wie wenig sie einander mochten. Auch waren die Vögel mit Sicherheit älter, als der Züchter angegeben hatte. Das schlossen wir aus dem umfangreichen Schatz übelster Schimpfwörter, den sie sich nicht von heute auf morgen angeeignet haben konnten und aus dem sie in lautstarken Auseinandersetzungen ausdauernd schöpften.
Als uns bewusst wurde, dass unser Sohn Bruno, der damals anderthalb Jahre alt war und eben mit dem Sprechen begann, ihnen allerhand Schwachsinn ablauschte, war es für einen Umtausch bereits zu spät. Da hatten wir die Vögel schon Ginger und Fred getauft und uns durch die Namensgebung emotional selbst die Hände gebunden.

Bruno stand zu dieser Zeit bereits stabil auf seinen dicken Beinchen und verbrachte viel Zeit vor dem Vogelbauer. Er hatte große Freude an Ginger und Fred, und wenn er sich an den Gitterstäben ihres Käfigs festhielt und „Ginnifett“ krähte, nahmen die beiden das als willkommene Einladung und sausten zu seinem Entzücken wie wildgewordene Torpedos durch den Käfig. Obwohl wir unseren Sohn immer wieder ermahnten, die Finger von ihrem Türchen zu lassen, fummelte er ständig daran herum. Zu spannend war die Herausforderung, ob es ihm gelingen würde, den Klemmhaken ebenso geschickt zu lösen, wie wir es ihm Tag für Tag demonstrierten.
Wir hatten unseren offenen Wohnbereich so gut es ging wellensittichsicher gemacht und ließen die Vögel regelmäßig und immer um die gleiche Zeit zum Fliegen aus ihrem Bauer. Zugegebenermaßen taten wir das nicht nur, weil wir Wert auf eine möglichst artgerechte Haltung legten, es war auch eine gehörige Portion Eigennutz dabei. Die täglichen Flugstunden brachten nämlich nicht nur den Wellensittichen Entspannung. Wenn sie sich ausgetobt hatten und wieder in ihrem Käfig hockten, waren sie so müde, dass sie für eine Weile ihre schandmäuligen Schnäbel hielten.
Für ihre Stunde in Freiheit hingen sie bereits lange vorher ungeduldig zappelnd an den Stäben ihres Türchens, und wenn es geöffnet wurde, drängten sie sofort hinaus. Man hätte meinen können, sie würden dann, um endlich Ruhe voreinander zu haben, in unterschiedliche Richtung fliegen, aber sie flogen vollspeed und Flügel an Flügel zum Fenster und hängten sich dicht nebeneinander kopfüber oben in die Gardine. Dabei verhedderten sich jedes Mal ihre kleinen Krallen im Gewebe. Außerhalb unserer Reichweite fochten sie dort einen täglich wiederkehrenden Wettbewerb miteinander aus, aus dem der als Sieger hervorging, dem es zuerst gelang, die Krallen aus den Schlingen zu befreien.
Der Kampf mit den Fesseln dauerte Minuten, in denen sie bis zur Erschöpfung mit den Flügeln schlugen und unverständliches Zeug vor sich hin krächzten. Der Abstand zwischen Sieger und Verlierer betrug stets nur Sekunden, so dass sie zum Schluss doch wieder gemeinsam gen Boden segelten. Hier verzogen die Kontrahenten sich unter einen Stuhl und hüpften mit letzter Energie in Drohgebärden gegeneinander an, als trüge der jeweils andere Schuld an der Gefahr, der sie soeben ausgesetzt waren.
So ging das jeden Tag und änderte sich selbst dann nicht, als kurz vor Weihnachten zwei Katzen bei uns einzogen.

Das mit den Katzen war keine kluge Entscheidung und zu unserer Entschuldigung kann ich nur anführen, dass wir sie auch nicht bewusst trafen. Aber eines Abends saß zitternd ein kleines getigerte Katzenbaby auf der Matte vor unserer Terrassentür und miaute herzzerreißend. Es waren noch sieben Tage bis Weihnachten, draußen war es ungemütlich kalt und windig und um das Elend des Kätzchens zu untermalen umwehten die jämmerliche Gestalt erste Schneeflocken. Ich hatte umgehend vor der Gesamtsituation und dem mitleidheischenden Kullerblick kapituliert, ohne lange zu überlegen die Tür geöffnet und das frierende Etwas aufgehoben. Das Kätzchen war leicht wie eine Feder und schien nur aus Knochen, Fell und eben diesen riesengroßen Augen zu bestehen. Ich brachte es ins Warme und erst als der Winter wieder ausgesperrt war, bemerkte ich eine zweite Katze, die sich hinterrücks ins Haus geschlichen hatte und nun um meine Beine strich.
Selten hatte sich eine gute Tat so schnell verdoppelt.
Wir überschlugen kurz die Konsequenzen und dann setzte Tom sich ins Auto und fuhr zum Supermarkt, weil die Katzen Hunger hatten. Er kaufte eine ganze Palette Bio-Katzenfutter der Marke „cat royal – servierfertig“. Ich fand das etwas übertrieben, denn das Futter kostete ein Vermögen, aber Tom hatte den Etiketten, die zarte Häppchen in Gelee vom Geflügel mit Herz oder feines Ragout vom Weiderind an Pastinakencreme versprachen, nicht widerstehen können. Er brachte auch eine Katzentoilette und
geruchsmindernde Einstreu mit. Das wiederum erwies sich als sinnvolle Anschaffung, denn einmal im Warmen weigerten sich unsere neuen Mitbewohnerinnen, das Haus auch nur für den kleinsten Moment zu verlassen.

So kurz vor Weihnachten verstand es sich von selbst, dass wir die Katzen, die offensichtlich Mutter und Tochter waren, über die Feiertage beherbergten. Obwohl uns bewusst war, dass es danach, wenn viele Menschen ihre tierischen Fehlkäufe wieder los werden wollten, schwieriger werden würde, für sie einen Platz im Tierheim zu bekommen, hätte es sich falsch angefühlt, sie gleich dort hinzubringen.
Sicherheitshalber gaben wir ihnen keine richtigen Namen. Wir wollten nicht in die Ginger-und-Fred-Falle tappen und uns eine distanzierte Haltung bewahren und nannten sie daher einfach Mam und Babe.
Denn dass sie nicht bei uns bleiben konnten, stand spätestens nach der ersten Flugstunde unserer Wellensittiche felsenfest. Die Schwierigkeiten hatten eigentlich schon damit begonnen, dass Mam den alten Sessel im Wohnzimmer zu ihrem Lieblingsplatz erwählte. Von ihm aus hatte sie den perfekten Blick auf den Vogelbauer im Esszimmer und ließ sich im Weiteren auf keines der Tauschangebote, die wir ihr unterbreiteten, ein.
Von morgens bis abends lag sie wie eine Königin auf diesem Sessel und verfolgte interessiert Ginger und Freds Treiben. Fairerweise muss ich ihr zugestehen, dass sie keine Anstalten machte, sich den Vögeln zu nähern. Sie schien sogar ihrer Tochter beizubringen, die Wellensittiche zu respektieren. Ich konnte förmlich hören, wie sie Babe instruierte, Ginger und Fred wären keine Beute, es wären so eine Art Brüder, die von uns Menschen geliebt, gehegt und gepflegt würden. „Genau wie du und ich!“, schnurrte sie, die Katzenaugen zwei schmale Schlitze und ihr Maul zu einem gefälligen Lächeln verzogen. Sie seufzte, dehnte sich, streckte die Beine, spreizte die Zehen und fuhr gedankenverloren die Krallen aus. Dann rollte sie sich wieder zusammen und gähnte gelangweilt. Dabei entblößte sie ihre spitzen Zähne, die in ihrem Mund wie frisch geschliffene Messer blinkten. Ich traute ihr nicht über den Weg und hatte mir geschworen, sie nicht mit den Vögeln während ihrer Flugstunde allein zu lassen.
Bruno war unberührt von jedem Misstrauen. Er hatte sich vom ersten Moment an in Babe verliebt, was kein Wunder war, so süß, tapsig, verspielt und knuddelig wie sie war.
Ich hatte ein zerknülltes Blatt Papier an eine Schnur gebunden, und es waren Momente großen Glücks für unseren Sohn, wenn er es durch die Wohnung zog und Babe hinter ihm hersprang. Das Kätzchen schmeichelte um seine Beine, ließ sich von ihm streicheln und schnurrte so laut, dass unser Sohn vor Behagen mitschnurrte.
Mam beobachtete die beiden von ihrem Thron und schien nichts dagegen zu haben, dass Bruno mit Babe spielte. Aber auch das war mir nicht geheuer und ich fragte mich, ob sie ihr Kind vielleicht aus reiner Berechnung gewähren ließ, um uns von seiner und ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen und in Sicherheit zu wiegen.

Am Nachmittag des Weihnachtstages hatten wir alle Hände voll zu tun. Wir erwarteten Besuch, meine Eltern und Toms Schwester wollten mit uns zusammen feiern. Es war das erste Weihnachtsfest, das Bruno bewusst erlebte und sie wollten dabei sein, wenn er zum ersten Mal die Geschenke auspackte. Nicht nur weil Toms Schwester eine schwach ausgeprägte Katzenhaarallergie hatte, hatten wir ihnen von den Katzen erzählt, aber das hatte sie nicht von ihrem Besuchsvorhaben abbringen können.
Als es dunkel wurde, waren wir immer noch nicht mit all unseren Vorbereitungen fertig. Immerhin war der Baum mit bunten Kugeln, Strohsternen und zweierlei Kerzen geschmückt. Die Wachskerzen wollten wir während der Bescherung und wegen der Stimmung anzünden, die Lichterketten waren für die Stunden danach gedacht.
Bruno war an diesem Tag kaum zu bändigen. Er wusste zwar nicht genau, was auf ihn zukam, aber dass etwas Besonderes bevorstand, spürte er genau. Er war so aufgeregt, dass er mittags nicht schlafen wollte, was in der Folge bedeutete, dass er wahrscheinlich pünktlich zur Bescherung müde und knatschig sein würde. Er ließ uns keine Sekunde alleine. Ständig wuselte er zwischen unseren Beinen herum, Babe im Schlepptau, die unermüdlich hinter ihrem Papierknäul herjagte. Tom und ich waren durch die unberechenbaren Aktionen des Duos mehrfach ins Stolpern geraten und wir konnten von Glück sagen, dass sie uns nicht zu Fall gebracht hatten. Das hätte gerade noch gefehlt, dass einer sich verletzte und wir den Heiligen Abend in der Notaufnahme verbringen mussten.
Auch Ginger und Fred hatten sich von der allgemeinen Hektik anstecken lassen. Sie hörten überhaupt nicht mehr auf zu schimpfen und veranstalteten ein derart hysterisches Theater hinter ihren Gitterstäben, dass der Boden rund um den Käfig mit Sand, Samenkörnern, Spelzen und kleinen Federn völlig verdreckt war und ich weiß, ich sagte, da müsse nochmal einer mit dem Staubsauger ran.
Die einzige, die das ganze Durcheinander kalt ließ, war Mam. Sie lag auf ihrem Sessel und hatte ihre schrägen Katzenaugen überall. Sie hatte gesehen, wie wir weihnachtlich gestylt aus dem Schlafzimmer kamen und mit welcher Mühe ich mich in die Absatzschuhe zwängte. Sie sah Tom in immer kürzeren Abständen den Garpunkt des Gänsebratens überprüfen, sah ihn die Terrassentür öffnen, um noch einmal frische Luft herein zu lassen und beobachtete Brunos und Babes Zug durch die Wohnung.

Ich hatte eben die letzte Kerze angezündet, als mehrere Dinge gleichzeitig passierten. Tom machte sich auf in den Keller, um doch noch den Staubsauger zu holen, es klingelte, ich hastete zur Tür, riss sie auf und da standen meine Eltern und Toms Schwester mit Einkaufstaschen voller Geschenke. Meinen scherzhaften Einwand, sie würden maßlos übertreiben und Bruno total verwöhnen, lachten sie einfach weg. Es wäre doch ein ganz besonderes Weihnachtsfest, weil das Kind jetzt alles mitbekäme, sie wären so gespannt auf seine Reaktion. Sie hatten Sekt mitgebracht, der unbedingt gleich in den Kühlschrank musste und wir redeten alle durcheinander, wie man das macht, wenn man sich lange nicht gesehen hat und glücklich ist. Dann hörten wir plötzlich Tom im Keller schreien, es wäre eine verdammte Scheiße und als ich zur Treppe lief, um zu fragen, was denn jetzt wieder los sei, stand er mit seinen guten Schuhen bis über die Knöchel im Wasser und hielt den Staubsauger wie ein erlegtes Tier in der Hand. Aus dem Staubsauger tropfte es.
Und während wir vier uns auf der Kellertreppe stauten und ungläubig auf die Bescherung schauten und überlegten, wie so viel Wasser in den Keller gekommen war, ob eine Leitung geplatzt sei, oder die Waschmaschine kaputt gegangen wäre und wie wir die ganze Sauerei wieder aus dem Keller bekommen könnten und ob überhaupt, und ob es Sinn machen würde, die Feuerwehr zu rufen und ob die überhaupt am Heiligen Abend zum Wasserpumpen kommen dürften oder generell nur zu Löscheinsätzen ausrückten, ob wir mit Eimern und Schaufeln etwas ausrichten könnten und ob die Kühltruhe jetzt kaputt wäre, und ob der Inhalt noch zu retten wäre, wenn die Kühltruhe ihren Geist aufgab und wieviel Fußbad eine Waschmaschine vertragen kann, oder der Wäschetrockner und ob das alles jetzt Schrott sei. Und während die Gans im Ofen verbrutzelte und sich unsere Vorstellung eines gelungenen Weihnachtsabend in 15 Zentimeter hoch stehendem Wasser verflüssigte, glückte Bruno zum ersten Mal das Kunststück, mit seinen kleinen Fingern den filigranen Haken umzuklappen und das Türchen von Ginger und Freds Käfig zu öffnen.

Martina Altschäfer hat Bildende Kunst und Germanistik an der Johannes-Gutenberg Universität, Mainz und Freie Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und ist Meisterschülerin von Professor Konrad Klapheck. Im Mirabilis-Verlag sind ihr Erzählband «Brandmeldungen» und 2020 ihr Debütroman «Andrin» erschienen. Martina Altschäfer lebt und arbeitet in Rüsselsheim am Main, Deutschland.

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