Andri Perl «Im Berg ist ein Leuchten», Elster & Salis

Sulvaschin ist ein Ort im Kanton Graubünden, ein fiktiver Ort in einem Bergtal. Lisa, die Erzählerin in Andri Perls Erzählung kehrt auf Forschungsreise zurück an den Ort ihrer Kindheit, an den Ort ihrer Familie, an den Ort, an dem Ihr Vater verschwand und sich über sein Verschwinden ein Mantel des Schweigens legte.

Es gibt Bücher, die sich ganz leise gebärden. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Andri Perl Musiker. Seine Erzählung „Im Berg ist ein Leuchten“ ist ein leises Stück Literatur, eine Erzählung, die nicht nur in ihrem schönen Titel ein Leuchten zurücklässt. “Im Berg ist ein Leuchten“ ist eine Liebesgeschichte an einen Ort, ein Dorf, ein Tal, auch an die Menschen, ihre Besonderheiten, die fest mit den Besonderheiten des Tals, der Gegend, der Topographie verbunden sind. 

Sulvaschin hat eine lange Geschichte, eine Geschichte, die mit dem Berg, dem Stein verbunden ist, denn über Jahrhunderte versprach der Berg Reichtum. Man glaubte, im Bergbau dem Fels jene Geheimnisse entlocken zu können, die dem Tal weit über die Grenzen Bedeutung geschenkt hätten. Ein Unternehmen, das immer wieder scheiterte, im Berg aber viele Narben hinterliess, Löcher, Stollen, Minen. Scheiterte und Opfer hinterliess, Leben, die sich im und am Berg verloren.

Andri Perl «Im Berg ist ein Leuchten» Elster & Salis, mit Illustrationen von Adina Andres, 2022, 120 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-03930-041-9

Auch Lisas Vater ist eines dieser Opfer. Er verschwand, sehr wahrscheinlich im Berg. Lisa besucht jenen Ort, das Tal, in dem das Militär nach der endgültigen Aufgabe aller Bergbauversuche, einen Schiessplatz einrichtete, einen Übungsplatz, sich auch wieder zurückzog und das Tal sich selber und all den Geistern überliess. Dort, wo über Jahrhunderte das Hämmern am und im Berg am Fels hallte, später das Schiessen aus allen möglichen todbringenden Rohren, eroberte sich in den letzten Jahrzehnten die Natur ihren Platz zurück. Jenes Stück Tal unweit des Dorfes wurde zu einem Refugium vieler Pflanzen und Tiere, die nur dort noch einen Lebensraum finden; Vögel, Fledermäuse, Falter, Blumen.

Sulvaschin war über die Jahrhunderte Schauplatz aller möglichen wirtschaftlichen Interessen. Selbst in der Gegenwart hätte man es gerne gesehen, im Tal mit einem Steinbruch Fels zu Geld zu machen. Lisas Vater hatte sich damals gegen die Zulassung eines solchen Steinbruchs gewehrt, stellte sich den Interessen der Dorfregierung entgegen. Und als er verschwand, förmlich vom Boden verschluckt wurde, war sein Verschwinden erst einmal Ursprung wildester Vermutungen. Lisa erforscht eben diese Höhlen, diese Löcher im Berg, diese Narben im Berg. Aber eigentlich erforscht sie auch das Verschwinden ihres Vaters, jenen seltsamen Ort unweit des Dorfes, der Blumen und Tieren eine Heimat gibt, die sonst kaum anzutreffen sind. Einen Ort, mit dem Geschichten verbunden sind, die nicht zu erklären sind. Einen Ort, wo das Unmögliche verschwindet und das Ewige zu Leuchten beginnt. Einen Ort, der über die Jahrhunderte einen Schatz versprach, den man nie fand, der mit dem Suchen danach aber nie zu leuchten aufgehört hat.

Andri Perls wunderschön gestaltetes und von Adina Andres illustrierte Erzählung ist ein funkelndes und leuchtendes Stück Literatur, dass auch sprachlich mit feinen und zarten Strichen zeichnet. Eine Erzählung, die das Mythische, Unerklärbare mit sich nimmt und die Erzählstimme in einer ganz eigenen Mischung zwischen Legende, Sage und Erzählung schweben lässt. Andri Perls Erzählung steht in einem seltsamen Kontrast zur eigentlichen Absicht der Protagonistin, die Erklärungen und wissenschaftliche Erkenntnisse sucht.

Andri Perl (1984) aus Chur ist Rapper bei Breitbild und Autor der Romane «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» (2010) sowie «Die Luke» (2013). Perl hat an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte studiert und ein Masterstudium in Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert. Ausserdem sitzt er für die SP im Bündner Kantonsparlament und ist ein zusehends lahmender Hobbyfussballer der Schriftstellernationalmannschaft. 2019 ist er Träger des Bündner Literaturpreises. 

Webseite des Künstlers

Nina Bouraoui «Erfüllung», Elster & Salis

„Erfüllung“ ist der beklemmende Roman einer Frau, die sich in ihren verzweifelten Lieben verliert. In der Liebe zu ihrem Sohn, der Liebe zu ihrem Mann, der Liebe zu einem Land. So sehr sie um die Liebe ihres Sohnes kämpft, so sehr verliert sie die Liebe zu sich selbst.

Algier Ende der 70er Jahre; Die Französin Michèle Akli lebt mit ihrem Mann Brahim und ihrem Sohn Erwan in der algerischen Hauptstadt. Sie ist eingesperrt in ihrem Leben. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr verloren gegangen. Sie ist auf der Suche nach einer neuen Aufgabe. Frankreich ist weit weg und Land und Leute in Algier zeigen ihr mehr als deutlich, dass sie keine der ihrigen ist, nie eine sein wird. In ihrer Flucht in sich selbst hat sie sich zurückgezogen in das grosse Haus mit Garten und ihre alles beherrschende Liebe zu ihrem zehnjährigen Sohn. Eine Liebe, die durch eine neue Freundschaft ihres Sohnes bedroht scheint, denn Erwan hat sich mit Bruce zusammengeschlossen, einem Mädchen, gleich alt wie er, androgyn, kumpelhaft und ihr gegenüber seltsam distanziert. Michèle beobachtet und interpretiert, ist längst gefesselt in einem Strudel eingebildeter Bedrohungen, dieses kleine Mädchen, dass sich im Leben ihres Sohnes festsetzt, würde sie ausschliessen, sie die Mutter.

„Die Haut ist ein Hafen für die, die keine Heimat mehr haben.“

Nina Bouraoui «Erfüllung», Elster & Salis, 2022, aus dem Französischen von Nathalie Rouanet, 232 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-906903-19-4

„Erfüllung“ sind sieben Hefte, die Michèle in den Jahren 1977 und 1978 schreibt, Tagebücher, denen sie anvertraut, was sie niemandem sonst anvertrauen kann, von dem sie spürt, dass es sie in ihrer Existenz bedroht. Stumme Hilfeschreie einer Frau, die sich nach nichts als Liebe sehnt, deren Reste sie an allen Fronten bedroht sieht. Was zwischen ihr und ihrem Mann geblieben ist, ist Trott und Alltag. Mit ihm zog sie in dieses Land, weil es Aufbruch und Zukunft versprach, sei es als Familie oder wirtschaftlich. Aber ihr Mann ist oft unterwegs. Ist er nicht da, wünscht sie sich in seine Arme, deren Wärme sie sich erinnert. Ist er da, fürchtet sie sich vor ihm, weil das, was geblieben ist nur noch eine brüchig gewordene Insel auf brodelndem Untergrund ist. 

„Sie hat meinen Sohn ausgewählt, ich kann nichts dagegen ausrichten.“

Michèle ist verzweifelt. Ihre Verzweiflung füllt diese Hefte, das Wissen, dass nichts so bleiben wird wie im Moment der Niederschrift, diese absoluten Momente der Zweisamkeit mit ihrem Sohn, diese Geborgenheit, diese Vertrautheit. Michèle lernt die Mutter von Bruce kennen, dem Mädchen, das sich mit ihrem Sohn im Zimmer zurückzieht, das all jene Nähe zu gewinnen scheint, die ihr als Mutter weggenommen wird. Ein Mann, der ihr fremd geworden ist, ein Land, das nie das ihrige geworden ist und ein Sohn, der ihr „genommen“ wird.

„Das Gewicht der algerischen Erde lastet auf den Schultern der französischen Frauen. Es ist ein Tunnel, in dem wir herumirren und vergeblich nach einem Ausweg suchen.“

„Erfüllung“ ist beklemmend. Der Roman ist nicht einfach die Summe vieler Tagebuchaufzeichnungen, ein verzweifeltes Wühlen in Emotionen, der Sturm einer enttäuschten, bedrohten Frau. Eigentlich liebt Michèle dieses Land, das ihr verwehrt bleibt, die raue Landschaft, das Meer, die Düfte, die Farben. Eigentlich liebt Michèle ihren Mann, die Erinnerung an all das Gemeinsame, die Sehnsucht nach jener Wärme, in der sie sich geborgen fühlte, jenes Abenteuer Algerien in Angriff nahm. Sie liebt ihr Haus, den opulenten Garten. Aber nicht nur die verzweifelte Liebe zu ihrem Sohn, auch die wollüstigen Gefühle zu Catherine, der Mutter von Bruce, der Freundin ihres Sohnes, bringt sie ins Straucheln. Es ist die Orientierungslosigkeit einer Existenz, der die letzte Aufgabe genommen wird, die sich immer mehr an den Rand gedrängt fühlt, die nicht weiss, wie ihr geschieht, die nicht weiss, woran sie sich halten soll.

„Erfüllung“ ist nicht das verzweifelte Tagebuch einer Losgelassenen. „Erfüllung“ ist ein Beispiel für all jene, die sich in den Wirren ihres Lebens nach Erfüllung sehnen, die nicht akzeptieren wollen, dass jenes Bild, dass sie sich von erfüllender Liebe machten, nur Schall und Rauch sein soll. „Erfüllung“ ist in irisierenden Farben geschrieben, von überwältigender Intensität mit Sätzen, die sich in die Haut einbrennen, atmosphärisch dicht, obsessiv, in siedender Hitze geschrieben. „Erfüllung“ ist ein Buch über eine Frau, die sich verloren hat, über enttäuschte Lieben.

Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet und für den Prix des Cinq Continents nominiert. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».

Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren. Lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin, Veröffentlichungen in französischen und österreichischen Zeitschriften.

Beitragsbild © Patrice Normand

Nina Bouraoui «Geiseln», Elster & Salis

Sylvie Meyer ist dreiundfünfzig, Mutter zweier Kinder und erfolgreiche Kaderfrau in einem Industrieunternehmen. Selbstständig und unabhängig. Zumindest äusserlich. Und doch bricht die Welt unter ihr und über ihr zusammen. Sie wird eine Geisel der Gesellschaft, eine Geisel der Wirtschaft, eine Geisel der Gier, eine Geisel ihres eigenen Lebens.

Nina Bouraoui ist im französischen Sprachraum schon lange kein Geheimtipp mehr. Das könnte und sollte sich mit ihrer ersten deutschen Veröffentlichung bei Elster & Salis ändern. Nina Bouraoui schafft mit ihrem Roman etwas, was sich mir als Leser nur selten offenbart. Klar lese ich ein Buch, dass sich kritisch und kämpferisch mit der Situation der Frau in unserer doch so fortschrittlichen Gesellschaft auseinandersetzt. Aber Nina Bouraoui hat sich das zumindest mit diesem Buch nicht auf eine Fahne geschrieben, mit der sie heftig winkt, wenn wieder einmal engagierte Debatten äussert kämpferisch und dezidiert zu noch immer grassierenden Vorurteilen und Ungerechtigkeiten poltern.

Nina Bouraoui schrieb einen Roman über eine ganz normale Frau, eine, die sich nach Kräften bemüht, alles richtig zu machen, die doch eigentlich nur nützlich und von einem ganzen Leben ausgefüllt sein will. Aber man entreisst Sylvie das Leben, drängt sie an einen Ort, in eine Situation, aus der sie sich nur noch mit Gewalt befreien kann, ausgerechnet sie, die von sich selbst sagt: „Ich kenne keine Gewalt.“

Nina Bouraoui «Geiseln», übersetzt von Nathalie Rouanet, Elster & Salis, 2021, 125 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-906903-16-3

Es beginnt in der Familie, in der Ehe. Nach fünfundzwanzig Jahren verlässt sie ihr Mann, zieht aus, lässt sie sitzen. Von einem Moment auf den anderen, als wäre er Brötchen holen gegangen. Sie nahm es hin, weinte nicht, kämpfte nicht, obwohl es unfassbar war, dass plötzlich nichts von dem mehr sein sollte, was ein Viertel Jahrhundert lang Fundament war. Sylvie stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit, die Stelle, für die sie neben ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter mehr als zwei Jahrzehnte alles gab und nun noch mehr zu geben hatte. Cagex, eine Firma für Plastikprodukte, und ihr Chef Victor Andrieu sind vom Kurs abgekommen. Andrieu umgarnt seine eifrige und gewissenhafte Mitarbeiterin, erklärt sie zu seiner, ihrer Vertrauten, zum langen Arm. Jenem Arm, der aushorchen, kontrollieren, denunzieren und entlassen soll, weil die Firma ausweglos in Schieflache gekommen ist. Während ihr Mann sie verliess und sie sprach- und kommentarlos vor vollendete Tatsachen stellte, bearbeitet sie ihr Chef und nötigt sie immer mehr in eine Situation, aus der sie sich nur mit Gegengewalt befreien kann. Sylvie droht zu ersticken, verliert all ihre Freiheit, durch das Verlassen-werden gleichermassen wie durch die Instrumentalisierung.

Sylvie büsst jede Selbstkontrolle ein. Irgendwann während der Lektüre wird klar, dass der Roman, der lange Monolog, eine Erklärung dafür ist, was sie bis zur Eskalation in ihre missliche Situation brachte, dorthin, wo die Polizei das Szepter übernimmt. Sie, die nie Gewalt wollte.

Nina Bouraoui kreiert in ihrem Roman eine klaustrophobische Stimmung. Eingefügt in den Text sind die Beschwörungs- und Umgarnungstriaden ihres in die Enge getriebenen Chefs, der mit allen Mitteln versucht, den rot blinkenden Sprengknopf an seine Mitarbeiterin weiterzugeben. Keine Entgegnungen von Sylvie, denn sie sind gar nicht gefragt. So wie das, was Sylvie fühlt, im Ehedesaster keine Stimme bekommt. Man verfügt und schafft es schlussendlich, in Sylvie die Täterin zu orten. Ein starkes Stück Literatur! Und alles andere als „bloss“ ein Frauenbuch!

Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».

Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren, lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin (Belletristik, Kunst, Film, Theater, Lyrik) und Autorin (Romane, Erzählungen, Kurzprosa, Aufsätze zur Literatur- und Übersetzungswissenschaft, Poetry Slam Texte). Sie ist Aktivmitglied des Vereins Bieler Gespräche.

Beitragsbild © Patrice Normand

literaturblatt.ch gratuliert: Anna Stern ist Schweizer Buchpreisträgerin 2020! #SchweizerBuchpreis 20/11

Der diesjährige Schweizer Buchpreis geht an Anna Stern für den Roman «das alles hier, jetzt.» (Elster & Salis Verlag).

In der Begründung der Jury heisst es: «Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen. «das aller hier, jetzt.» handelt vom Tod eines geliebten Menschen, und die Autorin erzählt mit grosser experimenteller Kraft und zugleich mit hoher sinnlicher Intensität. Fast beschwörend wird die Vergangenheit wachgerufen und die Leserinnen und Leser in den Erinnerungsprozess einbezogen. Das Erzählverfahren ist höchst originell. Nicht nur kommt der Text über die gesamte Strecke ohne jede Gender-Fixierung der Figuren aus, es ist auch ein Roman in zwei Spuren: auf den linken Buchseiten die Gegenwart der Trauer, rechts die erinnerte Vergangenheit einer gemeinsamen Kindheit und Jugend – bis alles auf ein fulminantes Roadmovie-Finale zusteuert. Ein gleichermassen intimer wie kunstvoller Roman über zutiefst menschliche Erfahrungen.»

Rezension von «das alles hier, jetzt.» auf literaturblatt.ch

«Glücklich?»
«Ja, glücklich.»

Anna Stern «das alles hier, jetzt.», Elster & Salis #SchweizerBuchpreis 20/4

Ananke stirbt nach kurzer Krankheit. Eine junge Frau. Ihr Tod hinterlässt nicht nur eine Lücke, sondern pulverisiert ein ganzes Gravitationsfeld. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, gar nichts. Und weil es nach 150 Tagen aus der Trauer keinen Weg zu geben scheint, machen sich Anankes Freunde auf, um sich ihrem Eingeschlossenen Luft zu machen.

Anna Sterns Roman überrascht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Das kündigte sich schon in ihrem letzten, ihrem dritten Roman „Wild wie die Wellen des Meeres“ an. Aber mit „das alles hier, jetzt.“ geht die junge Schriftstellerin aus der Ostschweiz noch einen Schritt weiter. Ichor erzählt, wahrscheinlich ein Mann, wahrscheinlich. Er erzählt von der Zeit nach Anankes Tod und von der Zeit davor, den Erlebnissen als Kinder, als Jugendliche, als junge Erwachsene, mit Ananke zusammen oder in der Gruppe mit Freunden, in der kleinen Stadt am See.

„du hast angst vor dem vergessen und fängst an, alles aufzuschreiben.“

Anna Stern «das alles hier. jetzt.» Salis & Elster, 2020, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-03930-000-6

Anna Stern erzählt in zwei Teilen. Der erste Teil, jeweils auf der linken Seite in schwarzer Schrift von der Zeit nach Anankes Tod und rechts in grauer, etwas blasserer Schrift von den Erinnerungen aus der gemeinsamen Zeit mit Ananke, vor der Krankheit, vor ihrem Tod. Die Gegenwart klar wie in Stein gehauen. Die Vergangenheit, die irgendwann einmal verblassen wird, auch wenn man daran nicht denken will und kann, grau geworden. Die Textstücke in diesem ersten Teil erzählen unabhängig voneinander und zwingen mich als Leser, das eine oder andere Mal vor- und zurückzublättern, obwohl mir die Autorin bei der Vernissage in Rorschach versichert, den ersten Teil könne man überall zu lesen beginnen. Vielleicht könnte man den Roman auch im letzten Viertel beginnen, dem zweiten Teil des Buches, in dem Anna Stern linear und „traditionell“ von Anankes Freunden erzählt, die mehr oder weniger gemeinsam beschliessen, ihren dunklen Tunnel der Trauer zu verlassen und „Nägel mit Köpfen zu machen“. Dann wiederum könnte man den ersten Teil danach lesen und er würde mir erschliessen, was die Freunde dazu treibt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf den Friedhof zu fahren.

Aber Anna Stern springt formal noch mehr aus der Spur. Ausser den Namen ist nichts gross geschrieben, nicht einmal Satzanfänge. Vielleicht weil Namen das einzig Konstante sind, an das man sich halten kann. Und neben Ananke und dem Erzähler Ichor sind alle Namen so gewählt, dass sie seltsam androgyn erscheinen, geschlechtslos, als ob die Autorin Gefühle und die Art des Erinnerns von geschlechtspezifischen Vorstellungen abkoppeln möchte.
Zudem lässt die Autorin in vielen Sätzen das Verb weg, entseelt die Sätze, genauso wie Ananke mit ihrem Tod die Zurückgebliebenen entseelte. So wird Text und Form zu einem Spiegel der Geschichte.

Ananke war ein Fixstern. Mit ihrem Tod verschwand das Zentrum eines Sternensystems. Die Gravitation brach auseinander! Ananke war lebend ein Mythos, nach ihrem Tod nicht weniger.

„du bist müde, müde und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl, gleichzeitig in deinem Körper zu sein und ausserhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.“

Dass sich Anna Stern nicht an gängige Erzählmuster hält, ist erfrischend und konsequent. Anna Stern geht es nicht darum, den Lebens-, Leidens- und Sterbensweg einer jungen Frau zu erzählen. „das alles hier, jetzt.“ ist auch kein Trauerroman, kein Abschiedsroman, schon gar kein Protokoll. Anna Stern erzählt ungeheuer sinnlich und in dieser Sinnlichkeit höchst präzis und unemotional. „Unemotional“ darum, weil „kühl“ falsch wäre. Ihr Roman bewegt ohne zu erschüttern. Er hinterlässt nicht Trauer, sondern das pure Glück über ein absolut gelungenes Sprachabenteuer. An Anna Sterns Roman ist nichts zu viel und schon gar nichts zu wenig. Er ist mutig und konsequent. Und so wie die Autorin selbst, ganz eigen. 

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, schreibt und doktoriert in Zürich.»das alles hier, jetzt.» Zuvor erschienen «Wild wie die Wellen des Meeres» (2019, Roman, Salis), beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2018 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, «Beim Auftauchen der Himmel» (2017, Erzählungen, lectorbooks), «Der Gutachter» (2016, Roman, Salis) und «Schneestill» (2014, Roman, Salis). Anna Stern ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis 20/2

Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!

© Lea Frei

Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes
Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet.
Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser
Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.

© Lea Frei

Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis
Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt.
Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen
Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.

© Lea Frei

Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub
Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell!
ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite
Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!

Illustrationen © leafrei.com