Susanne Gregor «Das letzte rote Jahr», FVA

Das Jahr, in dem die Mauern fallen, sich Grenzen unerwartet öffnen, eine Zeitenwende über Europa hereinbricht; 1989. In Žilina, in der tschechoslowakischen Provinz, erleben drei Freundinnen, die in einem Plattenbau seit «Ewigkeiten» übereinander wohnen, wie sich nicht nur im Land, sondern bei der Arbeit, in den Familien, in der Schule, den Köpfen und den Herzen mit dem letzten roten Jahr alles ändert.

Die Ich-Erzählerin Miša und ihre beiden Freundinnen Rita, sie wohnt über ihr und Slavka unten, alle 14 und irgendwo zwischen Kindheit und noch nicht Erwachsensein verloren, erleben, was erst nur gerüchteweise, dann durch ausländische Radiosender und schlussendlich im Fernsehen wie ein langsamer Tsunami über die Länder am eisernen Vorhang hereinbricht. Die Vertrautheit der drei Mädchen, die unverrückbar und uneinnehmbar schien, zerbricht an den Geschehnissen, die nichts so zurücklassen, wie es einst für eine Ewigkeit eingestanzt war. Susanne Gregor schrieb einen Wenderoman aus der Sicht eines Mädchens, das sich mit dem Untergang der sozialistischen Tschechoslowakei aus Freundschaft, Familie, Sicherheit und Kindheit herausgerissen fühlt.

Susanne Gregor beginnt ihren Roman, als Miša in der Gegenwart von der Arbeit in einem Wiener Café und dem anschliessenden Besuch in der Bibliothek mit einem Stapel Bücher nach Hause kommt und den Fernseher einschaltet. In einer Vorabendseifenoper sieht sie im Hintergrund ein Gesicht, das sie kennt. Das Gesicht von Rita. Das Gesicht einer der beiden Freundinnen, die sie nach den Turbulenzen im Spätherbst 1989 aus den Augen verlor. Miša erinnert sich. Erinnert sich an einen Frühling, in dem alles in gewohntem Trott begann; die Streitereien der Eltern, die Besuche der sauberkeitsversessenen Grossmutter, die ewig mittelmässigen Leistungen in der Schule und die Beschwerden der entsprechenden Lehrer.

Aber was wie ein Rumpeln in den Tiefen der Sedimente schon vernehmbar ist, rüttelt auch an der Selbstverständlichkeit einer gewachsenen Freundschaft. Mišas Freundin Rita, die über ihr wohnt, verrennt sich immer mehr als überzeugte sozialistische Pionierin, schwänzt die Schule, weil ihre schichtarbeitenden Eltern fehlende Kontrolle zur Erziehungsmaxime erklären. Und Slavka unter ihr versteigt sich in ihrer schwärmerischen Liebe für den jungen Geschichtslehrer und ihrer Bestimmung als Gymnastiktänzerin. Momente des vertrauten Zusammenseins werden immer seltener, Selbstverständlichkeiten bröckeln.

Miša findet weder in der Schule noch zuhause jene Antworten, die die Gegenwart an Fragen stellt. Allerhöchstens Bücher tun es. Sie erzählen vom Leben, von der Liebe, von den grossen Geheimnissen. Miša weiss, dass hinter der Verstocktheit ihres grossen Bruders, hinter den Streitereien ihrer Eltern und den Andeutungen ihrer Grossmutter Wahrheiten verborgen sind, die nicht aufzuschlüsseln sind. Noch viel weniger, weil sich bis in die Familien mit den Geschehnissen des Jahres 1989 alles zu wandeln beginnt.

Es sind nicht so sehr die Geschehnisse aus der Sicht eines halbwüchsigen Mädchens, die mich an diesem Roman überzeugen, sondern wie Susanne Gregor es schafft, jene Risse in Politik und Gesellschaft, die Umwälzungen jenes Jahres aus der Sicht eines Mädchens zu schildern. Frühling, Sommer, Herbst und Winter in der Provinz, im Schatten des Weltgeschehens. Eine Welt zwischen Kindheit und Erwachsensein, Lichtjahre von beidem entfernt, dem naiven Glück eines Kindes und der geschlossenen Welt der selbst erklärten Erwachsenen. Alles bewegt sich, nichts ist mehr so, wie es einmal war. Die mit Stacheldraht und Schiessbefehl gesicherten Grenzen brechen auf, die Berliner Mauer fällt. Aber die Mauern und Grenzen fallen auch in den Menschen, die sich nicht mehr hinhalten lassen. Susanne Gregor erfühlt den Schmerz zerbrechender Freundschaft, einer Desillusionierung, die in ein ganzes Leben einbricht.

«Das letzte rote Jahr» ist ein Roman des grossen Aufbruchs, solide erzählt mit dem sicheren Gespür für die Feinheiten im Kleinen wie im Grossen. Die fast nüchterne Erzählweise kontrastiert mit den umwälzenden Geschehnissen des letzten roten Jahres, wie immer dünner werdendes Eis zerbricht, Geschehnisse auf der grossen Bühne Familien zerreissen, bis Vaclav Havel, damals eben mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet und eben noch Monate wegen «Rowdytums» im Gefängnis, zum ersten Präsidenten eines neuen Landes wurde.

Susanne Gregor, 1981 in Žilina (Tschechoslowakei) geboren, zog 1990 mit ihrer Familie nach Oberösterreich. Nach dem Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg lehrte sie ein Jahr lang an der University of New Orleans. Seit 2005 wohnt Gregor in Wien, wo sie Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. 2009 gewann sie den Förderpreis des Hohenemser Literaturpreises und 2010 den ersten Preis der exil-literaturpreise. 2011 erschien ihr Debütroman «Kein eigener Ort», 2015 der zweite Roman «Territorien», 2018 folgte der Erzählband «Unter Wasser».

Webseite der Autorin

Zum Beitragsbild: Nach der Lektüre von Vaclav Havels Buch «Angst vor der Freiheit» (Rowohlt) schrieb ist damals in aller Naivität einen Brief an der Adresse der Prager Burg. Zurück kamen zwei von Sachbearbeitern geschriebene Sätze und ein Foto mit der Signatur Vaclav Havels. Seither steht steht die Fotographie auf einem Regal in meiner Bibliothek.

Zoë Jenny «Die Rache der Julia Cane», Plattform Gegenzauber

Es war ein wolkenloser Tag als Julia Cane an ihrem fünfunddreissigsten Geburtstag die Anwaltskanzlei Hemlyn & Partner in Richtung Regent Street verliess. Sie arbeitete als Assistentin in der Abteilung brand protection, die sich darauf spezialisierte, konkurrierende Modefirmen wegen Kopien und Fälschungen auf Höchstsummen zu verklagen. Sie erledigte ihre Arbeit effizient und zur vollen Zufriedenheit ihres Chefs, dessen Zustimmung ihr eine gewisse Befriedigung gab. Darüber hinaus hegte Julia keinerlei berufliche Ambitionen und erfüllte ihre Aufgaben mit einem Mindestmass an innerer Beteiligung, was man als eine gewisse Kälte und Gleichgültigkeit des Charakters hätte auslegen können – ein Eindruck, der aber durch ihre freundliche und zuvorkommende Art wett gemacht wurde. Ihre Mitmenschen und insbesondere ihre Arbeitskollegen empfanden Julia als ausgeglichen und angenehm.

Sie hatte die flachen Schuhe, die sie während der Arbeit getragen hatte, ausgetauscht gegen ein paar schwarze Louboutins, was nicht nur zu einer einer aufrechteren, eleganteren Gangart führte, sondern in ihr eine regelrechte Verwandlung auslöste. Die flachen Schuhe verstaute sie zusammen mit der Person, die sie tagsüber im Büro gespielt hatte, im Schrank und etwas anderes konnte sich in ihr regen, etwas, dass zu der schwarzen Seide und den roten Sohlen passte, die wie ein Signal aufleuchteten. Beim Austauschen der Schuhe hegte sie eine geradezu kindliche Freude, wie beim Betrachten dieser kleinen grauen Muscheln, die man ins Wasser legt und aus denen sich dann auf wundersame Weise Papierblumen entfalten.

In einem Schaufenster musterte sie beim Vorbeigehen ihr Spiegelbild. Sie sah jünger aus, kein Zweifel. Sie fand sogar, dass sie jetzt besser aussah als mit zwanzig, das hatte auch Mike bestätigt, als er einmal ein altes Foto von ihr sah. Was Mike jetzt wohl gerade machte? In Kalifornien war es jetzt früh morgens und am Lake Tahoe der Schnee noch unberührt. So stellte sie es sich jedenfalls vor, der Schnee glitzernd im hellen Morgenlicht. Eines Tages hatte er ihr aus heiterem Himmel mitgeteilt, dass man ihn für drei Monate als Skilehrer an den Lake Tahoe versetze. Alles bei Mike kam immer aus heiterem Himmel. Rätselhaft und unberechbar. Zuvor hatte er manchmal plötzlich nach Marrokko oder Tunesien reisen müssen. Sie konnte nachvollziehen, dass ein MI5 Agent in diese Länder ging, aber zum Lake Tahoe, als Skilehrer?
Das letzte Mal, als sie auf Skype gesprochen hatten, war sie überrascht gewesen, wie entspannt er aussah – braungebrannt und selbstbewusst. Seit er in Amerika war, sah er irgendwie amerikanisch aus.
Sie vermisste die Stunden in seinem Appartement in Vauxhall. Sein Appartement, das ihm vom MI5 zur Verfügung gestellt wurde, war komfortabel und unpersönlich wie ein Hotelzimmer. Im Schlafzimmer waren die Fenster stets geschlossen und die Jalousien runtergelassen. Dort verkrochen sie sich vor dem Lärm der Stadt. Mike blieb ein flüchtiges Teilchen im Gefüge ihres Alltags. Gerne hätte sie ihn öfter getroffen, sich sein Leben übergestreift wie man in ein Hemd schlüpft, das einem nicht gehört, aber dessen Geruch einen glücklich macht. Doch Mike blieb zurückhaltend.

„Es ist besser wir treffen uns nicht zu oft“, hatte er ihr einmal erklärt, als sie im Bett lagen, „wer mit mir privat viel zusammen ist, wird beschattet.“ Er machte eine Pause. „Nur kurzfristig natürlich. Du bist nicht von Interesse.“
„Was heißt beschattet?“, fragte Julia alarmiert.
„Wenn du nicht zu Hause bist, kommen sie in deine Wohnung und platzieren Wanzen.“
„Sie brechen in meine Wohnung ein?“
Im Halbdunkel setzte er sich auf und sah sie an, als ob er ihre Frage bedauere.
„Der MI5 muss nicht einbrechen. Wir haben die Schlüssel zu jedem Haus in diesem Land.“
Er lachte weil sie ihn ungläubig anschaute.
„Wir kommen wie Geister Julia, husch, husch …“, er schnippte mit dem Finger, sprang mit einem Satz vom Bett auf und ging ins Badezimmer. Sie hörte, wie er seine Zähne putzte.
Sie erinnerte sich, wie Mike ihr einmal erzählte, dass er bei der Arbeit auf dem Bildschirm zum Spaß seine Mutter beobachtete, wie sie in ihrem Garten die Wäsche aufhängte.

Als sie an diesem Abend nach Hause kam, durchsuchte Julia ihre Wohnung. Ihr Herz klopfte, als sie die Wände ihres Badezimmers abtastete. Sie holte eine Leiter und durchsuchte die Ecken an der Decke. Sie konnte nichts finden. Eine Woche später traf sie Mike in der Nähe von Thames House, wo er arbeitete. Sie war überrascht wie gross das Gebäude war, burgähnlich und abweisend. Da drinnen sitzen sie also und beobachten ihre eigenen Leute, schauen ihnen beim Sex zu, dachte sie. Haben die nichts Besseres zu tun? Alles ist zu erwarten.

Als Julia in die Regent Street einbog, konnte sie Ian schon von weitem sehen. Er kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Er roch nach Anzug, Aftershave und U-Bahn. Er schimpfte über die Jubilee Line, die wieder mal Probleme hatte, fast wäre er zu spät gekommen. Er musterte sie von oben bis unten. „Well well, birthday girl“, sagte er zustimmend, schob sie ins nächste Taxi und fuhr mit ihr ins West End.

Ian hatte Karten für Chicago. Mitte, dritte Reihe, beste Plätze. Sie schaute auf die Bühne mit halbnackten Frauen hinter Gitterstäben, Gefangene, die irgendwie freikommen mussten. Julia dachte an Mike. Beim Song All that Jazz legte Ian seine Hand auf ihr Knie. Er meinte es gut; ein Musical zu ihrem Geburtstag. Sie streichelte seine Hand, nachlässig wie man ein gutmütiges Tier streichelt, das einem irgendwann zugelaufen ist; während die andere Hand in ihre Handtasche glitt, zu ihrem Mobiltelefon, in der Hoffnung, dass es vibrierte, eine Nachricht von Mike anzeigte. Es bewegte sich nicht.
Vor ihr auf der Bühne hüpften Frauen in Strapsen herum, lasziv und verführerisch, stellvertretend für all die Frauen, die sich jetzt an Mike heranmachten. Wahrscheinlich hatte er schon längst eine andere, überlegte sie, vielleicht kam er auch gar nicht mehr nach London zurück, sondern wurde gleich wieder woanders hingeschickt. Sie ahnte es schon seit geraumer Zeit: Es wäre besser, ihn zu vergessen.

Ian hatte gut gewählt. Das Christophers war eines ihrer Lieblingsrestaurants. Sie mochte die grossen Lampen, die wie Ufos im Raum schwebten. Die beste American Brasserie der Stadt. Er bestellte Steak. Aberdeen Angus, blutig. Sie Maryland Crab cake. Rückblickend wusste sie nicht mehr, wann das Ganze eskalierte – als der Kellner das warme Schokoladentörtchen an den Tisch brachte? Es hatte ziemlich lange gedauert, ganze zwanzig Minuten, weil frisch zubereitet und Ian sagte noch während er mit der Gabelspitze vorsichtig in das Törtchen stach
„schau das ist perfekt, innen ist die Schokolade noch flüssig“, als das Wort fiel, das den Ablauf des Abends jäh veränderte: Mike.
Er wusste von ihrer „Schwärmerei“, wie er es bezeichnete. Was sie mit Mike hatte, qualifizierte sich in seinen Augen noch nicht einmal als Affäre.
„Manchmal ist es als ob ich dir beim Erwachsenwerden zuschaue, Julia.“
Sie kannte diesen mahnenden Unterton.
„Der“ – er sagte nie seinen Namen – „hat nur seine Karriere im Kopf, deshalb ist er ja jetzt auch in Kalifornien und nicht hier bei dir, hm?“ Er schaute sie dabei an, als ob sie etwas schwer von Begriff sei. Er klopfte mit dem Finger auf den Tisch: „Aber ich bin hier, nicht wahr?“
Vielleicht war es der Ton und der insistierend klopfende Finger. Er hätte ihr auch eine Ohrfeige geben können.
Nach dem Motto: Du wirst schon noch vernünftig werden. Dummerchen.
Dabei hätte sie das noch diskutiert, wenn er gewollt hätte, aber dann schoss es aus ihm heraus, so, als wären die Wörter schon lange in ihm gewesen und vorbereitet und kamen nun endlich aus dem Dunkel seiner Gedanken mitten auf den Tisch. Wie akkurat, mit perfider Präzision abgefeuerte Geschosse.
Sie sei ja jetzt nicht mehr fünfundzwanzig sondern fünfundreissig und dass sei ja ein Alter in dem sich eine Frau langsam doch Gedanken machen müsse, über ihre Zukunft.
Beim Wort „Zukunft“ sprang Julia vom Tisch auf und steuerte ohne zu zögern dem Ausgang zu. Die Treppe hinunter sich mit einer Hand am Geländer festhaltend, an der Martinibar vorbei, die jetzt voll besetzt war mit Liebespaaren, eilte auf die Strasse hinaus, wo zu ihrer Erleichterung schon eine ganze Reihe von Taxis wartete. Dort auf dem Rücksitz, in der dunklen Geborgenheit eines Londoner Taxis, erinnerte sie sich, dass sie schon das letzte Wochenende gestritten hatten.

Dabei hatte Ian seine guten Seiten. Er war Analyst bei Lehman Brothers gewesen und zufälligerweise hatte er dort sechs Monate, bevor die Bank vor den Augen der Weltöffentlichkeit kollabierte, die Kündigung eingereicht und zu Morgan Stanley gewechselt. Intuitiv ein guter move, das musste man ihm lassen.
Es war ihm erspart geblieben, wie seine Kollegen den Tisch zu räumen und bemitleidenswert vor laufender Kamera seine Habseligkeiten im Pappkarton wegtragen zu müssen. Mitleid müsse man allerdings keines haben, „denn das sind Typen, die immer wissen, wie es weiter geht“, hatte Ian gesagt und damit zweifellos auch sich selber gemeint: Auf Ian war Verlass.

Ian hatte noch eine Kaffeetasse von Lehman Brothers, ein Gegenstand, der durch die Ereignisse plötzlich eine Bedeutung erhielt, ein Relikt wurde, und er ging damit im Wohnzimmer vor ihr auf und ab, um einen geeigneten Ort für sie zu finden. Sie hatte ihn ausgelacht: Wäre es ein Stück der Berliner Mauer – aber die Kaffeetasse einer bankrott gegangenen Investmentbank?
Doch Ian liess sich nicht beirren, murmelte etwas von „historisch“ und platzierte die Tasse schliesslich auf dem Bücherregal zwischen Ben Goldacre und seinen Pokerbüchern.

Julias Apartment war winzig, aber hatte die richtige Postleitzahl. Am äusseren Rande von Chelsea, an der Grenze zu Fulham, hatte sie das One-bedroom-Apartment gefunden und mit Hilfe ihrer Eltern kaufen können. Schliesslich hatte sie alles getan, was man von ihr verlangte. Das Studium hatte sie durchgestanden ohne genau zu wissen warum. Dafür hatte sie jetzt ein Apartment und einen guten Job.
Sie war erleichtert, als sie mit dem Lift in das oberste Stockwerk fuhr. Zweifellos würde die Immobilie im Wert steigen, eine gute Anlage für die Zukunft. Vom Küchenfenster aus konnte sie in der Ferne die Bürotürme von Canary Wharf sehen. Das Logo von Citigroup – der rote Regenschirm – schwebte leuchtend in der Nacht.
Dort wo auch Ian seine Tage verbrachte, mitten im Financial District, im ewigen Licht von London.
Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, wenn Ian aufstieg bei der Bank und zu jemandem wurde, an dessen Seite sie stolz sein konnte, würde auch er die Abende und Nächte dort verbringen. Dann, davon war Julia überzeugt, würde ein grosses Netz sich über ihr ausbreiten, eine Sicherheit, die sie einlullen und friedlich machen würde.

Julia hatte ihre Schuhe ausgezogen. Die Louboutins lagen auf dem Boden, hingeschleudert, sie wirkten verwegen und gefährlich, etwas, was sie nie sein würde. Sie holte die Zigaretten, die sie in einer Lade versteckt hielt. Julia rauchte sehr selten und dann nur heimlich, allein. Sie nahm einen tiefen Zug und ein leichter Schwindel erfasste sie.
Sie rauchte aus dem Fenster in die Nacht und einen Moment lang wünschte sie, sie könnte etwas ändern, ihre Stelle kündigen, in ein Flugzeug nach Kalifornien steigen, Mike in einem hysterischen Anfall ihre Liebe gestehen und alles verlieren. Etwas Drastisches tun, ein anderer Mensch sein, jemand der keine Angst hatte.
Die Zigarette schmeckte nicht, sie drückte sie aus nach wenigen Zügen. Sie lag im Aschenbecher wie ein gebrochenes Bein.

Sie ignorierte das Klingeln des Telefons. Einen Moment lang gab sie sich dem Machtgefühl hin, es hatte eine geradezu erotisierende Wirkung und sie hörte dem Klingeln zu wie einer Melodie, sehnsüchtig fast. Er rief jetzt abwechselnd auf dem Haustelefon und ihrem Mobiltelefon an, mit verzweifelter Hartnäckigkeit, dachte sie und lächelte. Ian lag ihr zu Füssen. Dann hörte es abrupt auf und sie wusste, es war doch nur die Stille kurz bevor er unten vor der Tür stand und Sturm läutete. Sie würde ihm öffnen, ohne zu zögern. Im Schlafzimmer zog sie die Vorhänge zu und streifte ihre Kleider ab.
Sie würde ihn im Dunkeln ins Schlafzimmer führen und sie würden Sex haben, befreiend, unkompliziert und ohne Worte. Es würde heilsam auf sie wirken, und jedes Gespräch und jeden Streit auslöschen und erübrigen.
Dabei würde sie an Mike denken, jede Sekunde in der er in sie eindrang, mit fest verschlossenen Augen. Die Versöhnung würde gleichzeitig die Rache sein. So wie es zweifellos auch in Zukunft immer sein würde, in den gemeinsamen Ehejahren, die vor ihnen lagen. Dabei würde sie kein schlechtes Gewissen hegen, vielleicht einen Hauch von Mitleid, mit dem sie dann einschlief, während ihr Kopf auf seiner Brust ruhte, die Hand in der Nähe seines Herzens.

Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren. Ihr erster Roman «Das Blütenstaubzimmer» (FVA 1997) wurde in 27 Sprachen übersetzt und zum weltweiten Bestseller. In der Frankfurter Verlagsanstalt sind ihre Romane «Der Ruf des Muschelhorns» (2000) und «Das Portrait» (2007), sowie ihre Erzählungen «Spätestens morgen» (FVA 2013) erschienen. Zoë Jenny lebt heute in Breitenfurt bei Wien.

Anna Galkina «Das neue Leben», Frankfurter Verlagsanstalt

Anna Galkina schreibt auch in ihrem zweiten Roman von der zur jungen Frau gewordenen Nastja. Einer Frau, die man bei der Ausreise von Lettland nach Deutschland nicht fragte, wo und wie sie ihre Zukunft beginnen möchte. Einer nach Leben und Ankunft dürstenden jungen Frau, der es im Land des Überflusses alles andere als leicht gemacht wird, sich wenigstens in den Menschen heimisch zu fühlen. Einem Leben, das immer wieder zu brechen droht, es aber nie tut, weil immer Kraft übrig bleibt, sich neu aufzurichten.

Nastja kommt Anfang der Neunziger als Kontingentflüchling mit ihrer Familie von Lettland nach Deutschland. Weil Nastjas Familie jüdisch ist und eine Einreise nach Deutschland im Rahmen der «Politik der Wiedergutmachung» leicht genug, verabschiedet sich die Familie aus einem unabhängig gewordenen Lettland, das alle russisch stämmigen Bürger zum kollektiven Feindbild erklärte.

«Wenn die Welt einem plötzlich fremd vorkommt, dann erkennt man alles andere auch nicht mehr wieder.»

In Deutschland angekommen, erwartet sie niemand. Man wird von einer gelangweilten Lagerleitung in ein verdrecktes Lagerzimmer mit Etagenbetten gesteckt, in Zimmer, die von allen möglichen und unmöglichen Gästen bewohnt werden. Es beginnt das lange Warten, das Anstehen bei Ämtern, der Spiessrutenlauf, das Ausgesetzt-sein.

«Ich bin LOS! StaatenLOS, arbeitsLOS, obdachLOS, sprachLOS!»

Man ist gezwungen, sich mit allerlei anderen Einwanderern mehr oder weniger zu arrangieren, auf engstem Raum, in einer Gemeinschaftsküche, Wand an Wand, immer in der Hoffnung, irgendwann einen unbegrenzten Aufenthalt zu erwirken, eine eigene Wohnung zu bekommen, permanent ernüchtert, weil von dem, was man sich erhofft oder einem in Aussicht gestellt wird, nicht viel oder gar nichts bleibt.
Aber Nastja lässt sich nicht entmutigen, schöpft Kraft, wo andere längst resignieren. Selbst in der Einsicht, dass sie letztlich nur auf sich selbst bauen kann. Da hilft niemand, weder der Stiefvater, der an fünf Tagen der Musterflüchtling ist und an den Wochenenden im Alkohol ertrinkt, noch die Mutter, die sich an ihren Traum klammert, dass Kultur die Völker verbinde. Weder die Grossmutter, die schwerhörig auf einem Stuhl das Geschehen auf dem Hof verfolgt, noch Grischa, der angebliche Arzt und Lagermitbewohner, der Teppiche sammelt und in der Gemeinschaftsküche Monologe über Weltreligionen und Ernährungswissenschaft hält und eigentlich bloss auf Nastja hofft. Dort in der Gemeinschaftsküche brodeln, dampfen und kochen nicht nur Pfannen und Töpfe. Nicht einmal von ihrem einzigen wirklichen Freund Max, mit dem sie zuerst das Lager, dann auch die Stadt erobert, irgendwann den Zwischenraum zwischen ihnen und später sogar die Liebe, erfährt sie Beständigkeit, das, was Freundschaft oder Liebe ausmachen könnte.

«Es gibt kein Entkommen, und verstecken kann ich mich auch nirgendwo. Gefangen. Ausgeliefert. Nackt.»

Der Ort, der das Ziel einer Flüchlingsfamilie war, wird selbst nach Jahren immer fremder. Hass steigt auf. Nicht nur dort, wo er Nastja in Ämtern oder bei Gelegenheitsjobs begegnet, sondern auch bei ihr selbst. Ein Hass, der sich einfrisst.
Die Flüchtlinge warten, stehen und schauen. Oder sie gehen in die Offensive, bemühen sich mit den entsprechenden Bescheinigungen um Arbeit, bei der ihnen unverblümt klar gemacht wird, was sie immer bleiben werden in einer Welt, die diametral von der entfernt scheint, in der ich auf meinem Sofa zuhause liegend den Roman lese.

«Ich will nach Hause, aber ich habe kein Zuhause mehr. Es scheint, als wäre das Dach undicht. Oder sind das etwa Tränen?»

Anna Galkina verfällt weder der Anklage noch dem Klischee. Ihr Erzählen ist erfrischend und direkt, durchdrungen von ungeheurer Kraft und nie versiegendem Humor. Kein Selbstmitleid, keine Erklärungsversuche. Anna Galkina erzählt von einer jungen Frau, die sich nich ergibt, nicht aufgibt. Über die Ernüchterung, das übermässige Erwähne aus Träumen. Sie erzählt auch von der Willkür der Ämter, der Kalte des Wartens und der Unmöglichkeit, sein Leben wirklich in eigene Hände zu nehmen. Von der Konfrontation zu Zeiten Helmut Kohls mit dem blanken Hass, dümmlichem Volksbewusstsein und der Angst, irgendwer schneide jenes Stück Glück kleiner, auf das man ein Recht zu haben scheint.

Anna Galkina, geboren und aufgewachsen in Moskau, kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Künstlerin in Bonn. 
2016 erschien ihr Debütroman «Das kalte Licht der fernen Sterne«» in der FVA, 2017 folgte ihr zweiter Roman «Das neue Leben».

Kurzrezension von «Das kalte Licht der fernen Sterne» auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Fee Katrin Kanzler mit „Sterben lernen“ in St. Gallen

Es war ein wunderschöner Abend mit einer bezaubernden Fee Katrin Kanzler und ihrem Roman „Sterben lernen“. Auch wenn sich der Andrang zur Lesung in Grenzen hielt und sich die St. Galler mit grosser Literatur kaum in die Hauptpost locken liessen, war die Begegnung mit der Autorin ein ganz besoneres Erlebnis.

Ein grosses Dankeschön an die GdSL St. Gallen, an Laura Vogt, Rebecca C. Schnyder, Tamara Hostettler und Richi Küttel.

„In einer natürlich unprätentiösen Art las Fee Katrin Kanzler aus ihrem neuen Roman „Sterben lernen“. Durch Kanzlers Stimme wurden die wunderbar ausgefeilten Sprachräume spürbar, jeder Winkel kostbar. Man vergass beinahe die spannungsvoll aufgebaute Handlung des Romans. Mit grosser Leidenschaft moderierte Gallus Frei und schenkte damit der Autorin viel Raum für berührende Ausführungen um die Entstehung ihres Werkes und den BesucherInnen vertiefte Einblicke in geistreiche Lesarten des vorgestellten Buches. Eine unmittelbare Begegnung mit der Autorin war mir vergönnt. Ein gelungener Abend mit nachhaltiger Wirkung.“ Philipp Frei

Auch Fee Katrin Kanzler wird künftig die Galerie im Raum für Literatur zieren.

„Ein wortreicher, schöner Abend. Anregend!“ Laura Vogt

«Wenn eine Lesung mit so viel Hingabe und Begeisterung für das Buch moderiert wird, ist es eine Freude für Autorin, Publikum und Veranstalter gleichermassen.» Rebecca C. Schnyder

„Fee Katrin Kanzler liest in getragenem Tempo und schafft so rasch die nötige Intimität zwischen Text und Publikum. Wer sich dem bildstarken Redefluss hingibt, wird davongetragen, gelegentlich aber auch sprachlich überrumpelt oder von halbversteckten intertextuellen Anspielungen aus der Spur geworfen.“ Daniel Ammann

Fotos: Tamara Hostettler, Philipp Frei und Werner Biegger

Fee Katrin Kanzler liest, Gallus Frei-Tomic moderiert

am 30. November, 19 Uhr, Raum für Literatur,
Hauptpost / St. Gallen, St. Leonhardstrasse 40 / 3. Stock,
Eintritt 15 CHF / ermässigt 10 CHF / GdSL-Mitglieder gratis

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Webseite der Autorin

Bodo Kirchhoff „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, Frankfurter Verlagsanstalt

In der Reihe „Grosse Bücher – grosse Autoren“ diskutierte die Literaturkritikerin Pia Reinacher in einem Hörsaal der Uni Zürich mit dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff über seine Bücher, das Schreiben, das Leben als Schriftsteller und was eine Einladung zu einer Kreuzfahrt ausrichten kann.

Das Schiff ist riesig. Während sich im Innenhof die Jugend tummelt, sammelt sich das reife Mittelalter in den Gängen darüber. Die Hochtischchen mit Knabberzeug und Flüssigem gehören nicht dazu. Studentinnen und Studenten auch nicht. Es schein schwierig zu sein, angehende GermanistInnen mit ins Boot zu locken. Selbst dann, wenn sich einer der ganz Grossen von Frankfurt nach Zürich bemüht, um im Bauch des grossen Schiffes von seiner Arbeit zu erzählen.

Während Bodo Kirchhoff seit Jahren an seinen grossen Stoffen arbeitet, auch jetzt wieder an einem Roman über seine Kindheit und Jugend, über Liebe, deren Verstrickungen, über die Macht der Sexualität, waren „Widerfahrnis“ und „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“ willkommene Unterbrechungen, wie der Autor erzählte. Bodo Kirchhoff bekam wirklich eine Einladung zu einer solchen Kreuzfahrt durch die Karibik „bei freier Verpflegung sowie freien Getränken an jeder Bar unter Bedingung mehrerer Lesungen aus meinem Werk, jewils zur Prime Time.“ Ein Sprachlieferant, wie es im Kleingedruckten hiess. Statt kurz und knapp zu antworten wurde daraus ein Buch. Ein an Frau Faber-Eschenbach gerichtetes Schreiben, die Kontaktperson der Reederei, die er sich in vor einem grossen Fenster mit Blick auf den Hamburger Hafen vorstellte. Bodo Kirchhoff lässt sich gerne verführen, von Namen, Kleidern, Schuhen, dem Rauch von Zigaretten, von Nebensätzen und Nebensächlichkeiten, um sie dann virtuos und gekonnt in seine Schöpfungen einzuflechten. Ein Roman berge viel gestautes Leben. Romane, Novellen und Erzählungen seien aber nicht einfach nacherzähltes Leben, sondern Transformiertes, Neugeschaffenes. Das Übersetzen von Leben in Sprache ist Schreiben. So witzig sein Argumentieren in “Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, so glasklar die Sprache. Und wenn Bodo Kirchhoff dann auch noch liest, scheint sich seine Sprache wie ein Cumulus aufzuwölben. Sein Text ist neben all der Sprachkunst auch eine Kampfschrift gegen jede Form der Oberflächlichkeit. Das Kreuzfahrtschiff Metapher und Spielplatz zugleich, voller Seitenhiebe, literarischer Querschläger und satten Satzmäandern.

Aber vielleicht ist so eine Lesung in der Universität, die durch Bologna- und andere Reformen von Entdeckerlust und konstruktiver Unentschlossenheit befreit wurde, genauso wie eine Lesung auf einer Kreuzfahrt von A nach A. Vor der Lesung lange Buffets, Bauchredner und Schlagersterne zur Abendunterhaltung, Flaschengeister noch und noch und die Hitze des Tages, die auskühlen muss. Literatur? Nein danke? Schade um die verpasste Gelegenheit. Bodo Kirchhoff ist ein hinreissender Erzähler.

Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane »Die Liebe in groben Zügen« (2012) und »Verlangen und Melancholie« (2014). Im Herbst 2016 wurde Kirchhoff für seine Novelle »Widerfahrnis« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Buchrezension zu „Widerfahrnis“ auf literaturblatt.ch

Fee Katrin Kanzler «Sterben lernen», Frankfurter Verlagsanstalt

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Webseite der Autorin

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Deutscher Buchpreis 2016 für «Widerfahrnis» von Bodo Kirchhoff

Ich gratuliere dem Preisträger des Deutschen Buchpreises 2016 Bodo Kirchhoff!

Bereits im September lobte ich seinen Roman:

«Erinnerungen sollen wie Abschnitte in einem Handbuch sein, nur dazu dienen, in bestimmen Situationen die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge zu sagen, aber es sind Einflüsterungen, die einen betören oder mit Schwert erfüllen oder beides.»

Reither ist 64, hat seinen Verlag samt Buchhandlung liquidiert und seiner Wohnung mitten in Frankfurt den Rücken gekehrt. Er versucht Ruhe in sein aufgewühltes Leben zu bringen, nach der «Scheidung von seiner Lebensaufgabe», an einem stillen Ort im April mit Sicht auf den letzten Schnee. «Er hatte als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab.» Bis es an der Tür zu seiner neuen Wohnung klingelt und Reither mit dem Drücken der Klinke weiss, dass danach alles in ein anderes Licht getaucht sein wird. Sie heisst Leonie Palm, die vor seiner Tür steht und genau wie er den Kampf aufgegeben hat, sie mit Hüten, er mit Büchern. Mit der Frage «Was kann ich für sie tun?» beginnt das «Widerfahrnis», ein eigenartiges Roadmovie, denn sie besteigen das eingeschneite Auto der Frau, um gemeinsam in den Morgen zu fahren, aufzubrechen und bleiben sitzen in dem mobilen Arrangement, das einem ungewollt zu Nähe zwingt. Und weil die ZeitCover-184x300 lange wird und die beiden irgendwann längst über den Morgen hinausgefahren sind, beginnen beide zu fragen und zu erzählen, nicht zuletzt darum, weil beide alleine geblieben sind, nicht nur an Menschen, sondern auch in der Welt. Reither wird in ungewohnter Heftigkeit mit seiner und der Vergangenheit seiner Begleiterin konfrontiert, erst recht, als sich ihnen nach einer turbulenten Fahrt bis nach Sizilien ein Mädchen in einem roten Fetzenkleid anschliesst. Ein Mädchen, das nicht spricht, keinen Namen nennt, etwas will, was sich nur erahnen lässt und zum Katalysator wird, bis die zaghaft aufgeweichte Situation zu eskalieren beginnt.

Bodo Kirchhoff schreibt frei aller Sentimentalität über das Zusammenkommen zweier in die Jahre Gekommener, über das Hereinbrechen von Gegenwart und Vergangenheit, über die tiefen Schnitte ins Leben, die wohl vernarben aber nie verheilen, über zwei, «die Pleite gemacht haben, eben nicht nur mit Büchern und Hüten». Bodo Kirchhoff tut dies so kunstvoll, dass es mich als Leser zuweilen überrascht, mit welcher Leichtigkeit er schwierige, nicht zu beantwortende Fragen des Lebens in den Text verwebt. Er erzählt, als wäre die Novelle die Analyse des Geschriebenen selbst und macht den Text noch um eine Facette reicher. Eine Novelle, der alles birgt und doch nicht überbordet; von der zaghaften Liebesgeschichte bis zur Begegnung mit dem Flüchtlingselend in Sizilien. Reither wird gerettet, gerettet nicht durch Liebe, nicht durch den Aufbruch, sondern vom Faden eines afrikanischen Fischers.
Bodo Kirchhoff gelingt, was vielen misslingt. Er dringt nicht ein, weder in Personen, Geschichten oder Wahrnehmungen. Bodo Kirchhoffs Schreiben erzeugt Tiefe durch Präzision und Nähe. Nichts wirkt konstruiert und zurechtgebogen. Aber nach der Lektüre bin ich reicher!

(c) Claus Setzer
(c) Claus Setzer

Geboren 1948 in Hamburg, beschult in einem christlichen Internat am Bodensee, Ausbilder beim Militär und Eisverkäufer in Amerika. Ab 1971 studierte er Heilpädagogik in Frankfurt am Main. 1979 erschien seine erste Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag. Viele seiner zahlreichen Romane beschäftigen sich mit der Organisation von Intimität, etwa der Freundschaftsroman «Eros und Asche» oder die Paar- und Liebesromane «Wo das Meer beginnt» und zuletzt sein großartiges Meisterwerk «Die Liebe in groben Zügen». Ein Roman unter anderem über «die unstillbare Sehnsucht nach Liebe: die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam», den ein Kritiker als ein Liebesbrevier für Fortgeschrittene bezeichnete. Im Herbst 2014 erschien sein Roman «Verlangen und Melancholie» und wurde von der Kritik einhellig als großes Werk gefeiert.

«Geschriebenes ist die einzige Wahrheit, die sich korrigieren lässt.»

Bodo Kirchhoff «Widerfahrnis», Frankfurter Verlagsanstalt

«Erinnerungen sollen wie Abschnitte in einem Handbuch sein, nur dazu dienen, in bestimmen Situationen die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge zu sagen, aber es sind Einflüsterungen, die einen betören oder mit Schwert erfüllen oder beides.»

Reither ist 64, hat seinen Verlag samt Buchhandlung liquidiert und seiner Wohnung mitten in Frankfurt den Rücken gekehrt. Er versucht Ruhe in sein aufgewühltes Leben zu bringen, nach der «Scheidung von seiner Lebensaufgabe», an einem stillen Ort im April mit Sicht auf den letzten Schnee. «Er hatte als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab.» Bis es an der Tür zu seiner neuen Wohnung klingelt und Reither mit dem Drücken der Klinke weiss, dass danach alles in ein anderes Licht getaucht sein wird. Sie heisst Leonie Palm, die vor seiner Tür steht und genau wie er den Kampf aufgegeben hat, sie mit Hüten, er mit Büchern. Mit der Frage «Was kann ich für sie tun?» beginnt das «Widerfahrnis», ein eigenartiges Roadmovie, denn sie besteigen das eingeschneite Auto der Frau, um gemeinsam in den Morgen zu fahren, aufzubrechen und bleiben sitzen in dem mobilen Arrangement, das einem ungewollt zu Nähe zwingt. Und weil die Zeit lange wird und die beiden irgendwann längst über den Morgen hinausgefahren sind, beginnen beide zu fragen und zu erzählen, nicht zuletzt darum, weil beide alleine geblieben sind, nicht nur an Menschen, sondern auch in der Welt. Reither wird in ungewohnter Heftigkeit mit seiner und der Vergangenheit seiner Begleiterin konfrontiert, erst recht, als sich ihnen nach einer turbulenten Fahrt bis nach Sizilien ein Mädchen in einem roten Fetzenkleid anschliesst. Ein Mädchen, das nicht spricht, keinen Namen nennt, etwas will, was sich nur erahnen lässt und zum Katalysator wird, bis die zaghaft aufgeweichte Situation zu eskalieren beginnt.
Cover-184x300Bodo Kirchhoff schreibt frei aller Sentimentalität über das Zusammenkommen zweier in die Jahre Gekommener, über das Hereinbrechen von Gegenwart und Vergangenheit, über die tiefen Schnitte ins Leben, die wohl vernarben aber nie verheilen, über zwei, «die Pleite gemacht haben, eben nicht nur mit Büchern und Hüten». Bodo Kirchhoff tut dies so kunstvoll, dass es mich als Leser zuweilen überrascht, mit welcher Leichtigkeit er schwierige, nicht zu beantwortende Fragen des Lebens in den Text verwebt. Er erzählt, als wäre die Novelle die Analyse des Geschriebenen selbst und macht den Text noch um eine Facette reicher. Eine Novelle, der alles birgt und doch nicht überbordet; von der zaghaften Liebesgeschichte bis zur Begegnung mit dem Flüchtlingselend in Sizilien. Reither wird gerettet, gerettet nicht durch Liebe, nicht durch den Aufbruch, sondern vom Faden eines afrikanischen Fischers.
Bodo Kirchhoff gelingt, was vielen misslingt. Er dringt nicht ein, weder in Personen, Geschichten oder Wahrnehmungen. Bodo Kirchhoffs Schreiben erzeugt Tiefe durch Präzision und Nähe. Nichts wirkt konstruiert und zurechtgebogen. Aber nach der Lektüre bin ich reicher!

JPEG_1394_140528Geboren 1948 in Hamburg, beschult in einem christlichen Internat am Bodensee, Ausbilder beim Militär und Eisverkäufer in Amerika. Ab 1971 studierte er Heilpädagogik in Frankfurt am Main. 1979 erschien seine erste Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag. Viele seiner zahlreichen Romane beschäftigen sich mit der Organisation von Intimität, etwa der Freundschaftsroman «Eros und Asche» oder die Paar- und Liebesromane «Wo das Meer beginnt» und zuletzt sein großartiges Meisterwerk «Die Liebe in groben Zügen». Ein Roman unter anderem über «die unstillbare Sehnsucht nach Liebe: die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam», den ein Kritiker als ein Liebesbrevier für Fortgeschrittene bezeichnete. Im Herbst 2014 erschien sein Roman «Verlangen und Melancholie» und wurde von der Kritik einhellig als großes Werk gefeiert.

«Geschriebenes ist die einzige Wahrheit, die sich korrigieren lässt.»

Mit «Widerfahrnis» gewinnt Bodo Kirchhoff den Deutschen Buchpreis 2016. Ich gratuliere!

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(Titelbild: Sandra Kottonau)