Shumona Sinha «Erschlag die Armen!», Edition Nautilus

«Die Erde war eine Muttersau, die ihre allzu zahlreichen Ferkel nicht mehr ernähren konnte. Grunzend watete sie im Schlamm.» Die in Indien geborene und in England lebende Schriftstellerin Shumona Sinha verlor 2011, nach der Veröffentlichung dieses Romans, ihre Arbeit als Dolmetscherin bei der Französischen Asylbehörde. Ganz offensichtlich stach Shumona Sinha zu tief ins fette Fleisch der Muttersau.

«Ich biss mir auf die Lippen und fragte mich, ob es stimmte, ob ich hassen könnte, ob ein schlafender Hass plötzlich aus mir herausgebrochen war und sich mit aller Gewalt über diesen Mann entladen hatte.» Es mag Hass gewesen sein, aber mit Sicherheit Wut und blanker Zorn, der die junge Frau in «Erschlag die Armen!» dazu trieb, einem Migranten in der U-Bahn eine volle Flasche Rotwein über den Kopf zu schlagen. Nun sitzt sie in einer Zelle oder einem Büro Herrn K. gegenüber und versucht sich selbst zu erklären, was sie dazu trieb, einem Mann aus dem gleichen Land wie sie eine Glasflasche überzuziehen. An Handlung ist das in diesem schmalen Roman fast alles, nebst den vielen kleinen Miniaturen, die wie grelle Blitzlichter schildern, was in der Zwischenwelt der Geflohenen geschieht.

droits cédés à l'Olivier jusqu'au 4 décembre 2016

«Zwischen der endlosen Kolonne von Männern und mir eine hohe Mauer errichten. Abgewertete Männer, Zwerge, gelähmt vor Angst oder gar vor Hoffnung, bloss noch Nummern auf einer Warteliste oder einer Akte, Männer, die ihr Verlangen nach dem weissen Horizont, dem europäischen Traum, zu teuer bezahlt hatten.» Eine Mauer zwischen diesem Elend und der Stadt aus Glanz. Eine Mauer zwischen ihr und der Behörde, die in einer wabernden Gallerte aus Lüge, Verdrehung, Falschheit und Abstumpfung versinkt. Es ist nicht die Geschichte, die bannt, sondern die tobende Wut einer Entnervten, einer Wutentbrannten, einer in Sprache und Stand Missbrauchten. Es sind die Sätze,geb_SU die sich mir als Leser einbrennen und Wunden ritzen, Sätze, die mich zwingen, sie wieder und wieder zu lesen, weil sie messerscharf zeigen, wohin sich eine aus den Fugen geratene erste Welt manövriert. Sie, die Dolmetscherin, eine Frau der Sprache, instrumentalisiert von allen Seiten, verzweckt in einer verzwickten Lage, verlassen vom Glauben, Sprache würde der Wahrheit dienen. «Die Lüge drang in die Sätze ein wie das Wasser ins Hinterland, tausend Greifarme nahmen die Erde in Beschlag, salziges Wasser bedeckte die süsse Haut der Erde wie der Speichel eines Ungeheuers.» «Erschlag die Armen» ist ein Buch des blanken Schmerzes, der Verzweiflung darüber, nichts richtig machen zu können, über eine junge Frau, von der das Zittern Besitz ergreift, ein Zittern, das auf den Leser übergreifen kann, ein Buch von einer Verlorenen, einer Fremden in einem Apparat, einer Fremden unter Landsleuten, einer Fremden vor sich selbst.

geb_SUEnde August 2016 erscheint wieder bei Edition Nautilus ihr Roman «Kalkutta», die Geschichte von Trisha, die nach vielen Jahren in Frankreich anlässlich der Einäscherung ihres geliebten Vaters zurückkehrt in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Im verlassenen Haus der Familie, in dem sie aufgewachsen ist, schicken die Möbel und vertrauten Gegenstände aus alten Tagen ihre Gedanken auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Indem Trisha sich in die Kratzer und Risse dieser Objekte, der Möbel, des Hauses versenkt, ersteht die Vergangenheit mehrerer Generationen einer Familie wieder auf, und damit auch die kollektive, politische Vergangenheit Westbengalens – von der britischen Kolonialzeit bis zur jahrzehntelangen kommunistischen Regierung seit den späten 1970er Jahren.

vs_literaturfestival_overShumona Sinha liest am Literaturfestival in Leukerbad vom 1. bis 3. Juli und am Open-Air-Literaturfestival Zürich am 12. Juli im Alten Botanischen Garten.