Tabea Steiner «Balg», Edition Bücherlese

Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia, ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.

«Balg» ist ein Schimpfwort. Abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte. Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia. Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schuljunge, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif durch ein verkorkstes Leben bahnt.

Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater, den er manchmal am Wochenende sieht und auch längst in einer neuen Familie lebt, geschenkt bekommt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.

Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war es der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit rausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.

Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an der er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist von den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil.
Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.

Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei aller Katastrophe das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe, noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte. Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die sich nicht nur inhaltlich behutsam nähert, sondern in ihrem Ausdruck.

Ein Interview mit Tabea Steiner:

Du engagierst dich seit Jahren für die Literatur, sei es als Leiterin des Literaturfestivals in Thun, als Moderatorin in Bern, Thun und St. Gallen, als Literaturvermittlerin im wahrsten Sinne des Wortes. Und nun dein erster Roman, dein Debüt bei einem Verlag, der es in den letzten Jahren formidabel schaffte, sich mit CH-Spitzentiteln zu empfehlen. Ist es ein Ankommen, ein Beweis oder Resultat übermässiger Anstrengung?
Es fühlt sich für mich am ehesten nach Ankommen an. Auf jeden Fall ist es ja so, dass ich mich schon immer nicht „nur» mit Texten anderer befasst habe, sondern auch selber geschrieben habe. Damit jetzt rauszugehen und der Öffentlichkeit diese andere Rolle gewissermassen zu präsentieren, heisst natürlich auch, dass ich mich nicht mehr hinter den Büchern anderer „verstecken“ kann, von denen ich weiss, dass sie gut sind. Beim eigenen Text ist man da ja sehr viel unsicherer, und trotzdem freue ich mich, dass das Buch jetzt da ist.

„Balg“ ist ein sehr intimer Roman, dessen Konstruktion sich scheinbar weit weg von deiner eigenen Biographie ansiedelt, ausser vielleicht, dass sich die Geschichte irgendwo in der Ostschweiz, in einem Dorf unweit des Bodensees verorten lässt. Was dir ausgezeichnet gelang, ist aber genau jene unmittelbare Intimität, die das Buch, dein Roman, dein Debüt so sehr überzeugen lässt. Eine Nähe, die nie entblössend wirkt. Wie sehr musstest du dich darum bemühen?
Ich habe eine lange Zeit mit diesen Figuren verbracht, sie, als sie da waren, genau studiert, nachgedacht, wie sie sind, was sie denken, sagen und wie sie handeln und warum. Sie sind mir auch sehr nahe gegangen, und es war mir gleichzeitig wichtig, selber auch immer ein wenig Verständnis für sie aufzubringen. Und das war zuweilen durchaus sehr anstrengend. 

Alle Protagonisten in deinem Roman sind Verlorene? Wie sehr liegt in einer Zeit der totalen Vernetzung genau in diesem Gefühl eine der Untiefen unserer Gesellschaft?
Sind sie Verlorene? Ich denke eher, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen keinen oder nur einen unzulänglichen Zugang zu ihrer Sprache haben, und deswegen auch nicht imstand sind, die anderen zu verstehen.
Auf jeden Fall schaffen sie es nicht, eine gemeinsame Sprache für ein Problem zu finden, das sie alle betrifft. Sie sehen es zwar alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind aber nicht imstand, darüber auch nur einen sprachlichen Konsens zu finden. Und hier setzt etwas für mich sehr Wichtiges ein: dass nämlich die Sprache politisch ist, weil wir uns darüber einigen müssen, was sie bedeutet. Es ist schwierig, sich zu unterhalten, wenn man keine gemeinsame Sprache hat – und ich glaube, dass man die Folgen davon auf Social Media, aber mehr und mehr auch im Alltag, beobachten kann, wenn Sprache in einer zunehmend verletzenden Art und Weise verwendet wird, ohne sich darum zu kümmern, dass die Sprache eben allen gehört. Niemand hat sie für sich allein, und das wäre gut so, wenn.

Gegen Schluss deines Romans lässt du Lydia, die Mutter Antonias sagen, die vieles spürt, was sie sich nicht zu sagen traut: „Man muss eben mit den Leuten reden, nicht immer nur über sie.“ Dieser Satz ist eines der Themen, die sich durch dein Buch ziehen. Und trotzdem bleibt die Einsicht, dass nicht über alles geredet werden kann. Wo liegt die Grenze zwischen befreiendem Reden und zerfleischendem Zerreden?
Das ist eine sehr schwierige Frage, aber nicht nur literarisch. Jeder Mensch geht wieder ganz anders um mit Dingen, manche wollen darüber reden, andere wieder können nicht. Ich glaube nicht, dass ich diese Frage je wirklich werde beantworten können, wünsche mir aber, dass mehr darüber nachgedacht und gesprochen und geschrieben wird. 

In deinem Roman steckt ein ungeheures Potenzial an Katastrophen. Einige hast du geschehen lassen, vielem bist du mit Absicht ausgewichen, hast der Versuchung von allzu beabsichtigter Plottverdichtung widerstanden. So wie das Leben nur in Ausnahmefällen das Maximum an Katastrophe zulässt. Zum Glück. Wie sehr musstet du gegen Versuchung ankämpfen?
Ich musste, wie oben angedeutet, eher gegen die Versuchung kämpfen, den Figuren doch das eine und andere zu ersparen, sie freundlicher erscheinen zu lassen, sympathischer. Aber dann wäre es eine andere Geschichte geworden, und so bin ich streng mit mit und manchmal ein bisschen hart zu den Figuren gewesen. 

Ein beeindruckendes Debüt von einer Autorin, von der ich nichts anderes erwartet hätte!

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Tabea Steiner lebt in Zürich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Virginia Helbling «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug», edition bücherlese

Caterina bekommt ein Kind. Dass es mit der Geburt von Helena nicht einfach eine Zeit v. H. und n. H. gibt, davon erzählt der Roman «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug». Virginia Helbling thematisiert, was gerne romantisiert wird; Mutter werden und sein. Mehr als ein Vorgang, mehr als eine Aufgabe, mehr als eine Veränderung. Diesen Roman müssten Männer lesen, ob sie Väter sind oder nicht, weil er von einer Reise erzählt, die sie niemals antreten können.

Eric, ihr Mann, ist Musiker, Geiger. Er lebt für seine Musik. Sie wohnen in einer Wohnung mit nur einer Tür, jener zum Bad. Irgendwo in einem Dorf oder Quartier, unweit vom Zentrum Roms. Während sich die Ich-Erzählerin im Spital nach einer schwierigen und langen Entbindung (Was für ein unzutreffendes Wort!) zu fassen versucht, ist Eric auf Tour. Während sich die mit einem Mal gewordenen Mütter auf der Entbindungsstation gegenseitig Normalität und Glück demonstrieren, bedeutet die Geburt des kleinen Mädchens für Caterina eine einzige Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die ihr Mann bei seinen Besuchen, mit seinen Fragen, seinem Umsorgen in keinem Moment stillen kann, so wie die Mutter das kleine Mädchen zu Beginn nicht stillen kann.

«Die Fäden, die einst meinen Tag durchflochten, sind mir aus der Hand geglitten, und nun finde ich sie nicht mehr.»

Virginia Helbling beschreibt einen mehrfach toten Winkel. Jenen in der Literatur (Als Vielleser ist mir dieses Thema in der Art noch nie zur Lektüre geworden) und jenen in der Gesellschaft, die sich mit der Perspektive des «fehlenden Mutterglücks» schwer tut. Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft werden gerne glorifiziert, in pastellenen Farben geschildert. «Fehlendes Mutterglück», jenes Gefühl, nur ein ausfliessender Krug zu sein, wird mit Undankbarkeit markiert. Gesellschaft und Marketing tun alles, um Mutterschaft zu verklären, ohne je anzuerkennen, was diese Aufgabe wirklich bedeutet. Selbst unter Frauen wird «Muttersein» nicht als geltende Arbeit anerkannt.

«Ich zerbrösle im Zweistundentakt.»

Ein Kind kommt zur Welt. Ausgerechnet jenes Erlebnis, das mit vollkommenem Glück verbunden wird, verunsichert die gewordene Mutter total. Sie erkennt sich nicht mehr wieder, weder die von ihr empfundene Wirklichkeit noch jenen Traum, den sie v. H. (vor der Geburt Helenas) hatte. Das, was ihr als Mutterinstinkt versprochen schien, stellt sich nicht ein. Mit der Geburt ist sie so sehr von ihrem kleinen Mädchen entbunden und trotzdem vollkommen eingebunden, dass sie weder weiss, wo ihr der Kopf steht, noch alles andere. Die Protagonistin mäandert zwischen verunsicherter Seligkeit und dem Gefühl, einen Parasiten auf sich zu tragen.

«Helenas Präsenz enteignet mich.»

Wäre es ein schmerzerfülltes Tagebuch von einer Mutter, die einen Weg aus einem Gemisch von totaler Erschöpfung und maximaler Entfremdung von ihrer vorgeburtlichen Realität beklagt, würde ich ein solches Buch niemals lesen. Es ist die Sprache, es sind die Sätze! Virginia Helblings Protagonistin hangelt sich nicht nur mit Hilfe der Musik aus ihrem Loch, sondern die Sprache selbst orientiert sich an der Musik. Ich liebe Bücher, die mich mit Sprache beschenken. Und trotzdem wird die Geschichte, die Thematik nicht zur Nebensache. Virginia Helbling schrieb einen grossartigen Roman über ein grosses Thema, über eine Frau, die über sich hinauswächst, über eine Situation, aus der man sich nur selbst befreien kann.

Studer/Ganz-Preis 2015: «In der ersten Person erzählt «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug» (Originaltitel: Dove nascono le madri, übersetzt: «Wo Mütter geboren werden») die Grauzonen einer jungen Mutter, die zwischen dem Wunsch nach Freiheit und den Aufgaben, die ihre Rolle mit sich bringt, hin- und hergerissen ist. Die Musik durchzieht das gesamte Werk, bestimmt seine Originalität und bietet der Protagonistin einen möglichen kreativen Fluchtweg.»

Viriginia Helbling wurde 1974 in Lugano ­geboren. Sie studierte Literatur und Philosophie an der Universität in Fribourg und arbeitete als Journalistin. Sie ist Mutter von sechs Kindern und lebt in Gorduno.

Jacqueline Aerne, geboren 1964, ist freischaffende Übersetzerin. Sie wuchs in Ascona auf und lebt heute in Basel. Sie hat in Basel und Bologna Italianistik und Kunstgeschichte studiert, war Assistentin und danach Lektorin für Italienische Literatur, mit Schwergewicht moderne und zeitgenössische Lyrik sowie literarische Übersetzung. Jacqueline Aerne ist Präsidentin des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz AdS.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

André David Winter „Immer heim“, edition bücherlese

Bilder, die sich einbrannten. Zu einen das grossformatige Bild „Die Lebensmüden“ von Ferdinand Hodler in der Pinakothek in München. Zum andern die Schlussszenen im Film „Das gefrorene Herz“ mit dem Schauspieler Sigfrid Steiner, der als Korber in Schnee und Eis seine Ruhe findet. André David Winter schrieb mit seinem Roman „Immer heim“ eine Geschichte aus der Vergangenheit, über alte Menschen, „Verwärchete“, die ihren Platz in der Gesellschaft verloren haben.

Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat von Novalis „Wohin gehen wir? Immer heim.“ und auf den letzten Seiten angefügt: „Ein grosser Dank geht an Otto S. und René F. für ihre wertvollen Erinnerungen. „Immer heim ist ein Buch der Erinnerungen. Zurückgesetzt in eine Zeit, die längst vergangen scheint, von Menschen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts gross wurden. Ein Erinnerungsbuch an Schicksale, die noch viel fester mit der Natur und den Mühen der Arbeit verflochten waren, ein Erinnerungsbuch zwischen dem verklärten Blick eines Ankerbildes und der entblössenden Strenge eines Ferdinand Hodlers.

Joseph Bitzi wird nach einem Leben als Knecht vom Hof der Mugglis gegen seinen Willen ins Heim geschickt. Dem Jungbauer war der knorrige, eigenwillige Knecht mehr Last als Kraft und so schnell entsorgt. Aber was tut ein Mann, der ein Leben lang mit seinen Händen anpackte mit einem verordneten Leben im Ruhestand? Unter all den anderen Alten, die nur noch warten, auf das nächste Essen, die Schwester, den Besuch, die Nacht, den Schlaf, den Tod? Einer von denen werden, die sich abgefunden haben und vor sich hin dämmern?

Joseph bäumt sich auf. Er hat einen Plan. Nachdem er ein Leben lang einstecken musste, soll das letzte Stück nach seinem Sinn verlaufen. Er, den man nicht erst jetzt nicht mehr will, bäumt sich auf, stellt sich quer.

“Manchmal fragte er sich, ob nicht alle, die hier wohnten, weggeworfen worden waren wie er.“

Aus dem Aufbäumen des ausrangierten Knechts wird eine richtige Bewegung. Der stumme Alfred, sein Zimmergenosse, den Parapluie, der einst als Schirmflicker von Haus zu Haus hausierte, die böse Anni, die uralt noch immer nachts im Traum schreit aus Angst, ihr Mann komme sie holen, oder Rottannli, den ehemaligen Knecht und Melker, der von Stimmen heimgesucht wird und am liebsten sein Leben mit Feuer löschen würde. Sie alle wachen noch einmal auf, ergeben sich nicht.

“Ihr müsst uns beschäftigen, sonst beschäftigen wir euch.“

Auch Geld hilft ihm, Geld, von dem er wusste, das nie gebraucht wurde, das versteckt auf dem dahinsiechenden Hof liegt, auf dem er zur Welt kam, Geld, das ihm Kraft und Macht geben würde, auch über die Lästerer im Gasthaus im Dorf, die nur darauf warteten, ihn noch einmal und noch einmal mit ihrem Lachen durch den Dreck zu ziehen.

Joseph, dem es in seinen unglücklichen Liebesgeschichten nie gelang, sich als der zu zeigen, der er war, der als Knecht immer Knecht blieb, mischt als „Verwärcherter“ ein Altenheim auf. Mag sein, dass die Szenerie manchmal hart an der Grenze zur Glaubwürdigkeit schrammt. Aber genau das darf Literatur. Literatur muss nicht abbilden, darf Geschichten erzählen. Und André David Winter tut dies mit kräftigen Farben und klaren Strichen.

André David Winter liest am 30. November 2018 an einer „Ofenlesung“ im Haus der Schriftstellerpaars Michèle Minelli und Peter Höner in Iselisberg bei Frauenfeld TG. Weitere Informationen folgen!

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz. Seine Kindheit verbrachte er bis zum achten Lebensjahr in Berlin. Mit vierzehn verlor er seine Mutter. Nach Abbruch einer Lehre arbeitete er auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien. Es folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit in der Notschlafstelle und in einem rumänischen Kinderheim. 2008 erschien sein Roman „Die Hansens“ im Bilger Verlag, 2012 folgte „Bleib wie du wirst. Deine Demenz, unser Leben“. In der edition bücherlese erschien 2015 der Roman „Jasmins Brief“.

Titelbild: „Die Lebensmüden“, 1892, Ferdinand Hodler, Ausschnitt

«Ich bin masslos enttäuscht» – eine Einschätzung

Bei der Lesung der Grande Dame der Holländischen Literatur Margret de Moor sassen eine Mutter mit ihrer Tochter in der Reihe vor mir, beide mit Brillen im Haar, die Junge mit schulterfreier, weisser Bluse. «Ich bin masslos enttäuscht. Ich habe geschrieben und angerufen. Aber alle hatten sie eine Ausrede. Ich bin enttäuscht von meiner Generation.»

Ich konnte mich ihrer lautstarken Entrüstung nicht entziehen. Die Lesung würde gleich beginnen. Sie, die junge Frau vor mir, wetterte weiter in Richtung ihrer Mutter. «Hast du gesehen, wer hier ist und wer hier fehlt? Meine Generation. Jene, die dauernd hausieren, was sie alles gelesen haben. Ich bin enttäuscht.» Nicht viel hätte gefehlt, und ich hätte mich eingemischt, hätte der Enttäuschung der jungen Frau beigepflichtet. Nicht um sie zu beschwichtigen, sondern um Öl ins Feuer zu giessen.

Die junge Frau hat recht. Auch wenn die Organisatorinnen und Organisatoren der 40. Solothurner Literaturtage nicht einmal in den Windeln waren, als das Festival vor 40 Jahren ins Leben gerufen wurde, sind die Besucher und Besucherinnen durchschnittlich deutlich im Rentenalter; durchaus frisch und jung geblieben, beweglich und offen. Aber ganz offensichtlich die aussterbende Generation derer, die sich von der Literatur aus der Komfortzone locken lassen. Keine Generation las so viel wie die junge heute. Aber es scheint nicht zu reichen für die Geheimnisse der Literatur.

Dabei sind sie da, die Stimmen, die Aktualität mit Literatur verbinden. Auch in den frischen Stimmen der Schweizer Literatur. Zwei Beispiele:

Alice Grünfelder, einst Buchhändlerin, dann Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, arbeitete lange beim Unionsverlag Zürich als Herausgebende der «Türkischen Bibliothek». Ihre Leidenschaft ist Asien. Eine Leidenschaft, die sie einen ersten Roman schreiben liess – «Die Wüstengängerin».
Anfang der 90er Jahre reist die Studentin Roxana  entlang der Seidenstrasse, um unbekannte buddhistische Höhlenmalereien zu erforschen als Beweis dafür, dass die Region dort nicht «immer» islamisch war. Zwanzig Jahr später reist Linda wegen eines Entwicklungsprojekts ebenfalls nach Xinjiang und stösst dabei auf die Spuren Roxanas.
So sehr das Schicksal der Uiguren aus dem Bewusstsein des Westens gefallen ist, so leidenschaftlich verpackt die Autorin die letzten zwanzig Jahre Geschichte eines Volkes, das vergessen von der Weltöffentlichkeit um seine Rechte kämpft. Das Gebiet der Uiguren war über Jahrhunderte immer wieder Durchgangsland, sowohl wirtschaftlich wie militärisch. Die chinesischen Repressalien heute und in den vergangenen Jahrzehnten sind strategisch. Die Gegend muss «ruhig» bleiben, um all die geopolitischen Absichten Chinas durchzusetzen.
Alice Grünfelders Auftritt im schmucken Stadttheater Solothurns hat Eindruck gemacht. Nicht nur weil das orange Vorsatzpapier ihres Romans, das textile Buchzeichen, ihr pelziger Fingerring und die orange Hose mit chinesisch anmutenden Stickereien Ton in Ton zueinander passten. Eine Wüstengängerin erzählt von «der Wüstengängerin», eine leidenschaftliche Frau von einer leidenschaftlichen Frau. Ein Roman, der eine politische Dimension beinhaltet, ohne zu belehren, der nicht nur dokumentieren will, ebenso unterhalten. Ein Roman, der fasziniert und mehrfach erstaunt.

Auch bei der 1979 geborenen Regula Portillo ist das Stadttheater proppenvoll. Ob Heimspiel, weil sie im Kanton Solothurn aufwuchs oder angelockt vom Mut einer jungen Frau, die ein Stück Geschichte Lateinamerikas aus der Sicht von Schweizern erzählt, bleibe dahingestellt.
Eine Parallelerzählung von Eltern und Töchtern, von einem zehnmonatigen Aufenthalt eines Ehepaars in Nicaragua während der Revolution, den Kämpfen zwischen Sandinisten und von den USA unterstützten Contras. Und den Töchtern, die nach dem Tod der Eltern das Haus räumen und erst da entdecken, dass die Eltern in ihrer verschwiegenen Vergangenheit ganz andere Leben führten. Sie entdecken die Hinterlassenschaft zweier Brigadisten aus der Schweiz, eines Paars, das in einer ganz anderen Welt an den Umständen von Revolution und Zerrissenheit zu zerbrechen drohte.
Viva Nicaragua! Viva la Revolución! Eine Mission voller Enthusiasmus, die an der Wirklichkeit zu scheitern drohte. Eine zehnmonatige Reise der Eltern in den 90ern in ein Land, in dem Umsturz, Revolution und neue Ideen das erreichen sollten, was in vieler Hinsicht nicht einmal im Heimatland zu erreichen war.
«Warum verschwand Jahrzehnte später das, was zuvor eine ganze Generation beschäftigte?», war eine der Motivationen der jungen Autorin Regula Portillo. 800 Schweizerinnen und Schweizer zogen damals nach Nicaragua, in der Absicht, sich an historischen Prozessen zu beteiligen. Eine Revolution, die in Lateinamerika stattfand, aber in den Herzen eingeschlossen in viele Länder zurückgetragen wurde, eingehüllt von Enttäuschung und Kränkung.
Nicht einfach ein Roman über die Revolution in Nicaragua! Wie weit dürfen wir uns in die Geschicke eines «fremden» Landes einmischen? Was nehmen Eltern mit dem Sterben mit ins Grab? Wo bleiben all die Geschichten, die unwiderruflich dem Vergessen drohen? Auch ein Roman über die Rolle der Frau, über ein Paar, das sich aussetzt, das Scheitern, über den Tod.

Ich bin nicht enttäuscht. Aber im Grunde genauso ratlos wie die junge Frau im Landhaussaal in der Reihe vor mir. Während Solothurn unter der Vorsommersonne voll mit jungen Menschen ist, die am Ufer der Aare ihre Seele baumeln lassen, bleiben die «Alten» unter sich. Und wenn die Solothurner Literaturtage dereinst auch das Pensionsalter erreichen sollten, bleibt die Frage existenziell, wie die jungen Generationen von Literatur erfolgreich infiziert werden sollen.

Titelbild: Alice Grünfelder und Moderatorin Bernadette Conrad

Martina Clavadetscher «Knochenlieder», edition bücherlese

Martina Clavadetschers neues Buch «Knochenlieder» ist ein Buch der Sonderklasse. Ein Buch, das ich nach der letzten Seite sofort noch einmal zu lesen beginne, weil ich mir möglichst wenig entgehen lassen will. Ein Buch wie ein Monolith; geheimnisvoll, auffällig, sich von allem anderen absetzend. Ein Buch, das gelesen werden muss und dem ich von Herzen die ihm gebührende Aufmerksamkeit wünsche.

In einer Zeit in der Zukunft, in der die Welt nur noch im Ausnahmezustand zusammenzuhalten ist, lebt eine kleine Gruppe Menschen in einem Dorf am Hang. Mehr eine Kleinstsiedlung von Aussteigern, vier Wohnhäuser, Familie Blau, Familie Weiss, Rot und Grün. Ein Versuch im Kleinen, sich dem Grossen nicht ergeben zu müssen.

Vier Familien aus einer Zeit, in der sie noch andere Namen trugen, auch auf Papier und Pässen. Aber weil die eine Familie dann auch noch die Fensterläden rot bemalte, wurden aus den Farben Namen. Die alten Namen blieben Relikte aus der Vergangenheit, einer endgültig verlorenen Zeit. Während draussen in Städten, auf dem ganzen Kontinent, die Welt zerfällt, versuchen die vier Familien Gemeinschaft aufrecht zu erhalten und von dem zu leben, was Natur und Arbeit hergeben. Vier Familien mit Grundsätzen, hinter denen aber die Angst und der Wille zum Überleben überwiegen. Alles von aussen, selbst Medizin und Medikamente, bedroht das Zusammenleben, schlägt Keile in die wacklige Gemeinschaft. Bis sich eines Tages doch der Nachwuchs einstellt. Aber die Stachel von Misstrauen und Unterstellung sind längst tief in die kleine Gemeinschaft eingedrungen. Und als die Geburt der kleinen Rosa Grün gefeiert werden soll, eskaliert der schwelende Konflikt. Jakob schlägt zu und die Gemeinschaft zerbricht. Im zweiten Teil macht sich Pippa, die Tochter von Rosa Grün mit dem Amulett ihrer Mutter am Brustbein auf die Suche nach ihrer Mutter. Eine schnelle Fahrt auf dem Motorrad durch eine Welt wie im ersten grossen Science Fiction von Ridley Scott «Blade Runner» .

Kein Roman wie üblichen, kein Theater auf Papier, keine Lyrik und doch traumwandler-, alptraumwandlerisch. Martina Clavadetscher schreibt und dichtet, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihr Buch, das sich auf dem Umschlag Roman nennt, erzählt, singt, spricht, denkt, lockt und zieht mich in einen Sog, von dem ich als passionierter Leser bei jedem Buch mit Erwartung hoffe. Schon auf den ersten Seiten verspricht Martina Clavadetscher viel und schenkt im Verlaufe des Buches noch viel mehr, erst recht auf den letzten Seiten. Sie erzählt von einer nicht fremden Zeit in der Zukunft, die fast alles genommen hat, in der die letzten Reste Freiheit den Menschen leben lassen und Hoffnung fast ausschliesslich gegen innen gerichtet ist. Martina Clavadetschers Roman ist eine Offenbarung. Nicht nur weil er Stellung zur Gegenwart nimmt, sondern weil er sich Wörtern und einer Spache bedient, in der die Poesie keinen Platz zu haben scheint, als späche sie nur noch aus Wörtern und Sätzen. Wie Martina Clavadetscher in einem einzigen Satz ein grosses Bild entstehen lassen kann, wie trotz der Knappheit der Sätze Bilder in Cinemascope erzeugt werden; lange Einstellungen, kaum Bewegung mit maximalem Effekt, ist grosse Kunst. Während des Lesens streiche ich mir Passagen an, die ich später noch einmal lesen will, nicht des Inhalts, sondern der Musik wegen. Ein phantastisches Buch, ein phantastisch gutes Buch, das man nach der letzten Seite noch leicht betäubt in Händen hält, schon geschlossen, den Nachglanz geniessend. «Knochenlieder» ist ein Buch darüber, was bleibt, wenn nichts mehr ist, wie es einmal war. Auch ein Buch über Familie, die Sehnsucht nach einem Ort, wo man hingehört. Dass Martina Clavadetscher Theatermacherin ist, spürt man dem Text an, hört man, versteht man. Sie gibt nur das Nötigste vor, zwingt den Leser, das Geschehen aufzufüllen, zwingt ihn mitzugehen, mitzudenken.

Wer Mut hat, wird belohnt, auch die Jury des Schweizer Buchpreises 2017!

Ein Interview mit Matina Clavadetscher:

Ihr Roman spielt in einer düsteren Zukunft, einer Zukunft, die in der Gegenwart längst begonnen hat. Dystopien scheinen Hochkonjunktur zu haben. Und doch ist die Zukunft in ihrem Roman nicht einfach Kulisse. Wollen sie warnen, aufrütteln oder ist ihr Blick in die Zukunft Programm?
Der Blick in die Zukunft, in die nahe Zukunft, wenn man so will, ist insofern Programm bzw. Absicht, als dass ich damit gewisse gesellschaftliche, politische und technische Tendenzen weitertreiben konnte – ich konnte in eine Extreme schreiben, die beklemmt und aufrüttelt. Trotzdem scheint diese zugespitzte Sicht nachvollziehbar, in gewissen Momenten sogar vorstellbar. Und doch: selbst in einer dystopischen Zukunft bleiben ganz ursprüngliche (archaische) Ängste und Sehnsüchte erhalten – Menschlichkeit überdauert und trotzt den Umständen.

Beim Lesen ihres Romans staune ich ob der Sprache, ihrer Sicherheit und der Fähigkeit, selbst mit Wörtern und Satzfetzen aus der Computerwelt Poesie zu erzeugen. Rührt ihre Selbstverständlichkeit mit Sprache den richtigen Ton zu finden aus dem Theater, dem laut gesprochenen Wort?
Ich wollte mir sprachlich und formal für einmal keine unnötigen Grenzen setzen. Deswegen mäandriert der Roman durch das Lyrische, das Prosaische und – in den szenischen Dialogen – gar durch die Dramatik. Das laut gesprochene Wort war bei der Überarbeitung enorm wichtig – um Klang und Rhythmik zu prüfen, habe ich den Roman etliche Male laut gelesen. Gut möglich, dass ich durch meine Arbeit mit Theatertexten keine Furcht vor der sprachlichen Umsetzung ins unmittelbar Reale habe. 

Die Form ihres Romans ist eine aussergewöhnliche. Wer beim Kauf am Büchertisch die Seiten am Daumen springen lässt, wird merken, dass ihr Roman ein unübliches Gesicht hat. Zugegeben, es macht das Lesen einfacher, hilft, die Geschichte zu strukturieren. Andere Autoren schreiben ohne Punkt und Komma in Blocksatz und scheinen alles verhindern zu wollen, was mir als Leser hilft. Ihr Text lädt ein zum Rezitieren. War diese Form schon zu Beginn des Schreibens klar?
Diese Form schien von Anfang an die einzig richtige zu sein. Ich habe den gesamten Roman in einer ersten Fassung von Hand geschrieben – das Physische der Handschrift hat hierbei sicher seinen Teil dazu beigetragen. Ich erkannte, dass diese Mischform (Lyrik, Prosa, Dramatik) einen ganz eigenen Reiz besitzt: Sie erzeugt Tempo, lässt formale und inhaltliche Spielereien zu, sie ermöglicht Leichtigkeit und zugleich die Betonung des Inhalts durch die Form.
Und nicht zuletzt hat das Schreiben auf diese Weise unfassbaren Spass gemacht.

Während des Lesens waren kurze Momente der «Besinnung» unausweichlich, Gedanken darüber, wo in der Gegenwart die Zeichen «ihrer» Zukunft zu finden sind. Das ist nicht schwer angesichts der Aktualität. Sind sie Optimistin?
Mein Optimismus schwankt wöchentlich. Und obwohl es sein mag, dass «Knochenlieder» ein düsterer Roman geworden ist, sehe ich durchaus auch die wichtigen Lichtblicke darin: die Hoffung, die Liebe, die Sehnsucht nach Freiheit, die unablässig gesucht wird. Grundsätzlich bleibt mein Glaube an das Gute im Menschen – egal wie kitschig das klingen mag – sehr eisern.  

Ihr Roman ist auch ein Buch über Heimat, darüber, wonach sich Menschen sehnen, nach Familie, einem Ort, der Sicherheit schenkt. Wo ist ihre «Heimat»? Ist es das Schreiben?
Schön, dass sie das Thema «Heimat“ dem Roman entzwirbelt haben. Tatsächlich sind gefühlte Orte wie „innen“ und „aussen“ (gefangen und frei – sicher und unsicher) in jedem der Teile ganz wesentlich verankert. (Wobei das vermeindlich „schlechte“ nie wie geglaubt von aussen kommt, sondern stets von innen und aus den eigenen Reihen.) Was meine Heimat betrifft: Im Schreiben fühle ich mich sehr zu Hause. Es beruhigt mich. Meistens. Meine erschriebenen Welten sind mir Urlaubsorte, Spielwiesen und Höllen zugleich.

Liebe Martina Clavadetscher, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten!
Haben sie vielen Dank für die spannenden Fragen!

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin und Dramatikerin sowie als Radiokolumnistin. Ihr Prosadebüt Sammler erschien 2014 im Verlag Martin Wallimann. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. 2016 wurde sie für das Theaterstück Umständliche Rettung mit dem Essener Autorenpreis ausgezeichnet, für das Manuskript Knochenlieder erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Martina Clavadetschers Webseite

Titelbild: Sandra Kottonau

Peter Weibel «Mensch Keun», edition bücherlese

Hannes ist alt und lebt abseits eines Dorfes. Nur noch selten geht er den Weg hinunter ins Dorf, weg von seinem Haus. Hannes ist Holzbildhauer, Künstler, schnitzt, haut, meisselt und raspelt seinen Mensch Keun, eine mannshohe Figur, die sich erhebt. Der Erzählung vorangestellt ist der Satz «Für Hannes – und für die unbekannten anderen, denen die Kraft zum Aufstehen fehlt.» Hannes steht auf, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Hannes sieht, was aus dem Holz werden soll, schon lange bevor die Figur und ihre Details sichtbar werden. Während die Erinnerungen an seine Frau, die der Krebs zerfrass, die er bis zuletzt in seinem Haus in den Tod begleitete, bleiben, dieses Gefühl von Einsamkeit, des Verlassen-werdens. Mensch Keun steht als Verwundeter, Gefallener wieder auf, so wie Hannes, der immer offensichtlicher mit den Tücken des Alltags zu kämpfen hat. Auch wenn ihm Judith, seine Tochter alle zwei Wochen zur Hand geht, Ordnung in das ins Stolpern und Stocken geratene Leben bringt und Nora, die Frau von der Pflege, die immer ein offenes Ohr hat, ihre Hilfe nicht als mechanisches Verrichten versteht. Überall im Haus hängen kleine, von Hand geschrieben Zettel. Sätze, die Hannes nicht einfach dem Vergessen preisgeben will. Erinnerungen daran, dass das Leben und die kleinen Verrichtungen des Lebens in ein grösseres Ganzes gehören, dass man leicht aus den Augen verliert. Aber die Besuche der Pflegerin Nora werden immer seltener, so wie alles immer weniger wird, auch die Sicherheit darüber, dass Mensch Keun jemals fertig  wird. Ob die Kraft ausreichen wird, seine Aufgabe zu beenden. Hannes humpelt seinem Leben immer mehr hinterher, immer mehr allein gelassen, umgeben vom Sterben, den schwindenden Kräften. Erst recht, als Übereifer und «Pflichterfüllung» das drohende Gespenst der Heimeinweisung zu einem handgreiflichen Überfall werden lassen und Hannes niederzustrecken drohen. Aus dem Former Hannes, umgeben von seinen Figuren und den Spänen auf dem Boden, wird ein in sich zerfallenes Häufchen Elend im Rollstuhl.

Peter Weibel macht die Entwurzelung eines alten Mannes zur literarischen Kampfschrift. Aber es ist eine Kampfschrift der leisen Töne. So wie der Holzbildhauer Hannes ins Wesen des Holzes hineinschlüpft, so sehr schlüpft Peter Weibel in den alten Mann Hannes. Er versteht ihn auch dann noch, wenn Alter, Verwirrung und Gebrechen ein altes Leben fast unerreichbar werden lassen. Peter Weibel beweist unendlich viel Feingefühl, sowohl für die Sprache, wie auch für den Menschen Hannes, seinen Mensch Keun, der sich wieder aufrichtet, dem während des Lesens alle Sympathie entgegenströmt. Aber auch sein Verständnis darin, aus einem Stamm Holz einen kunstvollen Körper entstehen zu lassen – so als ob Peter Weibel im Schreibtisch Holzhammer und Stechbeitel liegen hätte. Peter Weibel schreibt engagiert und trotzdem unaufgeregt, mit Distanz und grosser Empathie, auch wenn Wortmeldungen jener, die sich wegen Hannes Schicksal in die Haare geraten hölzern und steif wirken.

«Mensch Keun» ist ein Kunst- und Schmuckstück, nicht zuletzt, wenn man es in Händen hält. Die Verlegerin Judith Kaufmann gab der Erzählung einen Einband wie ein Stück Holz. Wer das Büchlein in Händen hält, fährt wie Hannes über das Holz von Mensch Keun. Ein Buch, das mitten ins Herz zielt.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemein praktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.

39. Solothurner Literaturtage: Manchmal heiss, manchmal lau

Freitag, erster Tag an den Solothurner Literaturtagen. Die Menschen strömen in Säle und Räume, obwohl draussen die Sonne scheint. Auch wenn dem Literaturfestival kein Thema voransteht, versucht man sich angestrengt, den drängenden Fragen der Zeit Raum zu geben; die aktuelle Flüchtlingskrise, wie viel Optimismus die Gegenwart erlaubt und was Fake-News, Populismus und Nationalismus mit der Welt anrichten.

Kathy Zarnegin, die mit ihrem ersten Roman «Chaya» die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das Teheran verlässt, um in Zürich Schriftstellerin zu werden, sitzt zwischen Ilija Trojanow, dem engagierten Schriftsteller, Verleger und Sachbuchautor und Jonas Lüscher, der nicht erst mit seinem zweiten Roman «Kraft» in aller Munde ist. Ein Gespräch wie ein Paukenschlag zu Beginn der Literaturtage. Ein Gespräch, das klar macht, wie schmerzhaft die Position der Schreibenden sein kann, allein zwischen Geschehen, Fiktion und dem leeren Blatt Papier. Ilija Trojanow nimmt kein Blatt vor den Mund, gibt sich bissig und unnachgiebig, ist überzeugt davon, dass die meisten Politiker von den wahren Problemen der Menschheit ablenken, dass wir in einer Dauerhysterie leben, angestachelt von Politikern und Demagogen, die Ängste schüren. Ausgerechnet in Europa, einer Weltgegend, die sich wie keine andere in nie dagewesener Sicherheit und unanständigem Reichtum abschottet. Trojanow ist klar und unmissverständlich, versteckt sich nicht hinter Begriffen und geschliffenen Sätzen. Er sprudelt, ohne Gespenster an die Wand zu malen. In seinem Buch «Nach der Flucht» erzählt er aus der Perspektive eines ewig Flüchtenden. «Der Flüchtling ist meist ein Objekt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Eine Zahl. Ein Kostenpunkt. Ein Punkt. Nie ein Komma. Weil er nicht mehr wegzudenken ist, muss er ein Ding bleiben. Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.»

Ebenso eindringlich und beeindruckend der Autritt von Dina Sikirić mit ihrem Debütroman «Was den Fluss bewegt». Dina Sikirić kam zusammen mit ihrer Mutter als kleines Kind von Zagreb nach Basel. In ihrem Roman schreibt sie aus der Sicht eines fünfjährigen Mädchens, äusserst behutsam. Sie schreibt vom schmerzhaften Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland. Sie zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre. Der Saal war so voll, dass man Besucher wegschicken musste.

Dass es aber auch schwierig sein kann, fast unmöglich, bewies ein Gespräch zwischen Jonas Lüscher, der jungen deutschen Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die mit ihrem Buch «Gott ist nicht schüchtern» das Schicksal zweier Flüchtenden aus Syrien erzählt, dem Journalisten und Korrespondenten Peter Voegeli und dem Literaturredaktor Hans Ulrich Probst. Das Thema eigentlich wäre spannend gewesen: «Die Macht der Geschichten». Aber ganz offensichtlich liess sich das Gespräch nicht in jene Bahnen lenken, die das Publikum 75 Minuten in den Bann hätte ziehen können. Ein Gespräch, das übel dümpelte, bei dem niemand das Steuer herumzureissen wagte, dafür bis zur Unerträglichkeit in Banalitäten waberte. Ein voller Landhaussaal wartete auf engagierte Statements, darüber, was sich jeder Schreibende erhofft, mit Sicherheit die drei Autoren auf der Bühne, die von ihren Geschichten leben, auch von der Macht ihrer eigenen Geschichte.

Mein ganz persönlicher Favorit des ersten Tages ist Martina Clavadetscher mit ihrem ersten Roman «Knochenlieder», eben besprochen auf literaturblatt.ch. Martina Clavadetscher ist eine Entdeckung, ihr Roman ein sprachliches Kunstwerk, ihr Auftritt erfrischend.

André David Winter, Gedichte aus der Schublade

Die Farben

Als wären wir Entdecker
Suchen wir die Farben,
Die hier an den Rand
Wichen.
Schwarze Äcker
Liegen wie Narben
In den weissen Land-
Strichen.

Wo ist anderes Wetter?
Wo sind die Blätter,
Die mit ihren Farben
Um uns warben.

Sind sie in uns verschwunden?
In langen Abendstunden
Holen wir sie heraus
In irgendeinem Haus,
Und bringen die feuchten
Abende zum Leuchten.

Ein blauer Tag

Auf den Bergen liegt Schnee,
Kormorane spreizen ihre Flügel.
Licht funkelt auf dem See,
Nebel, noch hinter dem Hügel.

Von irgendwo kommt ein Weg,
Weit weg, ein einsamer Geher,
– Möwen auf dem alten Steg –
Seine Schritte kommen näher.

Dies stille Land
Im Wintergewand.
Wasser legt Wellen
In den hellen
Sand.

Ein blauer Tag!
Auf dem See
Ein Flügelschlag.
Die Kälte tut weh,
Greift jeden Duft
Aus der kalten Luft.

Langsam naht die Nacht,
Das Licht schon blasser,
Ein Schwan landet sacht
Auf dem dunklen Wasser.

Die Nacht wird dichter,
Aus weiter Ferne
Glänzen die Lichter
Unbekannter Sterne.

So viele Hände
Haben nichts mehr zu tun.
Ein Tag geht zu Ende,
Und alles darf ruh’n…

 

Zu «Jasmins Brief», André David Winters letztes Buch: Käthe, alt und müde, weiss, dass ihre Tage gezählt sind. Selbst die paar Scheiter für den Ofen werden zur Strapaze. Und jeder Gang nur erträglich, wenn sie die kleine Flasche mit Morphium in Griffnähe weiss. Käthe ist allein. Ihr Mann, vor Jahren gestorben, verriet ihr auf seinem Sterbebett, dass sie nicht seine Einzige war. Käthe muss feststellen, dass sie bloss Stellvertreterin war. Sie blieb kinderlos in einer Ehe, in der sie schnell spürte, «dass etwas nicht stimmte». Aber sie schickte sich hinein. Käthe räumt auf, liest endlich den Brief, den sie schon lange mit sich herumträgt. Den Brief von Jasmin, auch eine Stellvertreterin, eine für die Enkelin, die sie so gerne gehabt hätte. Und Käthe denkt an Tolstoi, dem es noch kurz vor seinem Tod gelungen war, aus einer Ehe zu entfliehen, in der es nicht stimmte. Aber Käthe blieb. André David Winter schlüpft mitten ins Herz einer Frau, die nichts bereut, auch wenn es in ihrem Leben Gründe genug gegeben hätte, zu hadern und zu brechen. Ein sprachlich feines Buch aus dem ebenso feinen Kleinverlag «edition bücherlese».

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz. Seine Kindheit verbrachte er bis zum achten Lebensjahr in Berlin. Mit vierzehn verlor er seine Mutter. Nach Abbruch einer Lehre arbeitete André David Winter auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien. Es folgten die Ausbildung in der Psychiatrie sowie die Arbeit in Notschlafstellen und in einem rumänischen Kinderheim. Heute arbeitet Winter als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen. 2008 erschien sein Roman «Die Hansens», der von den Medien und dem Buchhandel begeistert aufgenommen wurde. 2012 folgte «Bleib wie du wirst. Deine Demenz, unser Leben». Zuletzt erschien bei edition bücherlese «Jasmins Brief».
André David Winter ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Emmen bei Luzern.