Köcherbäume sind in Namibia heimisch, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, und gedeihen nur schwer in einem Dresdner Villenviertel, schon gar nicht, wenn sie dort links und rechts des Eingangs einbetoniert sind, mit Chemikalien vor dem Verrotten bewahrt, als Erinnerung an eine Zeit, die man eigentlich lieber vergessen lassen will.
Iva kehrt in dieses Haus zurück. Ein Haus, das leer geworden ist und bloss noch von einer polnischen Haushälterin bewohnt wird. Ivas Vater liegt im Krankenhaus, angeschlossen an lebenserhaltende Maschinen, ohne Chance, je wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Und weil es das Ende von Evas Vater sein wird, weil die Mutter das Haus längst fluchtartig verlassen hatte und Evas Geschwister mit dem Gemäuer und dem alten Mann darin nichts mehr zu tun haben wollten, tritt sie ein in ein Leben, in das sie eigentlich nicht mehr zurückkehren will. Warum nicht zuhause bei ihrem Mann Roy und ihrem Jungen Shlomo bleiben? Warum nicht einfach alles seinen Gang nehmen lassen? Warum ein Leben unterbrechen, um in ein Leben zurückzukehren, das man einst mit wehenden Fahnen zurückliess?

Amanda Lasker-Berlin nimmt mich an der Hand und mit in dieses Haus, hinter Türen, vorbei an Wänden, die mit ausgestopften Tierköpfen verhängt sind, in Zimmer, aus denen das Leben längst entwichen ist, in denen aber unverdaute Erinnerungen sabbern. Erinnerungen an Evas Grossmutter, die man zusammen mit den beiden Köcherbäumen aus Namibia in Deutschland einsetzen wollte, nachdem sie als Kind das Land fluchtartig verlassen musste. Ihr Land, das Land, das die Wilden ihr genommen hatten, in dem Deutschland als Kolonialmacht zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Aufstand der einheimischen schwarzen Völker brutal niederschlug, Völkermord beging. Eine Grossmutter, die mit ihrem Mann während der Naziherrschaft zu den Parteibonzen gehörte und sich schamlos am Reichtum der verschleppten und ermordeten Juden bereicherte. Erinnerungen an eine Mutter, die einst mitten in der Nacht mit blutendem Gesicht in Evas Zimmer stand und von Iva eine Entscheidung forderte; mitkommen oder bleiben, jetzt gleich.
Iva fährt von ihrer Familie weg, weg von ihrem Mann und ihrem kleinen Kind. Weg von Roy, der aus einer so ganz anderen Familie stammt als sie selbst, dessen Vater in einer schmuddeligen Wohnung in einem Hochhaus Akten, Fotos und Berichte sammelt, die unter anderem die verbrecherische Vergangenheit Ivas Familie dokumentieren sollen. Shlomo, Iva und Roys Junge heisst nicht aus einer Laune heraus Shlomo. Ein Name aus der Geschichte Roys Familie, ein Name, der „Friede“ bedeutet. Sie fährt zum Haus ihrer Familie, in der sich das Schweigen schon seit Jahrzehnten eingenistet hat, in der man nicht nur Köcherbäume tot einbetoniert, sondern auch die Geschichte und Geschichten, die dahinter stecken. Auch die Geschichte Ivas Geschwister Jette und Alexander. Jette, die dort wo die Köcherbäume herkommen nach Spuren sucht und Alexander, der am Gewicht seines Vater zerbrochen ist und erst zurück ins Haus seines Vaters kommt, als dessen Sterben absehbar und unausweichlich ist.
Was heisst es, als Kind aus einer Familie zu stammen, die sich in der Vergangenheit schuldig gemacht hatte? Ivan sitzt im Krankenhaus am Bett ihres sterbenden Vaters. Von ihm sind keine Antworten mehr zu erwarten. Aber selbst wenn er stirbt, wird das, was sich über Generationen an blutigen Spuren nicht leugnen lässt, weiter wirken, wie radioaktiver Abfall.
Amanda Laker-Berlin erzählt behutsam und unspektakulär. Ohne dass die Geschichte aufzublasen wird, begleite ich eine Frau, die ringt und sucht, die sich dem stellt, was hinter Fassaden verborgen bleiben soll. Der Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika, die Schoah, der Nationalsozialismus, Themen die im Roman „Iva atmet“ nicht bloss einfach Kulisse und Katalysator sind, sondern der Grund, auf dem das Haus aufgebaut ist. Iva atmet schwer!
Interview
Auf dem Umschlag ihres Buches ist ein Köcherbaum abgebildet. Aber umgekehrt, sodass er aussieht wie ein Lungengeflecht. Ihr Roman heisst „Iva atmet“. Iva hat immer einen Asthma-spray bei sich. Es ist nicht nur der Stress, der ihr den Atem nimmt. Das Verschwiegene, Unausgesprochene, letztlich das Lügen nimmt ihr den Atem. Was nimmt Ihnen den Atem?
Den Atem nimmt es mir, wenn ich die starken Ausprägungen des Klimawandels wahrnehme und dann überlege, wie stark sich die Lebensweise verändern muss. Die Überflutungen in Deutschland diesen Sommer, haben allen vor Augen geführt, dass die Katastrophen auch uns treffen und in Zukunft weiter treffen werden. Mich beschäftigt, wie es möglich ist, Krisen und Veränderungen als Gesellschaft zu meistern, ohne das es zu Radikalsierungen und Ausschlussmechanismen kommt. Auch die Coronakrise hat mir teilweise den Atem genommen. Sie schon jetzt so viele Verwüstungen in der Kulturbranche hinterlassen. Und ich wünsche, dass vieles wieder- oder neuhergestellt werden kann.
Die Grossmutter malte. Sie malte die südwestafrikanische Idylle. Sie selbst malten auch und erklären in einem Interview, dass das Schreiben Ihnen mehr Wege in die Tiefe gebe, das Malen durch die Ränder der Leinwand begrenzt sei. Sie schreiben auch Theater. Dort ist das Geschehen durch die Möglichkeiten der Bühne begrenzt. Steht beim Malen wie beim Schreiben nicht über allem die Frage, ob man Tiefe will oder lieber an der Idylle koloriert?
Ich glaube eigentlich nicht, dass Geschehen durch technische Möglichkeiten auf der Bühne oder durch Grenzen von Leinwänden beschränkt ist. Die Bildenden Kunst, das Theater und die Literatur können sich immer so weit ausbreiten, wie die Phantasie und die Bereitschaft es zu lassen. Sie sind schliesslich vermittelnde Elemente zwischen Rezipierenden und Agierenden. Ich wünsche mir oft mehr Bereitschaft sich auf Kunstwerke einzulassen und zu erforschen, wie viel sich in ihnen verbirgt. Für mich persönlich ist das Schreiben der künstlerische Weg, durch den ich mich am kraftvollsten in die Tiefe sprengen kann.
Wahrscheinlich gibt es in jeder Familie Geheimnisse. Und auch Geheimnisse, über die man nicht spricht. Aber Geschehnisse, die gar keine Geheimnisse sind, aber mit Bedacht als solche behandelt werden, weil man genau weiss, wie viel Gefahr von ihnen droht, sind die schlimmsten. Geheimnis aufbrechen um jeden Preis?
Das ist schwierig. Ich denke, dass jeder Mensch Geheimnisse haben muss. Sie sind schliesslich auch Schätze. Wenn diese Geheimnisse, aber andere Menschen direkt tangieren, halte ich einen offenen Umgang für wichtig. Gerade in einer Familie wie der von Iva. Dort wird die Vergangenheit ja nicht vollständig verschwiegen. Die NS-Zeit wird zelebriert und die Ideologie weitergetragen. Was in dieser nicht stattfindet ist eine Reflektion und das Überdenken der eigenen Perspektive. Ich halte das Reflektieren von Zusammenhängen und Diskutieren von Ereignissen für essenziell.
Roy, Ivas Mann, sagt ihr einmal: „Seitdem ich dich kenne, bist du auf der Flucht, Iva.“ Dabei ist der Mensch mit seinem aufrechten, aber mit dem Alter immer schwerfälligeren Gang ein denkbar schlechtes „Fluchttier“. Therapien alles Art florieren, weil wir uns von alleine dem nicht stellen, wovor wir fliehen. Ist Schreiben eine Gegenbewegung zur Flucht?
Ja, ich denke schon. Schreiben und auch Lesen sind Auseinandersetzungen. Sie können die Angst, das Unbehagen vor Themen nehmen. Bei mir beobachte ich oft, dass ich mich mit Thematiken beschäftige, die mir auf unterschiedlichste Weisen Angst machen. Wie in meinem ersten Roman „Elijas Lied“ die Ideologie der Neuen Rechten. Beschäftigung und das Schreiben mit solchen Themen hilft einen vernünftigen Blick auf Veränderungen und Entwicklungen zu bekommen. Gleichzeitig löst es natürlich keine gesellschaftlichen Probleme, aber erschafft Denkräume, die Anstöße geben können.
Wie sind sie auf den Völkermord im heutigen Namibia gestossen? Kein Thema, das in der Deutschen Literatur einen gossen Hallraum hätte!
Das stimmt. Und das hat mich verblüfft. Ich habe mehr oder weniger zufällig von dem Genozid erfahren und mich erschrocken, wie wenig ich darüber wusste. In meiner Schulzeit war die deutsche Kolonialgeschichte etwas kaum Erwähntes. Auch in meinem Studium war sie kein Thema und das hat mich sehr irritiert. Deshalb habe ich angefangen zu recherchieren. Ich denke, dass zu diesem Thema noch viel geschrieben, gedacht und gesagt werden muss. Und das vor allem die Opferverbände mehr Gehör bekommen müssen.
Amanda Lasker-Berlin, geboren 1994 in Essen, inszenierte mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück. Nach einem Studium der Freien Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert sie Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Ihre Theaterstücke und Prosa wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, «Elijas Lied» wurde mit dem Debütpreis der lit.COLOGNE 2020 ausgezeichnet und für Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur nominiert. Sie lebt in Frankfurt am Main.
Beitragsfoto © Nora Battenberg-Cartwright




verraten hat, der ihr nicht zur Seite stand, als andere Männer ihre Existenz vernichteten, so radikal, dass es nur die Flucht gab.
einem Stapel Bücher nach Hause kommt und den Fernseher einschaltet. In einer Vorabendseifenoper sieht sie im Hintergrund ein Gesicht, das sie kennt. Das Gesicht von Rita. Das Gesicht einer der beiden Freundinnen, die sie nach den Turbulenzen im Spätherbst 1989 aus den Augen verlor. Miša erinnert sich. Erinnert sich an einen Frühling, in dem alles in gewohntem Trott begann; die Streitereien der Eltern, die Besuche der sauberkeitsversessenen Grossmutter, die ewig mittelmässigen Leistungen in der Schule und die Beschwerden der entsprechenden Lehrer.
Susanne Gregor, 1981 in Žilina (Tschechoslowakei) geboren, zog 1990 mit ihrer Familie nach Oberösterreich. Nach dem Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg lehrte sie ein Jahr lang an der University of New Orleans. Seit 2005 wohnt Gregor in Wien, wo sie Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. 2009 gewann sie den Förderpreis des Hohenemser Literaturpreises und 2010 den ersten Preis der exil-literaturpreise. 2011 erschien ihr Debütroman «Kein eigener Ort», 2015 der zweite Roman «Territorien», 2018 folgte der Erzählband «Unter Wasser».
Zum Beitragsbild: Nach der Lektüre von Vaclav Havels Buch «Angst vor der Freiheit» (Rowohlt) schrieb ist damals in aller Naivität einen Brief an der Adresse der Prager Burg. Zurück kamen zwei von Sachbearbeitern geschriebene Sätze und ein Foto mit der Signatur Vaclav Havels. Seither steht steht die Fotographie auf einem Regal in meiner Bibliothek.
Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren. Ihr erster Roman «Das Blütenstaubzimmer» (FVA 1997) wurde in 27 Sprachen übersetzt und zum weltweiten Bestseller. In der Frankfurter Verlagsanstalt sind ihre Romane «Der Ruf des Muschelhorns» (2000) und «Das Portrait» (2007), sowie ihre Erzählungen «Spätestens morgen» (FVA 2013) erschienen. Zoë Jenny lebt heute in Breitenfurt bei Wien.
dass sie letztlich nur auf sich selbst bauen kann. Da hilft niemand, weder der Stiefvater, der an fünf Tagen der Musterflüchtling ist und an den Wochenenden im Alkohol ertrinkt, noch die Mutter, die sich an ihren Traum klammert, dass Kultur die Völker verbinde. Weder die Grossmutter, die schwerhörig auf einem Stuhl das Geschehen auf dem Hof verfolgt, noch Grischa, der angebliche Arzt und Lagermitbewohner, der Teppiche sammelt und in der Gemeinschaftsküche Monologe über Weltreligionen und Ernährungswissenschaft hält und eigentlich bloss auf Nastja hofft. Dort in der Gemeinschaftsküche brodeln, dampfen und kochen nicht nur Pfannen und Töpfe. Nicht einmal von ihrem einzigen wirklichen Freund Max, mit dem sie zuerst das Lager, dann auch die Stadt erobert, irgendwann den Zwischenraum zwischen ihnen und später sogar die Liebe, erfährt sie Beständigkeit, das, was Freundschaft oder Liebe ausmachen könnte.
Anna Galkina, geboren und aufgewachsen in Moskau, kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Künstlerin in Bonn.
2016 erschien ihr Debütroman «Das kalte Licht der fernen Sterne«» in der FVA, 2017 folgte ihr zweiter Roman «Das neue Leben».




einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.
Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Schreiben, die Kontaktperson der Reederei, die er sich in vor einem grossen Fenster mit Blick auf den Hamburger Hafen vorstellte. Bodo Kirchhoff lässt sich gerne verführen, von Namen, Kleidern, Schuhen, dem Rauch von Zigaretten, von Nebensätzen und Nebensächlichkeiten, um sie dann virtuos und gekonnt in seine Schöpfungen einzuflechten. Ein Roman berge viel gestautes Leben. Romane, Novellen und Erzählungen seien aber nicht einfach nacherzähltes Leben, sondern Transformiertes, Neugeschaffenes. Das Übersetzen von Leben in Sprache ist Schreiben. So witzig sein Argumentieren in “Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“, so glasklar die Sprache. Und wenn Bodo Kirchhoff dann auch noch liest, scheint sich seine Sprache wie ein Cumulus aufzuwölben. Sein Text ist neben all der Sprachkunst auch eine Kampfschrift gegen jede Form der Oberflächlichkeit. Das Kreuzfahrtschiff Metapher und Spielplatz zugleich, voller Seitenhiebe, literarischer Querschläger und satten Satzmäandern.
Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane »Die Liebe in groben Zügen« (2012) und »Verlangen und Melancholie« (2014). Im Herbst 2016 wurde Kirchhoff für seine Novelle »Widerfahrnis« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.