Eine Entdeckung am Literaare-Festival in Thun: Elise Schmit

Ich freue mich auf Namen, die ich kenne, auf die Gesichter, die einem immer wieder einmal begegnen, die einen gar freundschaftlich zugewandt. Aber wenn ich ein Literaturfestival besuche, ist da immer auch die Hoffnung, überrascht zu werden. Vielleicht überrascht die Person hinter dem Buch. Aber manchmal überrascht alles. So wie bei «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen», so wie bei der Luxemburgerin Elise Schmit!

Dass ich es nicht einmal während meiner Festivalvorbereitung schaffte, einen Blick auf die Verlagsseite der Autorin zu werfen, ist das eine. Dass ich ihr noch am Abend vor ihrem Auftritt an einem langen Tisch gegenübersass und keine Veranlassung sah, den Namen zu checken, obwohl Festivalchefin Tabea Steiner den Zeigefinger gehoben hatte, beschreibt meine Ignoranz und vervielfachte am letzten Tag des Thuner Literaturfestivals Überraschung und Freude zugleich.

2019 war Elise Schmit Stipendiatin am LCB (Literarisches Colloquium Berlin) und erhielt den Prix Servais für den Erzählband «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen». Dieser Preis wird für das bedeutendste veröffentlichte Werk des Jahres in Luxemburg verliehen.

Als eine Art Poetologie des Sturzes beginnt der Erzählband mit einer Liste:

ein Stern
Ikarus
Apollo 13
Felix Baumgartner
Jürgen Möllemann
ein Regentropfen
Empedokles
Falling Man
Concorde-Flug 4590
die Niagarafälle
Hero von einem Turm in Sestos
zwei kaiserliche Stadthalter und ein Kanzleisekretär aus einem Prager Fenster
ein Student vom Balkon eines Tübinger Verbindungshauses
Hals über Kopf im November 2001
Zinédine Zidane im Finale der Fussballweltmeisterschaft 2006
ein Stein vom Herzen
vom Fahrrad circa 1990
ein Atom

Irgendwann begann sich Elise Schmit für Stürze zu interessieren. Die Liste allein erzählt Bände. Alles mehr als Sinnbilder des «Sturzes», von banal bis Fanal, von unscheinbar bis weltbewegend. Die Stürze in Elise Schmits Erzählband sind Variationen Herausgefallener, nach innen, nach aussen, meist in Einsamkeit und Isolation.

Elise Schmit «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen», Hydre Éditions, 2019, 135 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-95602-187-9

In der ersten Erzählung «Letztes Haus vor dem Meer» ist es Ingrid. Sie wohnt in einem schmucken Haus an der Klippe, einem Sehnsuchtsort, einem Ort, der jeden Tag besucht wird, in einem Haus, für das man sie beneidet, gleichzeitig an einem Ort, an dem für Ingrid mit dem Tod ihres Mannes und dem ausgebliebenen Wunsch nach einer Familie die Sehnsucht erlosch. Sie hat zu viel gesehen, in ihrem eigenen und in fremden Leben, die an der Klippe über den Rand hinauszugehen drohen. Ingrid hat aufgegeben hinzusehen, als ein kleiner Junge am Abgrund verschwand. «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» sind Geschichten, die mich mit an den Abgrund ziehen, ganz nah, schwindelerregend.

Im Gespräch mit der Moderatorin und Festivalchefin Tabea Steiner sagte Elise Schmit: «Ich möchte bei meinem Schreiben die Illusion spüren, in die Köpfe meiner Erfundenen zu schlüpfen, jenen Moment zu bestimmen, der alles kippen lässt und den Vorhang im richtigen Moment ziehen, ihnen als Schöpferin die Nähe wieder entziehen.»

Kann man Menschen in ihrem Tun beeinflussen? Zumindest Schriftstellerinnen und Schriftsteller können es mit ihrem Personal hemmungslos, obwohl die Autorin nicht vorgibt, ihre Personen in ihrem Buch immer zu verstehen. So sehr die Empathie der Autorin spürbar ist, ihre Behutsamkeit, ihr Respekt, ihre Freude an der Nähe des einen Moments, so authentisch macht das ihre Geschichten. Sie lässt die Menschen in ihren Erzählungen nicht aus purer Lust stürzen. Es geht ihr nicht um die Stürze selbst, sondern darum, wie es dazu kam und kommt.

Lesen! Eine Perle!

© Boris Loder

Elise Schmit wurde 1982 in Luxemburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Nach zwei längeren Aufenthalten in Tübingen und einem kürzeren in Paris lebt und arbeitet sie seit 2012 wieder in Luxemburg. Mehrfach wurden ihre Texte beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet, unter anderem die Erzählung «Im Zug». «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung.

 Illustrationen © leafrei.com

Literaare – Ein mutiges Festival in Thun

Im Frühling hätte das Festival stattfinden sollen und musste wie so viele andere abgesagt werden. Aber als einziges Schweizer Literatur-Festival, das mir bekannt ist, wagt Literaare in Thun einen Restart. Nur schon deshalb sollte der Mut der VeranstalterInnen belohnt werden, garantieren doch die Vorgaben des BAG maximal möglichen Genuss.

Eröffnet wird das Festival am Freitag, den 25. September von der Grand Dame der Schweizer Literaturszene. Mit Ruth Schweikert, die 2016 sowohl den Schweizer Literaturpreis wie den Solothurner Literaturpreis gewann und schon mit ihrem ersten Roman «Erdnüsse. Totschlagen» mehr als nur auf sich aufmerksam machte, mischt sich eine wichtige Stimme ein – in die Kulturszene genauso wie in die Politik. 2020 veröffentlichte sie zusammen mit Eric Bergkraut einen Film, eine «etwas andere Homestory einer Künstlerfamilie» mit dem Titel «Wir Eltern». Ruth Schweikert bringt ihren Roman «Tage wie Hunde» mit ans Festival, einen Roman, in dem sie sich auf formal experimentellen Wegen sowohl erzählerisch wie essayistisch mit ihrer Krebserkrankung auseinandersetzt. Ein Buch, das weit mehr ist, als eine Nabelschau, viel mehr ein literarisch mutig, wilder Ritt durch die eigene Körperlichkeit.

Am darauffolgenden Samstag und Sonntag geben sich grosse und kleine Namen die Klinke. So liest Christoph Geiser, ein Urgestein in der CH-Literatur aus seinem bei Sezession erschienenen Erzählband «Verfehlte Orte». Christoph Geiser, der seit einem halben Jahrhundert schriftstellerisch wirkt und dafür 2020 endlich mit dem Schweizer Literaturpreis die gebührende Anerkennung erfuhr, ist Erzähl- und Fabulierkünstler. Ein Autor, der sich nur schwer fassen lässt, sich dauernd neu erfindet.

Andere grosse Namen gehören einer ganz jungen Generation. So lesen Simone Lappert aus ihrem Roman «Der Sprung», mit dem sie sich einen Platz in der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 verschaffte, Laura Vogt aus ihrem Gesellschaftsroman «Was uns betrifft» oder die jungen deutschen Schriftstellerinnen Kirstin Höller (1996), Miku Sophie Kühmel (1992) und Svenja Gräfen (1990), drei junge Stimmen, die mit ihren Themen den Nerv der Gegenwart treffen. Neben noch vielen anderen Stimmen eine Wand aus kraftvollen Erzählerinnen!

Ganz besonders freue ich mich auf das Format «Skriptor», das im Rahmen der Solothurner Literaturtage von AutorInnen entwickelt wurde. Es stellt Fragen, die die schriftstellerische Tätigkeit bestimmen. Am öffentlichen Werkstattgespräch kann sich das Publikum miteinbringen. Ein Format, das zeigt, wie tief die Auseinandersetzungen mit Sprache, Text, Form und Inhalt reichen können. Dabei stellt sich der Schriftsteller Demian Lienhard, der mit seinem Debüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» für Furore sorgte, mit einem noch unveröffentlichten Textausschnitt. Es diskutieren 5 SchriftstellerInnen und Mutige aus der Runde der Lauschenden.

Bereits auf literaturblatt.ch besprochen und auf dem Programm des Thuner Literaturfestivals «Literaare»:
«Der Sprung» von Simone Lappert
«Was uns betrifft» von Laura Vogt
«Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan
«Andersland» von Regula Portillo

Warum in diesen Zeiten ein Festival besuchen? Wer sich an die Regeln hält, geht kein Risiko ein. Und die Literatur braucht die Begegnung, all die Lesenden, die sich nicht bloss zur Unterhaltung mit Büchern versorgen. Ein solches Festival ist ein Zeichen; ein Zeichen für die Kunst, für all jene, denen seit dem Frühjahr das lebensnotwendige Publikum weggebrochen ist.
Seien Sie dabei!