Eigentlich schreibt Christine Zureich seriös. Also Texte auf Papier mit Stift und Papier oder Tastatur. In der Lockdown-Zeit aber wurde die Arbeit an ihrem aktuellen Romanmanuskript jäh ausgebremst, als über Monate ihr Schreibplatz Homeoffice, Homeschool, Homealles für die ganze Familie wurde. 3 Personen, 2 Türen, offener Grundriss.
Spaziergänge durch Konstanz wurden zu wichtigen kleinen Fluchten für die Autorin. Auf einer ihrer Runden fand sie in einem „zu verschenken“-Karton eine Stoß Zeitschriften, die sie mitnahm. Zu Hause begann sie, statt darin zu lesen, das Altpapier auseinander zu schneiden, zu neuen Aussagen zusammenzufügen. Eine Methode, mit der auch die Dadaisten vor über 100 Jahren schon spielten, oder auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller.
Neu an Zureichs Zugang ist die dritte Dimension: Sie bringt die Worte nicht auf Papier, sondern auf vintage Puppenmöbelchen auf. Das erste Objekt hatte sie dabei schon 2015 collagiert, als Hausaufgabe für einen Online-Kurs eines Art-Colleges. Einem leeren Bücherschrank klebte sie damals einzelne Worte auf, um die Lücken zu benennen. Aber erst mit dem Altpapierfund in der merkwürdigen Zeit holte die Möbelchen-Kiste wieder hervor, das Projekt Tiny Furniture nahm seinen Lauf.
Entstanden ist mehr als eine neue Form der Lyrikinszenierung. Die sorgfältig ausgesuchten Möbelchen (inzwischen hat Zureich etliche Konvolute zum ursprünglichen hinzu erstanden) gehören untrennbar zu Gesamtaussage des Objekts. Sie erlauben verschiedene Lesarten, Betrachtungsweisen und laden auch weniger lyrikaffine Menschen zum Spiel mit Worten ein. Tiny Furniture verkörpern dabei auf kongeniale Weise Zureichs (K)Lebensphilosophie: Spamt das Leben sich mit Altpapier zu, mach Lyrik draus.
I bet you’d rather
polish the
edge of the rainbow
now
Ich habe das Opernglas in die Tasche gesteckt.
1. Trojanische Pferdchen
Alte Puppenstubenmöbel, teils handgefertigt, überwiegend aus Holz. Alle haben eine Patina, weisen kleine Brüche auf, Risse, Beschädigungen, sichtbare Reparaturen. Neben ihrer Geschichte transportieren sie jetzt auch Worte. Fundstücke aus Altpapier, neu zusammengesetzt und aufgeleimt. Poetische Kommentare in eine Möbelschau geschmuggelt, nicht wie bei Homer im Bauch des Artefakts sondern auf dessen Hülle.
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Tatü
das Heidenröslein vildros (eg. Hedros).
der Knab’, Knabe gosse.
Tata
Mit unterschiedlich verkörperten Ideen, die Welt zu verändern.

2. Schöner Fragen
Sprechen Möbel? Muss man sie immer verstehen? Lassen sich mit Lyrik innere Räume einrichten?
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unübersehbar Schaden
Aber im Moment ist es Liebe
utväg der Ausweg
Leseübung.

3. Kintsugi
Das Verfahren, mit dem in Japan zerbrochene Keramik gekittet wird. Nicht unauffällig, versteckt, sondern mit Gold. Wie der Faden, der dieses Buch am Rücken zusammenhält. Auf den Möbeln: Papier-Kintsugi, Wort-Kitt.
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Ort, an dem wir miteinander reden können
Von der Schönheit im Beschädigten
It will be a good year
42:a lektionen
en handling

4. Risse
Leonard Cohen, der singt: There is a crack in everything. That‘s how the light gets in. Brüche, Risse, Beschädigungen überall, nicht nur an Tiny Furniture. Auch an uns. Vielleicht sind sie die Grundlage von Schönheit, Zartheit?

Mit ihren Tiny Furniture präsentiert die in Konstanz lebende Autorin Christine Zureich ein absolut ungewöhnliches Format: Lyrik, die in den Raum spricht, 3D-Gedichte. Aus Zeitschriften ausgeschnittene Worte und alte Puppenmöbel werden zusammengefügt zu poetischen Hybriden irgendwo zwischen Gedicht und Skulptur, selbstvergessenem Wort-Spiel und kompositorischer Strenge. Einen ersten Prototypen schuf Zureich bereits 2015, jedoch erst als mit der Pandemie die Welt zum Stillstand kam, holte sie die Spielzeugkiste wieder aus dem Keller und begann Lyrik in großem Maßstab zu vermöbeln… Zureichs Tiny Furniture passen mit ihrer Brüchigkeit und Verletzlichkeit sehr gut in diese Zeit, setzen ihr dabei zugleich auch etwas entgegen: eine Aufforderung zur bedingungslosen Verspieltheit.
Zeitgleich mit der Vernissage im Bodmanhaus erscheint im axel dielmann-Verlag, Frankfurt, ein Gedichtband mit dem gleichen Titel.
Christine Zureich, in Suffern, New York, geboren, studierte Soziologie, Amerikanistik und VWL in Tübingen, Uppsala und Frankfurt Main, wo sie im Anschluss als Übersetzerin und Museumspädagogin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin und Dozentin in Konstanz am Bodensee. Im Februar 2018 debütierte sie mit ihrem Roman «Garten, Baby!» bei Ullstein fünf, Berlin. 2019 veröffentlichte sie mit «Whisperblower» (Kollaboration mit Veronika Fischer) bei Drei Masken, München, ein Bühnenstück zum Cum Ex Steuerskandal. Für ihr Manuskript «Ellens Song» war sie 2019 für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und 2020 für den Hans im Glück-Preis der Stadt Limburg nominiert. Im gleichen Jahr war sie mit der Kurzgeschichte «nahlandig» Preisträgerin des Schwäbischen Literaturpreises.

„Alex und Nelli“ ist keine Liebesgeschichte. Aber die Geschichte verlorener Liebe. Alexander glaubt sich von aller Liebe verlassen, lässt alles zurück, kappt alles. Nelli sucht nicht nur nach Alexander, auch nach dem was er ihr genommen hatte, nach dem, was ihr das Leben doch versprochen hatte, die Liebe. Alexander taucht ab, verschwindet, wird zusammengeschlagen, bleibt liegen als Haufen Elend. Was ihn am Leben lässt, ist die wiedergefundene Liebe zum Leben, das absolut reduzierte Sein.
Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane, Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffenlicht. Andrea Gerster ist zudem Progammverantwortliche im Literaturhaus Lichtenstein.
Buchvernissage «Alex und Nelli»
Nacht, an den Schlaf heran, dort, wo Gedanken sich freimachen. Einmal nahm ich das Büchlein mit in den Zug, las darin im Stehen gleich neben der Tür, weil der Zug so voll war. Irgendwann spürte ich die Blicke auf mir und dem kleinen rosa Büchlein. Nicht nur die Farbe verunsichert, manchmal tun es auch die Texte. Sie beschwört die Müdigkeit, bei ihr zu bleiben, den Zorn und die Fäulnis. Sie mutmasst, ob es tote Dinge wirklich gibt, was Pflanzen täten, wenn sie Wetterprognosen lesen würden. Christine Fischer nimmt die Nacht ins Visier, weiss, dass sie Nacht am Gürtel ein Messer trägt, mit dem sie Taue kappt, die einem mit dem Ufer der Gewissheit verbinden.


Aus Winterthur, geboren 1947, Schauspielstudium an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg, Schauspieler u.a. in Hamburg, Bremen, Berlin, Basel, Mannheim und Baden. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. Von 1986 bis 1990 Afrikaaufenthalt. 1997 – 2000 Präsident der Gruppe Olten. Von 2000 bis 2004 wohnhaft in Wien, seit Mai 2004 wieder in der Schweiz. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern.

Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asien Korrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung «Risse in der Großen Mauer». Nach dem Roman-Bestseller «Herzenhören» (2002) folgten «Das Flüstern der Schatten» (2007), «Drachenspiele» (2009) und «Herzenstimmen» (2012).