– Tue doch kes Büro uf! – Mou! Gnau das wotti: Es Büro uftue! – För was? Ged’s ned scho gnueg Büro? – Settegi ned, nei! – Settegi … Meinsch du bsonderegi? – Jo, mou – das wett ech met eme gwösse Stouz behoupte! – Was esch öberhoupt es Büro? – Hmmmh … es Büro esch e Ruum ond e dem Ruum passiert öppis Bestemmts! – Hesch scho bestemmt, was das Bestemmte söu sy? – Klar! Meinsch, ech eröffni e Ruum em loftlääre Ruum?! – Aaaha! Du eröffnisch auso e Ruum em Ruum … esch das rechtig? – Me chönnt’s eso uusdröcke. Es ged eigentlech gar nüd anders of dere Wäut aus Ruum em Ruum. Wechtig esch, was deby entstoht! – Äbe! Ond was wär das, wemmer daf frooge? – Das chan-ech zom jetzige Zytponkt ned gnau ustüütsche. Was feschtstoht: Eso-n-es Büro esch es «work in progress», kes Fertigprodukt! – Danke! Jetz han-ech aber no e ganz grondsätzlechi Froog: Hesch du dä Ruum besch du dä Ruum? – DU stöusch Froge … aber mosch entschoudige: Of die verautet Buechhautig wett ech mech hött lieber ned iiloh. – Wieso ned? – Wöus för d’Föchs esch! Aber wenn partout en Antwort muess sy: Ech be de Ruum, won’i ha … Haut – no besser : Ech be de Ruum, wo n’ech mer neme. Gnau. Das esch es! – AHA! Das verstohni. Hättsch’es ou grad vo Aafang a chönne sääge.
Ruum ond Zyt
Me seid, s’Alter isch Zyt, wo verstriecht. Isch s’Alter ned au e Ruum, wo mer föllt? Wo mer föllt mit sich sälber? Mit de Art, wie mer s’Läbe aapackt? Klar, me wird au vom Läbe säuber am Chraage packt, gschöttlet und drinumegwirblet. Dem cha niemer entgoh. Ich glaube, s’Läbe isch grösser als ich sälber, viel grösser. En unändlech grosse, vielfältige Ruum. En einzigi grosse Iiladig, mich drininne z’bewege.
Ein Raum muss sein must wachsen un wölben un schalten un walten und hegen un pflegen de Bausch vo die Wörter die Reihen und Ranken die Auswüchs un Schranken must sammeln un schützen must stützen die Pfützen der Tinten und Tanten un aller Verwandten die Lesestoff bunkern un Lesestoff fressen und völlig vergessen dass das was sie lesen mit einem Langbesen kann weggewischt werden im Nu un dann zeterest du nach mehr Poesie dem Niemalsversiegen und Niemalserliegen des sprudelnden Quell im Büchergestell im Kopf und im Herzen die Freud und die Schmerzen ich sag dazu nur: Lang lebe die Literatur.
Alle Texte sind von Christine Fischer. Gallus Frei dankt der Schriftstellerin für die Erlaubnis, die Texte an dieser Stelle zu veröffentlichen.
Luise will über ihre Mutter schreiben, nachdem sie schon lange Textschnipsel gesammelt hatte. Jetzt in den Tagen des ersten Lockdowns, als die Mutter im Altenheim allein zu sterben droht. Eine Auseinandersetzung, die immer mehr eine mit ihr selber wird, dem eigenen Muttersein, den vielen kleinen angestauten, nie verarbeiteten Verletzungen, der Endlichkeit und der unstillbaren Sehnsucht nach Nähe.
Eine Erzählung im Corona-Licht, der Corona? Ich habe eigentlich gar keine Lust, solche Bücher zu lesen. Schon gar keinen Corona-Roman, eine Corona-Erzählung. Als ich im Juni die Erzählung „Corona“ von Martin Meyer zugesandt bekam, rutschte sie ungeöffnet, in der Plastikfolie eingeschlossen auf die Beige jener Bücher, die schon nach dem ersten Blick darauf unlesbar wurden. Vielleicht kann ich dereinst Literatur lesen, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. Aber solange ein zu grosser Teil der Bevölkerung paralysiert von diesem Thema zu sein scheint, solange sich Menschen förmlich an der Auseinandersetzung aufgeilen und alle Contenance verlieren, Gift und Galle spucken, solange habe ich keinen Bock (Man verzeihe mir die Ausdrucksweise!), mich auch noch in der Welt der Literatur, im Sprachgenuss, meinen Sinnesreisen freiwillig in diese aufgeladenen, explosiven Gefilde zu wagen, in denen man immer mehr und aggressiver dazu gezwungen wird, Partei für eine der beiden Lager zu ergreifen.
„Vielleicht sind es Reisen, die nirgendwo hinführen.“
Aber weil es eine Erzählung von Christine Fischer war und nichts im Titel auf das Virus hinwies, begann ich zu lesen, ausgerechnet an jenem Sonntag, an dem ich ganz direkt an den Auswirkungen des Virus zu leiden hatte. Ich las das Buch, weil es mich auf eine seltsame Weise tröstete. Nicht weil da jemand litt, weil ich mit einem Mal ins grosse Kollektiv der Betroffenen gehörte, sondern weil es Christine Fischer in ihrer Erzählung nicht um das Virus, nicht einmal um die Auswirkungen geht, sondern weil „Herz.Kranz.Gefäss“ ein zärtliches Nachspüren ist. Christine Fischer beschreibt das Augenreiben, das Erwachen, die Aggregatzustände des Bewusstseins, wenn eine greise Mutter langsam entschwindet, wenn sie unsichtbar wird, wenn man sie zu verlieren droht im Wissen darum, dass es unvermeidlich ist. Eine Erzählung über Mutter-Tochter-sein, wenn man selbst schon alt und doch noch immer Tochter oder Sohn einer Mutter ist, wenn einem bewusst wird, dass Versäumnisse nicht mehr nachzuholen sind, wenn der Tod sich unmissverständlich ankündigt.
„Mütter sind das Plasma, das dir in den Adern kreist, denkt Luise. Sie sind die Schwelle an deiner Tür und der Riegel an deinem Fenster.“
Erinnern sie sich, als man während der ersten Corona-Monate von einem neuen Bewusstsein sprach, einer neuen Solidarität? Nichts ist geblieben davon. Mit jeder neuen Welle wird die Stimmung gehässiger. Menschen damals applaudierten den Tapferen in den Spitälern. Das war durchaus ein Zeichen, wenn auch wenig daraus geworden ist. Andere machten auf Balkonen Musik, man kaufte füreinander ein und spürte mit einem Mal, was eigentlich wichtig wäre, worauf man alles verzichten könnte, wie schnell ein Wandel vollziehbar wäre, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit schlafwandlerischer Selbstgefälligkeit bewegen. Nichts ist geblieben. Statt dessen keifen die einen, erpressen die andern. Des einen Wort wird des andern Speer!
Christine Fischer erzählt mit spürbarer Betroffenheit, grosser Empathie. Und doch ist ihre Erzählung weit weg von einer Abrechnung, von Stimmungsmache. Luise will verstehen, die Vergangenheit, die Gegenwart und das kleine Fitzelchen Zukunft, das noch bleibt.
Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St.Gallen und war vierzig Jahre lang als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005), «Nachruf auf eine Insel» (2009), «Els» (2014), «Lebzeiten» (2015) und «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» (2017). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen.
Kein Roman, keine Erzählung, kein Gedicht. Vielleicht philosophische Prosa. Ganz sicher Gedanken über die Hintergründe der Dinge, die abgewandten Seiten, die Unterböden, auf denen wir stehen, die aber fast immer unsichtbar sind. Ein Büchlein wie ein Brevier. Aber nicht so einfach hingebetet, keine Litanei, keine Allgemeinheiten.
Christine Fischer interessiert sich für Innenwelten. In ihren Büchern beschreibt sie Menschen in ihren Zweifeln, Abgründen, geht ihnen ganz nah. Dieses Büchlein blickt von Innen nach Aussen. Es bildet ab, was die Autorin denkt, fühlt und sieht; Das Denken um die Welt, das Fühlen einer Empfindsamen, das Sehen einer Frau, die weit über den eigenen Nabel, die eigene Nasenspitze hinaussieht. Fast hundert kurze und kürzeste Gedankenfenster mit den Kapitelüberschriften «Anrufungen», «Mutmassungen», «Anfechtungen», «Behauptungen», «Bedachtsamkeiten», «Begründungen» und «Lobpreisungen». Begriffe, die aus der Zeit gefallen scheinen, für die es sonst keine Verwendung mehr zu geben scheint. Ein Büchlein, das in der Buchhandlung in kein Regal passt, nicht zu Lyrik, nicht zu den Ratgebern, kein Reiseführer. Aber genau das ist es, was den Reiz dieses Büchleins ausmacht. Christine Fischer muss nichts mehr beweisen. Am allerwenigsten, dass sie schreiben kann, dass sie denken kann, dass Sprache ein Instrument ist, das ebenso Klang wie Wirkung erzeugt.
Das rosa Büchlein (Die Farbe vertrage ich auch in diesem Fall nur schlecht. Keine Ahnung, wie der Verlag zu dieser Farbe kommen konnte! Kein Deut von einer rosa Brille! Auch kein Wohlfühlbüchlein!) lag ein paar Tage auf meinem Nachttischchen. Christine Fischers kleine Texte begleiteten mich in die Nacht, an den Schlaf heran, dort, wo Gedanken sich freimachen. Einmal nahm ich das Büchlein mit in den Zug, las darin im Stehen gleich neben der Tür, weil der Zug so voll war. Irgendwann spürte ich die Blicke auf mir und dem kleinen rosa Büchlein. Nicht nur die Farbe verunsichert, manchmal tun es auch die Texte. Sie beschwört die Müdigkeit, bei ihr zu bleiben, den Zorn und die Fäulnis. Sie mutmasst, ob es tote Dinge wirklich gibt, was Pflanzen täten, wenn sie Wetterprognosen lesen würden. Christine Fischer nimmt die Nacht ins Visier, weiss, dass sie Nacht am Gürtel ein Messer trägt, mit dem sie Taue kappt, die einem mit dem Ufer der Gewissheit verbinden.
Kaum ein Text tut, was Morgenbetrachtungen tun. Sie schützen nicht, klären nicht, trösten nicht und beschwichtigen nicht. Sie rütteln und trotzen, sie zerren und stossen. Christine Fischer mischt sich ein, tut dies mit Poesie und Sprachgewalt.
Die Graphit-Zeichnungen wurden vom St. Galler Künstler Jan Kaeser eigens für dieses Buch erstellt. Er liess sich von den Texten «erschüttern und erregen». Diese inneren Bewegungen habe er gleich einem Seismographen während des Lesens direkt mit dem Graphitstift auf Papier übertragen. Im Buch sind Ausschnitte davon abgebildet. Die beiden Künstler verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Etwas, das spürbar wird, wenn man sich auf Zeichnungen und Texte einlässt.
Ein Interview:
Deine Texte in deinem Buch machen ganz und gar nicht den Eindruck, als hättest du sie in eine Ordnung gebracht, Titel dazugeschrieben und sie so zu einer Einheit gemacht. Wie entstand dieses Buch? War da ein Plan, eine Absicht? Wie so oft beim Schreiben, entstand der Anfang zufällig. Ein Schriftstellerkollege hatte mir gesagt, dass ich an den Anfang meiner Texte oft eine Behauptung stelle. Gut, dachte ich mir, so behaupte ich nun absichtlich! Und da ich in jener Zeit oft an Betten von Sterbenden wachte und ein ganz neues Verhältnis zur «Nacht» entwickelte, stelle ich als erstes Behauptungen zur Nacht auf. Nicht alle meine Gedanken konnte ich dort subsumieren, also suchte ich nach weiteren «Klarsichtmäppchen», in denen ich meine Gedanken und Überlegungen zur Wahrnehmung der Welt unterbringen konnte. Um diese Einheiten gegeneinander noch besser abzugrenzen, wählte ich für jede eine besondere sprachliche Form, vom Duktus her oder grammatikalisch, beispielsweise den Konjunktiv bei den «Mutmassungen», die biblisch anmutende Sprache bei den Textfragmenten über die Liebe in den «Begründungen», oder den immer gleichen Anfang wie bei den «Lobpreisungen». Es liegt also durchaus einiges an formalen Überlegungen und Strukturarbeit in dieser Textsammlung. Ich bekam so richtig Freude daran, subtilere Gedankengänge zu beschreiben und nach geeigneten Titeln, Wörtern, Bildern dafür zu suchen. «Subtleties», hiess der Arbeitstitel, also Subtilitäten, denn ich wusste ja auch nicht genau, was hier im Entstehen begriffen war und wie es zu betiteln wäre. Bis heute tue ich mich schwer zu erklären, was diese Sammlung enthält. «Federwolken», das war auch so ein geheimer, vorläufiger Titel. Dieser Titel weist darauf hin, wie dieses Buch entstand: Zwar aus dem Blauen hinaus sich Textwölckchen und Wölckchen entwickelnd, seine Form suchend und findend, ordentliche Reihen bildend – und sich dem Zugriff entziehend, vorläufig, flüchtig.
Wie entstanden die einzelnen Texte? Wie bereits oben beschrieben, gab es eine initiale Sammlung von «Behauptungen zur Nacht», die aber ziemlich sofort nach weiteren Unterkapiteln rief. So entstanden parallel kurze Niederschriften auf Notizzetteln, die ich dann in der wachsenden Zahl von Titel Unterschlupf fanden, aber erst, nachdem sie sprachlich entsprechend gekämmt worden waren. Das ganze Konglomerat entstand über einen Zeitraum von etwa 4 Monaten. Ideen, Gedanken und ganze Sätze springen mich oft an im Halbwachzustand (Aufwachen, Einschlafen, Dösen), beim Spazieren oder beim Zugfahren, auch Abwaschen oder Staubsagen sind tolle Ideenbegünstiger. Der diskursive Geist muss abgelenkt werden, dann entsteht Raum für Subtileres, für «Federwolken». Ich glaube, dass jeder Mensch sich laufend ganz viele Gedanken macht zum Leben und seinen Erscheinungen, aber diese Gedanken vielleicht nicht erhascht oder sie ganz einfach nicht aufschreibt.
Die Texte lassen tief blicken, zeigen viel von dir. Wieviel Scham spielte bei der Auswahl der Texte? Ich glaube, ich liess mich leiten vom Anspruch der Wahrhaftigkeit. Wird man ihm gerecht, ist man geschützt von Gefühlen der Scham, der Entblössung. Es gelangt dann das zur Gestalt, was Gestalt annehmen will und muss. Nicht im Sinne einer Sendung oder Mission, sondern als Ausdruck von Erkenntnissen, die mehr kollektiver als subjektiver Natur sind. Also kein Erfinden, sondern eher ein Beschreiben von tieferen Schichten der Wahrnehmung, dem eigentlich Unnennbaren. Dies als Versuch, der durchaus auch scheitern oder irren darf.
Irgendwie erweckt dieses Buch den Eindruck, als wäre da drin Resümee, ein Statement zur Gegenwart und Zukunft. Was wünschst du dir? Ich glaube nicht, dass man Erkenntnisse zusammenfassen kann – jedes Leben ist
ein «work in progress», alles andere wäre niederschmetternd. Für mich sind diese Texte Verlautbarungen aus dem gegenwärtigen Moment heraus. Schon ein Tag oder auch nur eine Stunde später würde es wohl anders tönen. Aber natürlich steht da Vergangenheit dahinter, erlebte Geschichte, all das, was man Lebenserfahrung nennt, aber auch Nachdenken, Nachspüren und die Lust am Spiel. Zukunftsweisend möchte und kann ich nicht sein, doch ich wünsche mir, dass wir die Gegenwart in ihrer unglaublichen Vielfalt und Feinheit besser durchdringen, uns von ihr nicht nur bedrücken, sondern auch bezaubern lassen und es ab und zu wagen, eine «Lobpreisung» zu formulieren. Dies tut unserem ernsthaften Bemühen um die Welt und ihren Fortbestand keinen Abbruch, im Gegenteil.
Christine Fischer, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten.
Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen.
Buchvernissage «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» von Christine Fischer, Donnerstag, 26.Okt. 2017, 19.00, Raum für Literatur, Hauptpost St. Gallen. Veranstalter: kleinaberfein, St. Gallen, Musik: Maya Homburger, Violine. Graphit-Zeichnungen: Jan Kaeser, Kunstschaffender. Lesung, Präsentation, Apéro, Bücherverkauf, Gespräch.
Anlässlich einer Finissage las die St. Galler Schriftstellerin Christine Fischer im Kunstraum des Kornhauses in Rorschach unveröffentlichte Texte. Was sonst vielleicht nie an die Öffentlichkeit kommt, verzückte im hellen Raum am See eine aufmerksam zuhörende Schar Zuhörerinnen und Zuhörer. Christine Fischer zeigte, was sonst nie an die Oberfläche kommt: Arbeitshefte, Tagebücher, Notizensammlungen, Arbeitsbücher, kleine Notizblöcke und sogar den ersten «Roman», den sie mit zehn Jahren in ein Schulheft schrieb.
Angesprochen darauf, was nun mit solchen Texten geschieht, schickte mir Christine Fischer eine Auswahl kurzer Texte zu. Kombiniert mit Bildern, Skizzen und Zeichnungen von Philipp Frei werden diese Texte in unregelmässigen Abständen auf dieser «Plattform» erscheinen.
Nacht-Denken
Aus der Nacht ergibt sich ein Tag und aus dem Tag ergibt sich ein Wort, ein neues Wort. Aus dem neuen Wort ergibt sich ein Anfang und aus dem Anfang eine Fortsetzung. Aus der Fortsetzung ergibt sich eine Abfolge und aus der Abfolge eine Menschheitsgeschichte das ist schon krass. Aus der Menschheitsgeschichte ergibt sich ein Gewicht und aus dem Gewicht ein Ort. Aus dem Ort ergibt sich eine Grenze und aus der Grenze eine Angst so ist es immer. Aus der Angst ergibt sich eine Abwehr und aus der Abwehr eine Notwehr. Aus der Notwehr ergibt sich eine Zerstörung und aus der Zerstörung ein Leid, so gross wie der Erdball.
Aus der Nacht ergibt sich ein Tag und aus dem Tag ergibt sich eine Stunde und aus der Stunde ergibt sich eine Zeit. Aus der Zeit ergibt sich eine Entwicklung und aus der Entwicklung eine Erkenntnis wenn’s hoch kommt. Aus der Erkenntnis ergibt sich ein Kopfschütteln und aus dem Kopfschütteln ein grosses Gelächter. Aus dem Gelächter ergibt sich eine Freude und aus der Freude ein Fest. Aus dem Fest ergibt sich eine Nähe und aus der Nähe ein Vertrautsein, klein wie eine Kaffeebohne. Aus der Kaffeebohne ergibt sich ein Getränk, das alle Völker verbindet und aus der Verbindung ergibt sich ein Werk und aus dem Werk ergibt sich das Vergehen dieses Werks so ist es immer. Aus dem Vergehen dieses Werks ergibt sich ein neues Wort in einer neuen Zeit am alten Ort das wünsch ich mir.
Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich! Literarisches Schreiben ist mein unermüdlicher Versuch, meine Sichtweise der Welt (öffentlich) darzustellen. Um dem vertrackten Leben, dem Lebenssinn nachzuspüren. Meinem aktuellen «Stand der Erkenntnis» näher zu kommen, ihn zu umkreisen, im glücklichsten Fall ein paar Sätze lang zu erfassen – um ihn sogleich wieder zu verlieren ans Ungefähre.
Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest? Der schönste Moment ist, wenn unvermittelt ein Satz auf dem Papier, auf der Bildfläche steht, der aus einem Inneren aufgestiegen ist, als wäre es ein Äusseres und als wäre er von jemand anderem formuliert worden, etwas ausdrückend, das einem neu ist und gleichzeitig vom Ureigentlichen spricht.
Der schwierigste Moment ist, wenn die vermeintlich tolle Anlage des Textes sich als untauglich erweist.
Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle? Während des Schreibprozesses spielt alles eine Rolle. Es ist eine Zeit der intensivierten Wahrnehmung, in der Gehörtes, Beobachtetes, Geträumtes, Gedachtes, Gelesenes blitzartig Bedeutung bekommen kann und möglicherweise Eingang in den Text findet. Das ist schön, aber im Fall von intensiven Leseerlebnissen auch gefährlich, da es den Ton des eigenen Schreibens zu stark beeinflussen kann.
Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert? Texte sind naturgemäss erst einmal «Verstandesdinge». Sie werden – da Sprachmaterial – mit dem Verstand aufgenommen und aufgeschlüsselt, auf ihre Form, auf ihren Inhalt überprüft, mit eigenem Wissen, eigenen Erfahrungsschätzen abgeglichen. Deshalb werden von Schreibenden immer wieder ganz direkte politische, gesellschaftliche, kulturelle, philosophische Stellungnahmen gefordert. Die Schreibenden, welche ihre Stimme in diesem Sinne einsetzen, tragen meines Erachtens eine erhöhte Verantwortung, weil ihr Medium 1:1 verstanden werden kann, also ganz unmittelbar produziert und rezipiert werden kann. Sprache kann gewaltig wirken, mächtig sein, im Guten wie im Schlechten. Wichtig ist meines Erachtens die Debatte, die mehrdimensionale Sichtweise. Manchmal auch die Provokation.
Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung? Ich glaube, mehr als das Schreiben schärft das Lesen, schärfen überhaupt kulturelle Aktivitäten verschiedenster Art, die eigene Sichtweise. Das Schreiben ist für mich eher der Ausdruck eines vorangegangenen Bewusstseinsprozesses, der unter Umständen bereits jahrelang, lebenslang gelaufen ist.
Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen? Schreiben als Akt ist eine (köstlich) einsame Sache – der Ort muss es nicht sein. Das I-Pad ist für mich das geeignetste Instrument, um einen geschützten Schreibort herzustellen, wo immer es auch sei. Ähnliches gilt für das winzige Notizbüchlein.
Gibt es für dich Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Mein Schreiben ist ganz natürlich begrenzt durch meine Kompetenz als Schreibende. Ich kann mit Gewinn nur das leisten, was mir durch meine Begabung zu leisten möglich ist. Natürlich teste ich immer wieder Grenzen aus, um auf neues zu stossen. Oft weiss man erst, wenn man etwas geschrieben – und möglicherweise dem Öffentlichkeitstest unterzogen hat – ob ein Text, ein Genre für einen taugt oder nicht, ob man die eigenen Grenzen glücklich oder beschämend ausgereizt hat. Anstelle von Selbstzensur würde ich die Wichtigkeit von Selbstkritik setzen. Ausprobieren ja, unbedingt – und dann mit kritischem Geist beurteilen oder beurteilen lassen. Das Einhalten ethischer Grenzen ist für mich unabdingbar.
Erzähl kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den du vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben? Mit grossem Gewinn habe ich gelesen «H ist für Habicht» der englischen Autorin Helen MacDonald. Es handelt sich um eine faszinierende Mischung zwischen Belletristik und Sachbuch, ebenso sachlich wie poetisch, wild wie gezähmt, kulturgeschichtlich und zutiefst subjektiv, intelligent und intuitiv. Es erzählt vom Trauerprozess einer Tochter um ihren Vater, wie er wohl noch nie gelebt und beschrieben worden ist.
Zählst du 3 Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben? Als Kind: «Rösslein Hü». Ich weiss nicht, wie viele Male ich es gelesen habe. In der Kantonsschule: «Warten auf Godot» von Samuel Beckett. In den 90er Jahren: «Kapitän Nemos Bibliothek» von Per Olov Enquist. Um nur drei von unzähligen Rosinen rauszupicken.
Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wärst du nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich deine Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob du weiter schreiben willst? Ich war 40, als mein erstes Buch publiziert wurde. Ich hatte also die Alternative vorher gewählt: Logopädie. Nicht nur als Broterwerb, sondern als tolle Herausforderung, mit Sprache auf eine andere Art Umgang zu pflegen. Seit ich schreiben gelernt hatte, habe ich nie mehr damit aufgehört. Als dann aber 1981 in der Literaturzeitschrift «NOISMA» mein erstes Gedicht in gedruckter Form erschien, gab mir dies einen ungeheuren Auftrieb.
Was tust Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die dir nicht gefallen?Teilweise schenke ich sie weiter, teilweise wandern sie in die Frauenbibliothek «Wyborada», ins Antiquariat oder ins Brockenhaus. Zerlesene Bücher wandern ins Altpapier.
Liebe Christine, vielen Dank!
Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen. Webseite der Autorin
In ihrem neusten Roman «Lebzeiten» stehen Lore und Karl kurz vor der Pensionierung. Da diagnostiziert der Arzt eine Erkrankung, die Lore «Kopfgeschehen» nennt. Allmählich wird sie ihr Gedächtnis und die Sprache verlieren. Lore beginnt zu schreiben. Kein Tagebuch, sondern einen Brief an das Leben. Sie erzählt vom veränderten Zusammenleben mit Karl, von ihrer Arbeit als Kindergärtnerin, die nun gefährdet ist. Sie beschwört eine rätselhafte Libbe herauf und die Jahre mit ihrer besten Freundin Eileen, die Lore und Karl ihren kleinen Sohn anvertraut hat: Oliver. Doch Oliver ist inzwischen erwachsen und stellt seine Adoptiveltern auf eine harte Probe. Die Krankheit schreitet fort, verändert Lores Sprache. Doch Lore gibt nicht auf. Auch als ihr die Wörter mehr und mehr entgleiten, hält sie die Zwiesprache mit dem Leben aufrecht und öffnet sich neuen Erfahrungen.
Das war der 2. Teil einer kleinen Reihe. Am 1. August antwortet Klaus Modick. Seien Sie wieder dabei!