Ulrich Woelk «Der Sommer meiner Mutter», C. H. Beck

Im Juli 1969 stecken die Amerikaner ihre Fahne in den staubigen Sand des Mondes. Die ganze Welt schaut zu. In jenem Sommer, «dem Sommer meiner Mutter» wird der Mond für den elfjährigen Tobias zum Sinnbild totaler Veränderung, denn in jener Nacht implodiert sein Weltbild, wird eine grosse Schuld geboren.

Im Sommer 1969 wankt Deutschland in den Nachbeben der Hippiezeit, der sexuellen Befreiung, mehr oder weniger unterschwelliger Rebellion und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. In diesem wirren Sommer findet der elfjährige Tobias in seinen neuen Nachbarn und der um ein Jahr älteren Rosa, jene erste Liebe, die sich unweigerlich und unauslöschlich ins Bewusstsein eines jeden brennt.

45 Jahre später ist aus Tobias ein Astrophysiker geworden, der an der Rosetta-Mission auf den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko mitarbeitet. Rosa und er hatten sich im Sommer 1969 gefunden und wieder verloren. So wie eine Sonde und ein Komet. Rosa wurde Schriftstellerin. Und der Zufall wollte es, dass Tobias eines Tages bei einer Lesung während der Frankfurter Buchmesse im Publikum der Schriftstellerin sitzt und schlussendlich mit der Bitte um eine Signatur vor ihr steht.

Tobias wäschst in einem beschaulichen Quartier auf, am Stadtrand von Köln. Sein Vater leitender Angestellter, seine Mutter Hausfrau. Zu Beginn des einen Sommers, als die Jeans in Köln landete, ziehen in das leer gewordene Haus gleich in der Nachbarschaft Herr und Frau Leinhard mit ihrer zwölfjährigen Tochter Rosa ein. Er Professor für Philosophie mit langen Haaren, sie Übersetzerin mit Batikhemd und Jeans. Leinhards sind Kommunisten, glauben an die baldige Befreiung des Kapitalismus und aller anderen Fesseln. Rosa trägt ihren Namen nach der Kämpferin Rosa Luxemburg. Tobias Vater glaubt an die Möglichkeiten der Technik und die Wirksamkeit von E605 im Kampf Läuse und anderes Ungeziefer im Garten. Und Tobias Mutter?

Während Apollo 11 sich anschickt den erdnahen Trabanten für die Menschheit zu annektieren, wird aus der Begegnung von Rosa und Tobias eine junge und unsichere Liebe. Rosa, neu in der Stadt und noch nicht sozialisiert, und der eigenbrötlerische Tobias hören zusammen die Schallplatten der Familie Leinhard; Doors, Bob Dylan, Janis Joplin. Eine ganz andere Welt als das, was in der ZDF-Hitparade über die Mattscheibe flimmert. Rosa wird zum Schlüssel in eine andere, fremde Welt. Auch in die Welt der Liebe, der Berührungen, der Entdeckungen eines Sommers, die seine Welt bisher in seinen Grundfesten erschüttert.

Die beiden Familien freunden sich aller Gegensätze zum Trotz an. Man lädt sich gegenseitig ein, besucht die Kirmes, die Mütter mit den Kindern gar eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Während sich die Eltern annähern, gibt es genügend Raum für Rosa und Tobias, dem nahe zu kommen, was Erwachsensein bedeutet; «Es» zu tun. Tobias, gleichermassen angezogen wie verunsichert, sieht die Welt mit andern Augen. Auch das fragile (Un-) Gleichgewicht seiner Eltern, die Fassaden der Erwachsenen. Er verliert mehrfach die Unschuld – und auch seine Familie.

«Der Sommer meiner Mutter» beginnt mit einem Paukenschlag – und der ganze Roman bebt weiter im Aneinandereiben von tektonischen Platten. Scheinbar leicht erzählt beschriebt der Roman die harte Landung auf dem Planet Erde, die historische Bruchkante zwischen dem biederen Nachkriegsdeutschland und dem Aufbrechen in neue Welten.

Ein Mailinterview mit Ulrich Woelk:

Ich erinnere mich gut, an die gestatteten und illegalen Stunden vor dem Fernseher, als sich Apollo 11 auf seine Mission zur Eroberung des Mondes machte. Damals war ich sieben. So wie zwei Jahre später die Niederlage von Muhammed Ali gegen Joe Frazier. So wie viele Erzählungen beginnen mit „Damals, als“. „The Eagle has landed“, meldete Armstrong am 20. Juli 1969. Aber in Tobias Familie riss ein unsichtbares Riff ein nicht wieder zu verschliessendes Loch im Rumpf seiner Familie. Trotzdem schildern sie nicht die Geschichte des Opfers. Aber die Geschichte von Schuld. Ist Schuld unheilbar?

Schuld bleibt. Man kann, wenn man schuldig geworden ist, nur auf Vergebung hoffen, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Was meinen Roman angeht, muss man allerdings hinzufügen, dass sich mein Erzähler schuldig fühlt für etwas, wofür er nicht verantwortlich ist. Er ist ja noch viel zu jung, als die Dinge geschehen, die schließlich so traurig enden. Er ist elf, als sich seine Mutter das Leben nimmt, und dass er in diesem Drama eine so entscheidende Rolle spielt, das ist … ja, was ist es eigentlich? Zufall, Schicksal, ein unglückliches Zusammenspiel verschiedener Umstände? Ich will das gar nicht entscheiden. Als Autor ist es mein Ziel, meine Geschichten zu erzählen, aber nicht zu erklären. Das Leben erklärt uns ja auch nicht, warum dieses oder jenes geschieht. Wir müssen selbst dahinterkommen. 

„Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit“, mahnt Tobias Vater seinen Jungen. Ausgerechnet er, der seinen Jungen immer zur Wahrheit mahnt. „Der Sommer der Mutter“ ist der Roman einer Entzauberung. Ist Schreiben der Kampf um die Rückkehr der Verzauberung?

Nein, das denke ich nicht. Für das Schreiben – mein Schreiben – ist gerade die Erfahrung der Entzauberung fundamental. Aber ich fand es schön, für „Der Sommer meiner Mutter“ in die späten Sechzigerjahre und meine Jugend zurückzukehren. Das war beim Schreiben manchmal eigenartig. Man entwickelt bei einer so intensiven Beschäftigung mit einer Zeit automatisch eine Art von Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der einstigen Kindheit und Jugend. Der Unschuld. Dem Leben ohne Verantwortung. Da denkt man dann schon mal schnell, diese Zeit war unbeschwerter als unsere heutige Welt der Globalisierung mit ihren Flüchtlingsdramen, kulturellen Verwerfungen und terroristischen Bedrohungen. Aber das stimmt nicht. Die Sechziger Jahre waren die Zeit des kalten Krieges und der Angst vor einem neuen heissen oder atomaren Krieg. Damals hat man die politische Lage als genauso undurchschaubar und bedrohlich empfunden wie heute. Und dennoch bildet sich um diese Jahre beim Schreiben manchmal so eine gewisse Patina von temporaler Heimat. Aber wie gesagt: Als Autor weiss ich immer, dass die Rückkehr in dieses „Paradies“ unmöglich ist.

Der Roman beginnt mit dem Satz: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Tobias schreibt die Geschichte seiner Mutter mehr als 45 Jahre später, nachdem er seine erste grosse Liebe Anna wiedersieht. Der Roman ist keine Wiedergutmachung. Aber nebst vielen anderen Facetten auch die Geschichte einer Frau, die an der „Wahrheit“ zerbricht, nicht zuletzt an der Schonungslosigkeit ihres einzigen Kindes. Ist dieses Buch auch ein „Grabstein“?

Aber nein, für wen denn? Zunächst einmal: Es ist nicht autobiographisch. Eine Verbindung zu meiner eigenen Mutter ist aber, dass diese viel zu früh gestorben ist. Da war ich noch zu jung, mich zu fragen, wer ist meine Mutter eigentlich? Solche Fragen stellt man sich erst später, aber da lebte meine Mutter nicht mehr. Was ich sicher glaube, ist, dass sie Fähigkeiten und Begabungen hatte, die sie nie verwirklicht hat, und das ist es, was sie mit meiner Romanheldin verbindet. Einmal hat sie Noten aufs Klavier gestellt und angefangen Mozart zu spielen. Da war ich völlig verblüfft, das hatte sie noch nie getan. Ich wusste gar nicht, dass sie das konnte. Wie es aber wirklich in ihr aussah, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Da kommt dann die Fantasie des Schriftstellers ins Spiel. Als Autor interessieren mich diese Mütter der sechziger Jahre sehr. Sie haben ihre Jugend und Sozialisation in den Fünfzigern erlebt, einer äußerst prüden, konservativen und konfliktscheuen Zeit mit einem ganz engen Rollenverständnis. Für die gesellschaftlichen Veränderungen in den späten sechziger Jahren waren sie im Grunde schon zu alt und zu etabliert. Umso spannender ist es, wie sie damit umgegangen sind. Sie standen ja in einem Konflikt. Es ging bei dem Ruf nach Freiheit ganz zentral auch um die Emanzipation der Frauen, und dem hätten sich diese Mütter und Frauen ja eigentlich sofort anschließen müssen. Das ist aber keineswegs geschehen, weil das ihr bisheriges Leben infrage gestellt hätte. Wie sollten sie sich also verhalten, und was konnten sie wagen?

Liebe als ein Geheimnis mit mehr als sieben Siegeln. Ihr Buch ist vieles, auch eine ganz zarte Liebesgeschichte, bei der sie er meisterlich schaffen, an sprachlichen Untiefen vorbeizusegeln. Wird eine Liebe, wie sie damals sein konnte, heute erst recht entzaubert? 1969 war alles möglich. Heute schlägt die Endlichkeit mit aller Heftigkeit zurück.

Das ist eine sehr schwierige Frage. War denn 1969 in der Liebe wirklich alles möglich? Zum Beispiel erotisch? Die sechziger Jahre waren die Zeit der sogenannten sexuellen Revolution, also dem gesellschaftspolitischen Ruf nach einer freieren Moral. In der Praxis, soviel wissen wir inzwischen, hat das aber meistens nicht besonders gut funktioniert, aber gerade das macht es erzählerisch reizvoll. Der Punkt ist ja: Das, was die sexuelle Befreiung wollte, war grundsätzlich richtig, nur konnten es selbst deren Befürworter damals nicht so ohne weiteres leben. Unsere Einstellung zur Sexualität ist nunmal kein Schalter, den man per Knopfdruck von gehemmt auf frei umstellen kann. Das ist ja viel tiefer in der Persönlichkeit verankert.
So gesehen sind die freiesten Figuren in meinem Roman – und das ja durchaus auch erotisch – die beiden Kinder. Für sie ist die Liebe noch in jeder Hinsicht wirklich geheimnisvoll. Sie nähern sich ihr, ohne zu wissen, wohin sie das führt. Vielleicht setzt Liebe immer ein gewisse Mass an Unwissen voraus – das könnte sein. Und je älter man wird, umso schwieriger wird es, sich darauf einzulassen. Daran hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren wohl nicht so viel geändert. Der Unterschied ist aber, dass wir heute sehr frei darin sind, unterschiedliche Erfahrungen zu machen. Das ging in der engen Welt der Sechziger nicht. Und daran scheitert die Mutter des Erzählers.

Ist Schreiben, ein Roman, ein Gedicht nicht der Start einer Sonde in die Unendlichkeit des Seins?

Das auf jeden Fall. Ich habe gerade eine E-Mail aus Australien bekommen. Ein Deutscher hat dort auf einem Markt für gebrauchte Bücher zwischen all den englischen Thriller-Paperbacks ein Exemplar meines Buches „Sternenklar“ entdeckt und gekauft. Wenn Bücher reden könnten, würde es mich wirklich interessieren, wie das dahin gekommen ist. Auf jeden Fall hat es dem Käufer sehr gut gefallen, und er hat mir diese E-Mail geschrieben. Und es muss ja nicht gleich Australien sein. Im Moment bekomme ich viele – zum Glück sehr erfreuliche – Rückmeldungen von Lesern von „Der Sommer meiner Mutter“. Wie weit und wohin die „Sonde“ dieses Romans noch reisen wird, weiß ich nicht. Ich weiss nur, sie ist unterwegs, und das ist ein gutes Gefühl.

Autorenprotrait © Bettina Keller

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, «Freigang», erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

Buchtrailer

Webseite des Autors

Rezension von «Nacht der Engel» von Ulrich Woelk auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

José Eduardo Agualusa, ein Geschichtenzauberer in Zürich

José Eduardo Agualusa, der zu den bedeutendsten afrikanischen Schriftstellern der Gegenwart zählt, las im Literaturhaus Zürich zusammen mit seinem Übersetzer Michael Kegler aus seinem 2017 erschienenen Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ (C. H. Beck).

„Überwinden wir unverdauliche Geschichte durch obsessives Vergessen oder obsessives Erinnern?“

Warum reist man vom Rand der Schweiz nach Zürich, um einem Autor aus Angola zu lauschen? Weil in jenem Urlaub vor ein paar Monaten im Ruheraum des Hotels beim Lesen etwas geschah, was bei der Lektüre von Büchern nur ganz selten geschieht; das Gefühl gänzlichen Durchdrungenseins. Als ob beim Lesen Resonanzräume ins Schwingen kommen, die von Sprache sonst kaum je bewegt werden. Ein Gefühl des Erkennens.

Eine Frau will nicht mehr aus einer Wohnung, einem Haus. Unter dem Schutz ihrer Schwester lebt sie, von Panikattacken (Agoraphobie) geplagt, in Luanda in Angola, in einer turbulenten, gewaltigen Zeit, während und lange nach dem Bürgerkrieg. Sie mauert sich buchstäblich ein, nachdem sie das Schicksal, die Zeit, die Schwester und der Schwager alleine gelassen hatten. 30 Jahre in einer Wohnung ganz oben unter dem Dach, weit über dem Geschehen, eingeschlossen in einen vergessenen Hohlraum zwischen den Welten.

José Eduardo Agualusa lebte langen selbst in der Stadt Luanda, in Zeiten grosser Intoleranz. Die Hauptrolle in seinem Roman spielt nicht die Frau, die der Realität entflieht, die sich 30 Jahre eingemauert versteckt, sondern das Haus mitten in einer Stadt, einem Land, das auseinanderbricht. Auf Grund von Drohungen, die gegen José Eduardo Agualusa ausgesprochen wurden, dachte er immer mehr darüber nach, wie es wäre, wenn er seine Wohnung für lange nicht mehr verlassen würde, um sich vor allen Unbill zu verstecken.

Auch Ludo im Roman ist eine Frau, die sich versteckt, sich vollkommen zurückzieht, sich nicht nur mit Ziegeln zumauert, sondern mit Angst und Vorurteilen. Am meisten interessierte Agualusa die Frage nach der Angst, einer Schattierung von Vorurteilen. Ludo verändert sich in ihrer jahrzehntelangen Verborgenheit, bis ausgerechnet ein Kind, kindlicher Entdeckergeist, der Hunger, die alt gewordene Frau befreit.

Ein vielschichtiges Buch über Abgrenzung, das Errichten von Mauern, aktueller denn je. „Das Haus der Beneideten“ steht mitten in einer Stadt. In der Wohnung unter dem Dach schiesst Ludo in ihrer Verzweiflung durch die Wohnungstür, weil Männer sich daran machen, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Ludo schiesst, trifft einen der Männer, während der andere flieht. Sie zieht den Toten in die Wohnung, verscharrt ihn in einem der Gartenbeete auf dem Dach und mauert die Türe zu mit Ziegeln, die für einen Pool bereitliegen. „Jetzt sind nur noch wir da“, sagt sie zu Fantasma, ihrem Hund.
 Sie bleibt 30 Jahre hinter ihrer selbst gebauten Mauer, auf einer Insel über der Realität.

Das Haus widerspiegelt die Geschichte Angolas seit der Unabhängigkeit, hinein in den Marxismus und mit dem fast gleichen Personal weiter in den Kapitalismus hinein. Der Reichtum des Präsidenten José Eduardo dos Santos, das gutbürgerliche Leben im „Haus der Beneideten“, wurde vom Marxismus eingenommen und später von der angolanischen Bourgeoisie zurückerobert, beobachtet von Ludo, von Fenster zu Fenster, von Stockwerk zu Stockwerk. Das Buch ist voller Figuren, voller Geschichten, durchsetzt von der magischen Erzählkraft des Autors und seiner Herkunft, ein Buch, das jedem Protagonisten „eine zweite Chance geben soll“. Ein Buch über die absurdesten Momente, die man sich nur vorstellen kann, über Absurditäten, auf die der Mensch ganz lapidar reagiert. Je absurder, desto wahrscheinlicher.

José Eduardo Agualusa interessiert das Böse, was in Menschen und Räumen geschieht, wenn alle Regeln, Gesetze und Konventionen ausser Kraft gesetzt werden. „Ich will verstehen.“

Der Abend im Literaturhaus Zürich mit José Eduardo Agualusa, seinem Übersetzer Michael Kegler und dem Schauspieler Armin Berger war eine Offenbarung!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für „A General Theory of Oblivion“.
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Rezension von «Eine allgemeine Theorie des Vergessens» auf literaturblatt.ch

José Eduardo Agualusa studiert das Literaturblatt mit der Rezension zu seinem Roman «Eine allgemeine Theorie des Vergessens». Foto: Michael Kegler

Daniel Magariel «Einer von uns», C. H. Beck

Familie kann zur Hölle werden. Aber Familie ist Familie. Vater bleibt Vater. Bruder bleibt Bruder. Und wenn der Hass auf die Mutter und Ex-Frau, die Angst vor der Polizei den Ort der vermeintlichen Sicherheit zum Gefängnis macht, werden aus Banden Fesseln, aus Verzweiflung Resignation. Trotzdem strotzt der Roman «Einer von uns» von Kraft – nicht zuletzt von der Kraft der Sprache.

«Einer von uns» ist keine leicht verdauliche Kost. Es schnürt einem während des Lesens die Kehle zu. Nicht nur wegen der über zwei Brüder hereinbrechenden Gewalt eines drogensüchtigen, vollkommen unberechenbaren Vaters, sondern weil eine ungebrochene fatale Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Liebe die beiden Brüder aushalten lässt, was für mich als lesenden Zeugen beinahe unerträglich ist. Genau das ist die literarische Qualität dieses Romans. Nicht der Voyeurismus, nicht der Rapport eines Martyriums, sondern die feine, exakte Beschreibung jener hellen und finsteren Zwischenräume inmitten absoluter Verzweiflung, familiärer Apokalypse und kindlicher Freude, wenn zwischen all den Ausbrüchen Momente der Entspannung, naiver Hoffnung aufblitzen.

Der eine Bruder, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, ist zwölf. Sein älterer Bruder ein paar wenige Jahre älter. Gerade so alt, dass er mit dem Geld, das er im Supermarkt verdient, die Familie über Wasser halten kann. Eine Familie, die vom Hass auf Mutter und Ex zusammengehalten wird. Von einem Hass, der immer wieder vom Vater geschürt wird. Ein Hass, der die Brüder bei der Kampfscheidung die Mutter mit Falschaussagen um das Sorgerecht brachte. Ein Hass, der alles zerstören sollte, was die beiden Brüder zurück zur Mutter bringen könnte. Hass geschürt von einem Vater, der mit seinen Jungs alles hinter sich zurücklässt, von zuhause aus zu arbeiten versucht und nicht davon zurückschreckt, seine Söhne für alles Mögliche und Unmögliche zu instrumentalisieren.

Obwohl der Vater zwischendurch alles tut, um Zweckoptimismus zu erzeugen und sich Momente scheinbarer Idylle wie Hoffnungsschimmer abzeichnen, werden die Ausbrüche und Übergriffe des Vaters immer unberechenbarer, immer einschneidender, immer zwiespältiger. Daniel Magariel zeigt, dass Familienbanden fatalistisch zusammenschweissen können, dass die Angst vor dem Verrat, die Ungewissheit einer leeren Zukunft bewegungsunfähig macht. Die Brüder sind mehr als nur Leidensgenossen. Sie sind allein, von der Welt abgeschlossen, angekettet von einem Vater, der seine Söhne zu Komplizen macht, sie bei der Scheidung zu Falschaussagen zwang, die ihm das Sorgerecht brachten, den Söhnen aber immer wieder aufbrechendes Schuldgefühl und die Unmöglichkeit einer Rückkehr.

© Foto: Lucas Flores Piran

Daniel Magariel stammt aus Kansas City. Er hat einen B.A. von der Columbia University und einen M.F.A. von der Syracuse University, wo er Cornelia Carhart Fellow war. Er hat in Kansas, Missouri, New Mexico, Florida, Colorado, und Hawaii gelebt. Derzeit lebt er zusammen mit seiner Frau in New York. «Einer von uns» ist sein erster Roman.

Der Übersetzter Sky Nonhoff ist Kulturjournalist, Autor («Die dunklen Säle», «Don’t Believe the Hype») und Kolumnist beim MDR. Er hat u. a. Romane und Erzählungen von Jonathan Coe, Gay Talese und Dennis Lehane ins Deutsche übertragen. Für C.H.Beck übersetzte er u. a. Caitlin Doughtys «Fragen Sie Ihren Bestatter» (2016) und Souad Mekhennets «Nur wenn du allein kommst».

Titelfoto: Sandra Kottonau

José Eduardo Agualusa „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, C. H. Beck

Ein Roman wie ein verschlungenes Wurzelwerk. Ein Roman, dessen Autor einem unweigerlich zum Freund wird, weil er mich verzückt, in Trance versetzt. Darf man überschwänglich sein? Ich bin es. Dieser Roman ist ein Meisterwerk. Er protzt nicht. Dafür ist er schlicht genial.

Es sind die ineinander verschlungenen Geschichten um Ludovica, ein lichtscheues Wesen. Perlenschnüre, die sich ranken und winden, jede einzelne ein Schmuckstück. Eine Art literarische Fuge, die aber derart natürlich gewachsen scheint, dass er für mich rätselhaft bleibt, wie ein Autor mit absolut unverkrampfter Leichtigkeit so schreiben kann. Ein Werk voller Überraschungen, bunter Charakteren. Ein Feuerwerk an Fantasie und sprachlicher Kreativität. Ein Buch, an dessen Ende man mit Verwunderung und Wehmut zurückblättert, überall noch einmal hineinliest, weil man erahnt, wie viel man der Spannung wegen überlesen hat oder sich erst erschliesst, wenn einem das grosse Ganze am Schluss der Lektüre bewusst wird. Ein Kunstwerk.

Angola in den Jahren des Umsturzes. Die Kolonialmacht Portugal zieht sich aus dem Land zurück und Chaos und Willkür bricht aus. In einem Hochhaus in der obersten Etage mitten in der Stadt wohnen Orlando und Odete. Kurz bevor die Unruhen ausbrechen, nehmen sie Lidovica, Odetes Schwester, bei sich auf. Nicht nur weil sie sich künftig um den Haushalt kümmern will, sondern weil Ludo seit dem „Unfall“ mit der Welt draussen nicht mehr zurechtkommt. Ein lichtscheues Wesen, der man den Panzer raubte.

Eines Abends, kurz bevor sich die drei ins Mutterland Portugal absetzen wollen, bleibt Ludo für einen Abend allein in der Wohnung zurück. Auch am Morgen danach. Orlando und Odete kehren nicht zurück, dafür die Panik in Ludos Leben. Nachdem Fremde am Telefon etwas zurückfordern, von dem Ludo keine Ahnung hat, findet sie beim verzweifelten Suchen in den Sachen ihres Schwagers einen Revolver. Ludo schiesst durch die geschlossene Tür, als drei schwarz gekleidete Männer durch die Türe rufen. Ludo schleppt den Toten hinauf auf die Dachterrasse, wo Orlando einen Garten anlegte, vergräbt die Leiche und mauert die Tür zur Wohnung zu, mit Backsteinen und Mörtel, aus dem ein Pool hätte werden sollen.

Ludo bleibt fast drei Jahrzehnte eingeschlossen in der Wohnung hoch über der Stadt. Zusammen mit Fantasma, einem Albino-Schäferhund, weggeschlossen von allem, mehrfach nahe am Hungertod.

Die Geschichte bleibt aber nicht hinter der zugemauerten Wohnungstür. Ohne es zu wissen, ohne es zu wollen, nimmt Ludo Einfluss in das Geschehen in der Stadt. Revolutionäre, Folterer, Täter und Opfer kreuzen sich in einem Staat, der sich über die Jahrzehnte stets neu zu erfinden versucht. Ein Gewirr aus Geschichten und Handlungssträngen, das leicht leserlich bleibt und schlussendlich scheinbar spielend die Entwirrung findet.

Nach fast dreissig Jahren schlägt ein kleiner Junge mit einer Spitzhacke die Mauer von innen auf. Alles, war in der Wohnung aus Holz war, selbst der Parkettboden, ist weg. Und weil auch kein Papier mehr für Ludos Aufzeichnungen da war, sind alle Wände in der leeren Wohnung mit Kohle vollgeschrieben. „Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe. Wenn die Bibliothek verbrannt sein wird, wenn ich gestorben sein werde, wird nur noch meine Stimme da sein.“

Diese 188 Seiten sind literarischer Hochgenuss. Ein Roman mit einem grossen Herz, viel Melancholie und dem tiefen Glauben, dass Liebe und Leidenschaft die grössten Geschichten schreiben. Eines der Bücher, die man auf die Insel mitnehmen will. Wie schade, kann man Ludovica nicht in die Arme nehmen. Aber lesen, lesen!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für «A General Theory of Oblivion».
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Michael Kegler, Übersetzer angolanischer, brasilianischer, mosambikanischer, portugiesischer und anderer portugiesischsprachiger Literatur. Herausgeber der Website www.novacultura.de über Literatur und Musik des portugiesischen Sprachraums. Mitglied der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.

Titelfoto: Sandra Kottonau

August 2018: Catalin Dorian Florescu liest in Amriswil!

Die Reihe der Hauslesungen wird fortgesetzt. Mitte August liest Catalin Dorian Florescu aus seinem bei C. H. Beck erschienen Erzählband „Der Nabel der Welt“ und seinem Essayband „Die Freiheit ist möglich“ aus dem Residenz Verlag. Die Veranstaltung beginnt wie immer mit einem Apéro um 11 Uhr. Auf die Lesung folgt ein Gespräch mit dem Autor und im Anschluss, wieder bei einem Glas Wein, ist Platz für ganz persönliche Gespräche. Ein Büchertisch steht zur Verfügung!

Genauere Informationen folgen. Eine Anmeldug ist wegen beschränkter Platzzahl unbedingt erforderlich! info@literaturblatt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Rezension von „Der Nabel der Welt“ auf literaturblatt.ch

Catalin Dorian Florescu „Der Nabel der Welt“, C. H. Beck

Catalin Dorian Florescu, der 2011 mit „Jacob beschliesst zu lieben“ den Schweizer Buchpreis gewann, legt seinen ersten Erzählband mit Geschichten vor, die über einen Zeitraum von 16 Jahren entstanden sind. Erstaunlich genug, dass der Band trotz allem den Eindruck eines Ganzen vermittelt. Ein Strauss an Fabulierkunst und Einsichten über Heimat und Fremdsein.

Wer Florescu als Erzähler noch nicht entdeckt hat, dem bietet sich hier die Chance. Und wer wie ich mit Hunger auf jeden neuen Florescu wartet, der wird mit mundgerechten Leckereien, zum Beispiel zum Vorlesen, nachts vor dem Einschlafen, belohnt. Aber keine süssen Geschichten, sondern Texte, die durchaus zu Träumen werden können. Und wer dann wie ich, einmal vom Florescu-Virus infiziert eine Lesung des Meistern besucht, wird staunen. Nicht nur über die Sprachkunst, die Vitalität des Autors oder die Präsenz auf der Bühne, die Nähe zum Publikum, sondern über das unerschöpflich scheinende Reservoir an Geschichten, das der Mann in sich birgt. Auch wenn man mit Recht behaupten kann, dass Catalin Dorian Florescu immer vom „Gleichen“ erzählt, seinem Thema; dem inneren und äusseren Konflikt zwischen Ost und West, dem Niedergang Rumäniens, der Flucht und der ewigen Suche nach einem Ankommen, dem Verlust von Heimat, dem Verlust von Familie.

Seine Erzählungen im Band „Der Nabel der Welt“, wie alle seine Romane, gründen im Schmerz drüber, eine Heimat verloren und nie wirklich einen Ersatz dafür gefunden zu haben. Im Schmerz darüber, dass das Leiden und die Trauer nicht weniger werden, selbst nach der Flucht ins vermeintliche Paradies. Im Schmerz darüber, dass die Sehnsucht bei all denen bleibt, die nicht gehen, nicht fliehen können oder wollen, die ausharren, längst desillusioniert nach immer wieder angekündigten Wendungen.

Florescu erzählt mit sprudelndem Witz, intelligent und gekonnt. Keine Spur von Bitterkeit, denn der Autor weiss, welch nie versiegende Quelle der Inspiration seinen beiden Seelen entspringt.

Im kommenden März erscheint im Residenz Verlag ein Essayband von Catalin Dorian Florescu: „Die Freiheit ist möglich“, über Verantwortung, Lebensinn und Glück in unserer Zeit – aus der Reihe „Unruhe bewahren“, in der schon Olga Flor und Illja Trojanow Beiträge veröffentlichten. „Wir leben in einer hysterischen Zeit, die zwar materiellen Wohlstand und unablässige Kommunikation gewährleistet, das Individuum aber mit seinen Gefühlen der Vereinzelung allein lässt. Doch nach dem Scheitern der grossen politischen Utopien sehnen wir uns umso mehr nach Glück, Verbundenheit und Nähe, sind aber in einem fragmentierten, beschleunigten Alltag gefangen.“ (aus der Vorschau des Residenz Verlags)

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Mit „Kraft“ zum Sieg! Jonas Lüscher ist Träger des Schweizer Buchpreises 2017.

Ein Fest des Buches, literarische Feinkost, leise Stimmen und sprachliches Trommelfeuer, unüberhörbare Gehässig- und Peinlichkeiten, Musik in der Sprache und Besucher, die sich begeistern liessen – das war die BuchBasel 2017. 


Was zu einer Jubiläumsveranstaltung hätte werden sollen, begann schon am Abend vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises 2017 zu stolpern. Mit einem Mal gerieten das Buch, die Literatur, das Lesen, die Autorinnen und Autoren, ihre Verlage und die Absicht, das Buch mit all der Medienpräsenz in den Blick der Öffentlichkeit stellen zu wollen in den Hintergrund. Man liess sich zu Emotionen hinreissen, hätschelte die eigene Empörung. Ausgerechnet in der Literatur, bei der man sich sonst gerne „in der höheren Warte“ weiss, bei der man sich sonst gerne eloquent und wissend gibt, ausgerechnet an einem Fest, das man mit Würde hätte feiern sollen.

Jonas Lüscher ist verdienter Preisträger des 10. Schweizer Buchpreises. Ich gratuliere ihm nicht nur zu seinem Preis, auch für sein literarisches Schaffen und nicht zuletzt für die würdige Art, wie er den Preis entgegengenommen hat. Sein Buch „Kraft“, ein literarisches Schwergewicht, hat alles, was ein Buch für einen solchen Preis braucht; eine bestechende Sprache, eine intelligente Geschichte, den Blick in ein „fremdes Land“, Mehrbödigkeit und genug Fleisch, um sich daran die Zähne auszubeissen.

Speziell hervorheben möchte ich zwei Namen; einen, den ich schon lange kenne und der mich mit nicht nur überraschte, sondern mit seiner Art des Erzählens förmlich verzückte – und eine, deren Namen ich bislang nicht kannte, einen Namen, den es aber unbedingt zu entdecken gilt.

Der 1962 in Dresden geborene und in Berlin lebende Ingo Schulze, schon lange eine Grossmacht in der deutschen Literaturszene, schrieb mit seinem neusten Roman „Peter Holtz – Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ die Geschichte eines reinen Tors. Peter Holtz ist einer, der das Gute will, nur das Gute. 1974, kurz vor seinem 12 Geburtstag haut er ab aus einem sozialistischen Kinderheim auf der Suche nach der besseren Welt, auf der Suche nach Menschen wie ihm, die ungebrochen an den real existierenden Sozialismus glauben. Der überaus witzige und tiefsinnige Roman erzählt in einem langen Bogen bis ins Jahr 1998, als aus dem bettelarmen Jungen ein wider Willen schwerreicher Mann geworden ist, dessen Tun und Lassen sich ohne Absicht in Gold und Geld verwandelt. Ingo Schulzes Roman beschreibt die Wendezeit der deutschen Geschichte. Er erzählt aber nicht bloss, sondern stellt mit seinem Erzählen ganz grundsätzliche Fragen. Ingo Schulze erzählt leicht, lädt mich ein, an der Seite eines Andersartigen die Suche nach dem Glück aufzunehmen. Lesen!

Und Rosa Yassin Hassan, eine aus Syrien geflohene Schriftstellerin und Bloggerin, die seit 2012 in Hamburg lebt und arabische Literatur unterrichtet. Vom Schriftsteller Yusuf Yeşilöz im Namen des DeutschSchweizer PEN Zentrums eingeladen ist Rosa Yassin Hassan auf einer Lesereise mit ihren Romanen „Ebenholz“ und „Wächter der Lüfte“. Am 15. November, am Writers in Prison Day wird in vielen Ländern verfolgter Schriftstellerinnen und Schriftsteller gedacht. Wäre Rosa Yassin Hassan 2012 nicht aus Syrien geflohen, wäre sie wegen ihrer ganz offenen Kritik in ihrem Blog an der Syrischen Regierung und ihrem Diktator Baschad al-Assad mit Sicherheit eingesperrt und gefoltert worden, wie viele ihrer Freunde, Verwandten und Gesinnungsgenossen. „Schreiben ist meine Krankheit und meine Therapie, die Erinnerung eine tödliche Last“, verrät die Autorin im Interview mit Michael Guggenheimer, Schriftsteller und Journalist. Rosa Yassin Hassan will eine Brücke sein zum Verständnis der arabischen Kultur, die alles andere als deckungsgleich mit islamischer Kultur ist. Sie schreibt und spricht über Tabus; Religion, Politik und nicht zuletzt über Sex. Schreiben in einer Umgebung, die in Europa vollkommen anders ist als in ihrer Heimat Syrien, einem Land, dessen Infrastruktur heute zu 70% zerstört ist. Die Autorin entschied wie viele andere, die aus Syrien flohen, nie, Flüchtling zu werden. Sie sei schlicht zur Flucht gezwungen worden, aus einem Land, in dem nichts mehr funktioniert, in dem man in jedem Augenblick mit dem Tod bedroht ist. Was im Büchlein „Eine fatale Sprayaktion – Die Geschichte dreier Freunde in Syrien“ als Revolution die Welle zum Überschwappen brachte, ist längst zu einem verlorenen Bürgerkrieg geworden. Rosa Yassin Hassan kämpft mit Worten weiter.

Illustration von Benjamin Güdel zum Büchlein „Eine fatale Sprayaktion – Die Geschichte dreier Freunde in Syrien“ SJW 2544 von Rosa Yassin Hassan

Webseite von Ingo Schulze
Webseite des Illustrators Benjamin Güdel

Titelfoto: Werner Biegger

Wort – Laut und Luise, Lechts und Rinks 2017

Die 9. St. Galler Literaturtage WORTLAUT 2017 sind Erinnerung. Laute und leise Töne mit wenig und viel Publikum. Markige Sprüche, freche Zeichnungen, durchscheinende Lyrik und rundum Gespräche über Bücher und Literatur, Text und Kontur. Aber was blieb in Erinnerung? Was hat bewegt?

„Warum ist die Welt in Büchern nicht eine bessere als in der wirklichen Welt?“

Mein ganz persönliches literarisches Jahr beginnt mit den St. Galler Literaturtagen – jedes Jahr. Im Vorsommer dann die Solothurner Literaturtage, die Nabelschau der CH-Literatur und im Sommer dann das Literaturfestival in Leukerbad mit einem literarischen Blick weit über die Landesgrenzen hinaus. Es sind aber wie in jedem Bücher- und Literaturfest nicht so sehr die Bücher, die mich locken, sondern die Schöpferinnen und Schöpfer selbst. Vor allem jene, bei denen ich spüre, wie neugierig sie sind, was ihre Bücher mit mir machen.

„Warum hat die Literatur so viel Lust, den Antihelden scheitern zu lassen?“

Die diesjährigen Literaturtage begannen in der Provinz, mit einer Prologlesung des jungen Schriftstellers und Journalisten Frédéric Zwicker im Kulturforum Amriswil. Der Autor las aus seinem ersten Roman „Hier können sie im Kreis gehen“, der Geschichte des 91jährigen Johannes Kehr, der sich im Altersheim hinter einer vorgetäuschten Demenz vor den Menschen versteckt. Sein ernst zu nehmender Roman über den letzten Lebensabschnitt vieler Menschen, den man aber gerne verdrängt, mit dem man sich selbst meist erst kurz davor und nur ungerne auseinandersetzt. Die Geschichte eines alten Mannes, die erklären soll, warum sich jemand hinter einer vorgespielten Demenz vom Leben distanzieren will. Ein Unterfangen, das mit Bedacht und Vorbereitung angegangen werden muss, wenn Kehr sich nicht durch die Wirkung eines Medikaments oder einer unglücklichen Äusserung verraten will. Ein Abenteuer, das ihm ungeahnte Freiheiten eröffnet, weil niemand, nicht einmal seine Enkelin, deren Foto er seine Geschichte erzählt, sein Doppelleben erahnt. Eine Lesung, ein Gespräch, das sich mit vielen wichtigen Fragen auseinandersetzte; Was tun, wenn einem nichts mehr am Leben hält? Wie viel Freiheit braucht der Mensch, selbst dann, wenn er unberechenbar wird?

„Literatur mag Personal, das etwas riskiert.“

Bei der offiziellen Eröffnungsveranstaltung las Max Küng, bekannt durch seine Kolumnen im Tages-Anzeiger Magazin, ein letztes Mal aus seinem Roman „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“. Ein Roman darüber, was hinter der Fassade eines Zürcher Stadthauses passiert, wenn alle im Haus gleichzeitig die Kündigung ihres Mietverhältnisses zugeschickt bekommen. Max Küng ist gewiefter Beobachter, Journalist und Schriftsteller. Max Küng tut, was er wirklich kann. Er blickt mit dem Brennglas auf Grossstadtmenschen, Menschen, die nur dort leben können, bunte Kampffische im Aquarium. Ganz offensichtlich verlief die Dernière mehr nach den Vorstellungen des Autors als die Buchtaufe im vergangenen Herbst auf dem Dach seines Zürcher Verlags. Damals ass man Biosandwiches unmittelbar unter der Sonne, ein kleiner Haufen. Das Buch kam unter all den Kulturlöwen kaum zu Wort.

„Figuren die allzu positiv besetzt sind, interessieren die Literatur nicht.“

Und am Samstag, dem eigentlichen Haupttag des Festivals, waren es nicht die grossen Namen, die mich überzeugten. Dafür umso mehr jene, die es verstehen, aus Beobachtungen fein ziselierte Literatur zu schaffen. Die noch junge Franziska Gerstenberg, die über ihrem Erzählband „So lange her, schon gar nicht mehr wahr“ sagt: „Die Figuren sind alle ich, mit allen Fragen, allen Zweifeln.“ Sie gehe langsam vor, versuche sich psychologisch anzunähern, hineinzuhören, nicht auszuleuchten, nicht gewillt einer Pointe nachzurennen. Es reize sie, die Perspektive zu wechseln und sich nicht wie bei Romanen über Jahre mit dem gleichen Personal herumschlagen zu müssen. Franziska Gerstenberg , zierlich, fast zerbrechlich, las in Lederstiefeln mit drei grossen Schnallen übereinander, als müsse sie wenigstens in ihnen Halt finden. Sie las von Menschen in Not, wie dem stillen Dichter Stoll, der in der Orangerie an der Kasse hinter der Theke sitzt und mit seinem Lächeln auf Besucher wartet. Stoll, der in seinem Schreibzimmer zuhause den einzigen Ort besitzt, in dem und für den es sich zu leben lohnt.
Die noch immer junge Anna Weidenholzer: In ihrem neusten Roman „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ erzählt sie von Karl. Karl fährt weg in einen Winterort ohne Schnee. Ein Mann, der nur forschen will und kann, sich auf dieser Reise ganz vom Zufall leiten lässt, davon überzeugt, dass es für alles und jedes mindestens zwei Möglichkeiten gibt. Bloss nicht für die Stimme in seinem Kopf, für die Stimme seiner Frau, die alles kommentiert, von der er stets weiss, wie und was sie sagen wird, wenn er etwas tun oder sagen will. Eine Stimme, die immer nur das „Richtige“ kennt. Anna Weidenholzer webt in ihren Roman Sätze, die haften bleiben, Sätze wie Schnappschüsse einer Meisterfotografin. Sätze, die klingen, Sätze, die man irgendwie kennt. Johannas Kehr bei Frédéric Zwicker, Stoll bei Franziska Gerstenberg und Karl bei Anna Weidenholzer; Männer, die zu verschwinden drohen.

„Wir leben in einer postheroischen Gesellschaft.“

Und dann noch Nico Bleutge, ein Dichter aus dem Norden, aus Berlin, den ein Stipendium nach Istanbul am Bosporus schickte, eine Stadt, die er bereits aus früheren Besuchen kennt, eine Stadt, in der es brennt. Eine Stadt zwischen Zeiten, Fronten und Kulturen. Nico Bleutge schreibt Lyrik in langen, farbigen Bändern, in „Nachts leuchten die Schiffe“ Wortgemälde mit Sicht auf die grossen Kähne, die durch die Meerenge ziehen. Auch wenn zu dieser Lesung in dem sonst gut besetzten „Raum für Literatur“ in der Hauptpost nur wenige Neugierige dem Dichter ihre Aufmerksamkeit schenkten, galten für mich diese 45 strahlenden Minuten als einer der Höhepunkte der diesjährigen St. Galler Literaturtage.
Was bleibt? Ich hörte zu und es taten sich Horizonte auf!
(Die eingefügten Zitate sind Fetzen eines sonst missratenen Literaturgesprächs zwischen Sabine Gruber, Jonas Lüscher und Andrea Gerster.)

Zora del Buono in Amriswil, «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt»

Zora del Buono beehrte Amriswil, las an der St. Gallerstrasse aus ihrem neusten Roman «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» und ihrem Baumgigantenbuch «Das Leben der Mächtigen» vor. Eine Matinee vor ausgesuchtem Publikum, an einem wunderschönen Sonntag. Genuss pur!

«Einen besseren Start in den Frühling könnte man sich gar nicht wünschen: Eine bezaubernde Fahrt durch den Thurgau, eine handschriftlich verzierte Mauer, ein Haus, dekoriert wie eine Wundertüte, gefüllt mit netten Leuten, die zu aufmerksamen Zuhörern werden. Dazu noch Traubensaft, Wein und Käse. Und als Krönung jede Menge gute Gespräche. Das war ein wirklich schöner Anlass. Vielen Dank.» Zora del Buono

mit der Schriftstellerin Marianne Künzle

«Manchmal, je nach Tagesverfassung, befällt einen die Schüchternheit, in sehr kleinem Rahmen unter Menschen die man nicht kennt. Nicht bei Irmgard und Gallus, wo Gespräche entstehen, Begegnungen – einfach so!» Marianne Künzle

mit dem Musiker und Komponisten Daniel Schneider

Diane Broeckhoven «Was ich noch weiss», C. H. Beck

Es gibt Bücher, die sich aus nicht immer erklärbaren Gründen tief in mein Gedächtnis eingraben. Bücher, die bleiben werden, sowohl inhaltlich wie die Eindrücke aller Gefühle, mit denen ich das Buch am Ende der Lektüre ins Regal reihte. Bücher, die mich zu einem treuen Begleiter der Autorin oder des Autors werden lassen, jedes Mal beschenkt, wenn ein Neues in den Buchhandlungen aufliegt.

9783406529757_large2005 erschien der schmale Roman «Ein Tag mit Herrn Jules» der Niederländerin Diane Broeckhoven. Der letzte gemeinsame Tag eines alten Ehepaars, von Alice und Jules. Jules steht wie jeden Morgen etwas früher auf als seine Frau, lässt die Filterkaffeemaschine an und setzt sich in seinen Sessel im Wohnzimmer. Als Alice wenig später vom Duft des Kaffees geweckt wird, muss sie feststellen, dass es das Letzte war, was ihr Mann in seinem Leben tat. Alice beschliesst, diesen einen, letzten Tag mit ihrem toten Mann alleine zu verbringen, die Maschinerie des letzten Gangs noch aufzuschieben. Sie will Abschied nehmen und «aufräumen». Wer «Ein Tag mit Herrn Jules» noch nicht gelesen hat, sollte es nachholen!

Der Roman «Was ich noch weiss» geht der Frage nach, was Familie ausmacht, Jenes scheinbar so wichtige, tragende Gefüge, das die einen als Grundfeste beschwören, die andern als Schmelztiegel aller Enge und Probleme erleben. Dabei ist Familie wie alles andere Menschliche ein vorübergehendes Ensemble mit längeren Phasen der Stabilität, die aber niemals darüber hinwegtäuschen, wie schnell «Unfälle aller Art» Familie verändern und destabilisieren können.

9783406696787_large«Was ich noch weiss» ist die Geschichte einer solchen Familienkonstellation. Eines Tages muss Peter, der Sohn der Familie, feststellen, dass Manon, seine Mutter, nicht die einzige Frau im Leben seines Vaters ist. Obwohl dieser Peter zu seinem Komplizen machen will, eine ebenso unmögliche Konstellation, bricht die Familie auseinander. Jahre später, verlassen von Ehemann und Sohn, erleidet Manon einen Schlaganfall, just an dem Tag, an dem ihr Sohn Peter Rebecca, seiner grossen Liebe, vor Publikum den offiziellen Heiratsantrag machen will, ein Wiedereintritt in die Familie. Manon rutscht ins Koma und wacht erst Monate später langsam in einem anderen Leben wieder auf, um festzustellen, dass das Leben sich ohne sie von ihr entfernte.

Das Buch hat zwei Stimmen, jene von Manon, die am Schluss des Buches notiert, «was sie noch weiss» und jener von Peter, einem Mann zwischen Frauen. Heimlicher Protagonist des Romans ist aber jener rote Ohrensessel, den sich Manon in der Zeit als Familienfrau als Zufluchtsort und Privatinsel, für Unbefugte verboten, kauft. Jenen Sessel, der Jahrzehnte später in der grell ausgeleuchteten Lagerhalle eines «Sozialkaufhauses» steht und zum zweiten Mal von der wiederauferstanden Manon erstanden wird.

Auf eine Mail, in der ich Diane Broeckhoven frage, wie sie denn zu dieser Geschichte kam, schrieb sie zurück: «Die Geschichte in «Was ich noch weiss» ist fiktiv, obwohl natürlich kleine Geschichten und Details aus meinem eigenen Leben kommen könnten. Ich habe zwei Söhne und eine Tochter. Ich weiss, wie junge Leute reagieren können. Ich weiss auch aus eigenen Erfahrungen wie es ist, wenn sich einst Liebende trennen und wie Kinder sich dann fühlen können. Die initiale Geschichte/Basis – eine Frau, die ihre Möbel und persönlichen Besitztümer in Flöhmarkten sucht – habe ich einmal am Fernsehen gesehen. Ihre Kinder hatten alles verkauft, um Geld für ihre letzten Lebensmonate zu sammeln. Dieses Bild war zuerst da. Das hat mein Herz berührt. Ich habe die ganze Geschichte von Manon und ihren Kindern um dieses Thema gebaut.»

diane_broeckhoven1-199x300Diane Broeckhoven, 1946 geboren, hat zahlreiche, vielfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Unter ihren Romanen für Erwachsene, etwa «Eine Reise mit Alice» und «Herrn Sylvains verschlungener Weg zum Glück», wurde «Ein Tag mit Herrn Jules» zu einem Bestseller. Das Buch ist inzwischen in sechzehn Ländern erschienen und wurde über 250.000 Mal verkauft. Diane Broeckhoven lebt in Antwerpen.

Die Übersetzerin Isabel Hessel, 1973 geboren, erhielt 2003 das Stipendium des LCB für Literaturübersetzer. Sie lebt und arbeitet in Antwerpen und übersetzte schon mehrere Bücher von Diane Broeckhoven für C.H.Beck. Ihre Spezialität sind flämische Autorinnen.