Waseem Hussain «Verhinderter Eklat an der XVII. Triennale Südasiatischer Hühnereinbalsamierer», Plattform Gegenzauber

Wie alle drei Jahre haben sich auch heuer die Mitglieder des Südasiatischen Kongresses der Hühnereinbalsamierer (SAKHBAL) getroffen. Als Austragungsort ihrer diesjährigen Zusammenkunft hatte der Kongressvorstand das denkwürdige Fort Abbas bestimmt, welches auf halbem Weg zwischen Bahawalpur in Pakistan und Ganganagar in Indien liegt. Die Wahl des Austragungsortes war nicht zufällig, haben doch jüngere Ausgrabungen in und um Fort Abbas zum Teil gut erhaltene Überreste einbalsamierter Hühner zutage befördert, die auf ca. 3500 v. Chr. datiert sind und zu den kostbarsten Exemplaren ihrer Art zählen.

Auf der Traktandenliste standen diesmal, neben routinemässigen Pendenzen wie die Wahl des Präsidenten und des Vorstandes des SAKHBAL, vor allem die Fragen einerseits nach der “wissenschaftlich korrekten” und andererseits der “zeitgeistig angemessenen Zusammensetzung” des Balsams. Das Thema ist bereits mehrmals in “Tikka”, der halbjährlich erscheinenden SAKHBAL-Publikation, aufgegriffen worden. Sowohl die darin veröffentlichten Forschungsberichte als auch die Leserbriefe, die in der jeweils nachfolgenden Ausgabe abgedruckt wurden, haben gezeigt, dass insbesondere die zweite Fragestellung die Expertengeister bewegt.

Grundsätzlich besteht der Balsam aus Rapsöl, Malzessig und Limettensaft, gemahlenem Gelbwurz, geriebenem Ingwer, Kreuzkümmel, zerstossenen Senf-, Pfeffer- und Korianderkörnern, Bockshornkleesamen, Chili, Zimtrinde, Knoblauch, Paprika, Zwiebeln und Salz; wer unorthodox war, gab zusätzlich roten, natürlichen Farbstoff dazu.

Vor nunmehr fünfeinhalb tausend Jahren war das Klima in Südasien deutlich milder als heute. Es soll die damaligen Südasiaten in ihrer Mentalität beeinflusst haben, sodass sie vor allem die scharfen Balsamzutaten geringer dosierten als ihre Nachkommen es heute tun. Die SAKHBAL-Mitglieder einigten sich darauf, eine für jede Epoche standardisierte Rezeptur verfassen zu lassen und diese bei ihrer nächsten Zusammenkunft in drei Jahren zu verabschieden. Nur am Rande sei erwähnt, dass dem Wetteifern, welche Universitäten welcher Länder, südasiatische oder nicht, damit beauftragt werden sollten, die Rezepte zu Papier zu bringen, unter “Varia” am Ende der Versammlung Raum eingeräumt werden musste.

In den antiken Hochkulturen Südasiens wurden Hühner in einem mehrere Stunden dauernden, von Schamanen und Priestern angeleiteten Ritual mit einem Balsam eingerieben und zu Ehren der darüber wachenden Göttin Murgdevi geopfert. Dies geschah, indem man eine ungefähr 21 mal 17 Zentimeter kleine Gruft aus der Erde hob, dort glühende Asche hineinlegte, auf diese die einbalsamierten Hühner platzierte und das Erdloch in einem bei Sonnenaufgang mündenden Zeremoniell zuschüttete. So hofften die Südasiaten von damals auf ein langes Leben, wenn nicht gar auf ein ewiges. Wie ernsthaft dieser Brauch gelebt wurde, zeigt die imposante Nekropolis einbalsamierter Hühner, die ein niederländisches Team von Archäologen vor rund sechzig Jahren unweit der südindischen Hafenstadt Cochin ausgegraben hat.

Der Kongress ist zweifellos unverzichtbar für die akademische Pflege der oft als “Orchideenfach” belächelten Wissenschaft der südasiatischen Hühnereinbalsamierung. Um so bedauerlicher ist es, dass es unter gewissen Mitgliedern des SAKHBAL bereits im Vorfeld der Triennale zu nutzlosen Differenzen gekommen war. Den Anstoss gab die Wahl des Kongressortes Fort Abbas. Dieses ist sowohl den Pakistanern als auch den Indern ein wichtiges Symbol ihres jeweiligen kulturhistorischen Erbes, wenn auch aufgrund politisch bedingt unterschiedlicher Geschichtsauffassung. Zwar waren sich die Experten von hüben wie drüben darin einig, dass die alte Festung zur Abwehr “extremistischer Gegner der Einbalsamierungsrituale” erbaut worden war, doch konnten sich die Experten nicht darauf einigen, ob es sich bei den Gegnern um fremde Invasoren aus Persien und vom Indischen Ozean her gehandelt hat, oder ob die Bedrohung von inneren Feinden zu erwarten war. Dass dies aber keine qualifizierte Debatte unter Historikern war, zeigt sich schon daran, dass sich die Streitenden über die Tatsache hinwegsetzten, dass die phalanx-ähnliche Anlage von Fort Abbas klar darauf hindeutet, dass der Feind von allen vier Himmelsrichtungen her erwartet wurde. Ebenso ist es aber belegt, dass die Herrscher von Fort Abbas drei parallel operierende, sich gegenseitig kontrollierende Innengeheimdienste unterhielten, um Überläufer und andere Verräter frühzeitig festzumachen.

Wie es scheint, waren auch die Organisatoren des XVII. Kongresses Südasiatischer Hühnereinbalsamierer bei ihrem Gezänk derselben Paranoia verfallen. Immerhin aber wurde ihrem offen ausgetragenen Streit ein so grosses Gewicht zuteil, dass die Veranstalter sich nun überlegen, die Triennale an einen Ort ausserhalb Südasiens zu verlegen. Als mögliche Alternative wird die portugiesische Kleinstadt Sines genannt, wo der Seefahrer Vasco da Gama geboren wurde. Dieser erwähnte nämlich in seinen indischen Tagebüchern “rot geschärfte Frangos”; das portugiesische Wort Frango heisst nichts anderes als Huhn.

Dem ganzen sei lediglich angemerkt, dass die Mitgliederorganisationen der übrigen südasiatischen Länder, also Afghanistan, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka, Bhutan und die Malediven, sich aus dem Hahnenkampf ihrer beiden Nachbarländer herausgehalten haben. Man begegnete ihren Delegierten am Buffet mit den Tandoori-Spezialitäten.

Waseem Hussain, 1966 in Karachi, Pakistan, geboren, wuchs in Kilchberg am Zürichsee auf. Er war Gastdozent für internationales und interkulturelles Management und leitete die Stabsstelle Internationales im Rektorat einer Fachhochschule. In jungen Jahren kuratierte er Kunstausstellungen, organisierte kulturelle Veranstaltungen und drehte den mehrfach prämierten Kurzspielfilm “Larry”. Er war Mitglied der regionalen Expertengruppe bei Pro Helvetia sowie freier Südasienkorrespondent für Presse, Funk und Fernsehen. Aktuell lebt er als Autor und Songwriter nahe Zürich und schreibt an seinem ersten Roman.

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Nora Gomringer «In mir taucht der Krieg auf», Plattform Gegenzauber

In
mir
taucht
der
Krieg
auf

Fragt: Du bist überrascht?

Ich sag: Na, der Form halber.

Sagt er: Ich hab Konjunktur. Schreib drüber!

Sag ich: Angeber. Hat Brecht schon.

Sagt er (mit lauter Monsterstimme):
Ich bin der Vernichter.

Sag ich: Du bist in mir ein Hall und Jammer.
Ich halt dich ein, werd innen schwarz,
bleib außen Alabaster, bis die Glut durch dringt.
Dann stehst du da. Verbrennst
die mir zu Hilfe eilen wollten.
So vermehrst du dich als Infektion,
Entzündung aller Wunden.

Sagt er: Du hast es dir schon ausgemalt.

Sag ich: Kenn’ dich wie Abel. Kenn’ dich doch ewig.

Sagt er mir (sanft an mich gelehnt, sein Atem köstlich, so warm im Nacken
alles wie immer alles, nicht ohne Melodie):
Ich bin der Funke.
Im Dunkeln bin ich der hellste Punkt.

(aus Nora Gomringer «Gottesanbieterin», Voland & Quist, Berlin, Dresden & Leipzig, 2020)
Immer öfter lässt sich Nora Gomringer die Gretchen-Frage stellen, sie antwortet in Essays, Reden, Geschichten und natürlich: in Gedichten. Das geschieht oft komisch und mit einem Augenzwinkern, ihr und jedes Gläubigsein ist persönlich. Die Lyrikerin hat sich zuletzt mit irdischen Ängsten, Krankheiten und Phänomenen des Oberflächlichen beschäftigt, doch das Metaphysische wohnte dem schon immer inne – und denken wir an Gomringers Wanderung mit einem lispelnden, über die Einsamkeit des Menschen sprechenden Hermelin, so wundert es kaum, dass erneut eine tierische Begegnung Auslöser für die in diesem Band versammelten Gedichte ist: Schon vor vielen Jahren traf die Dichterin auf eine riesige Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie: die Gottesanbeterin. Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens, die Gomringer zur Hinterfragung des irdischen Seins und der Vielgestaltigkeit von Religion gebracht hat, jenem »geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins«. (Verlagstext)

 

Liebesrost

Liebesrost
Über Nacht
Bist du oxidiert
Neben mir

Hast auf mich reagiert
Bist rostig geworden
Du sagst
Golden
Ich lecke an deinem Hals
Du schmeckst wie der
Wetterhahn

(aus Nora Gomringer «Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded», Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2015. S. 168)
Nora Gomringers Gedichte sind viel herumgekommen. Daher haben sie Sieben-Meilen-Stiefel an den Versfüßen und manchmal einen recht breitbeinigen Gang. Dazu eine laute Stimme und manchmal ganz schön viel Attitüde. Doch manche von ihnen haben Katzensohlen, zarte, bebende Haut, sind verweht, fast noch bevor sie ausgesprochen wurden, sind zum Still-für-sich-Lesen statt zum Deklamieren geeignet. (Verlagstext)

Nora Gomringer, geboren 1980, hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preisund 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

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Beitragsbild © Judith Kinitz

Rudolf Bussmann «Wem wäre er nicht auf die Nerven gegangen», Plattform Gegenzauber

Wem wäre er nicht auf die Nerven gegangen? Er mit seiner Fragerei? Wer hätte sich nicht früher oder später von ihm abgesetzt? Wäre geflohen vor seinen Fragen, die uns nichts angingen, uns mit seinen Sorgen quälten, von uns Antworten erwarteten, die niemand zu geben wusste? Können Sie sich vorstellen, was das heißt? Diese Fragerei von früh bis spät? Dieses aufsässige Fordern nach Antwort? Wären nicht auch Ihnen die Nerven durchgegangen? Hätten nicht auch Sie einen Punkt gesetzt? Ihn ins Leere laufen lassen mit seinen Fragen?
Was hätten Sie getan an unserer Stelle?
Warum antworten Sie nicht?

(erschienen in «Popcorn», Waldgut 2013)

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen sind «Eine Brücke für das  Gedicht, 75 zeitgenössische Gedichte befragt von Rudolf Bussmann» (2014) und «Das andere Du», Roman (2016). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel. 

Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese, erscheint im März 2024

Rudolf Bussmann «Verheißenes Land», Gedichte, edition bücherlese
Die Passkontrolle ist vorbei, die Passagiere treten ins Mittagslicht. Die Reise durch Israel und Palästina beginnt. Sieben Tage dauert sie. Vorbei an Barrieren, Grenzposten, Mauern führt sie auf die Zinnen einer Altstadt. Sie führt in die bunte Vielfalt eines Suks, sie führt in das Quartier orthodoxer Gläubiger, sie führt in besetzte Gebiete. Eine verlassene Mühle kommt in den Blick, die Stimme eines Vertriebenen ist zu hören, eine schattige Eiche lädt zum Verweilen ein. Das Ich, unterwegs zu Fuß, mit Auto oder Bus, wird gewahr, wie sich ihm ein alter Kulturraum öffnet, der keine festen Grenzen kennt und in vorbiblische Zeiten zurückreicht. Gleichzeitig wird es von der politischen Hochspannung, die das Land im Griff hat, erfasst.
Rudolf Bussmann hat Israel und die Westbank 2018 bereist und die Niederschrift des Buches vor dem Überfall der Hamas vom Oktober 2023 beendet. Seine Gedichte begegnen den Widersprüchen und Konflikten mit einer Sprache, die in starken Bildern Schönheiten genauso wie Abgründe dokumentiert. Sie holen die Vision vom verheißenen Land aus der Versenkung und versuchen ihr in einem eindrücklichen Statement neue Konturen zu geben.

Rezension «Der Flötenspieler», edition bücherlese

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Ursula Fricker «Topografie der Kindheit – Über kleine und große Bedürfnisse», Plattform Gegenzauber

Unsere Mutter ist vor zwei Monaten ins Altersheim gezogen, und mein Bruder hat mir aus ihrer letzten Wohnung eine Kiste mitgebracht, randvoll mit Dingen, die man ungerne einfach entsorgt. Fotoalben, Schulzeugnisse, Briefe, außerdem eine Wanderkarte: UNTERSEE HEGAU-RHEIN. Es ist diese Karte, die er, kaum hat er die Kiste hingestellt, rausfischt und sie wie eine besonders fette Beute auf den Tisch klatscht. Und dabei grinst. Oder lächelt. Eine Wanderkarte 1: 50`000, 1963 herausgegeben vom Verkehrsverein Untersee und Rhein, Verkaufspreis: Fr. 3.50/DM 3.30. Sie ist speckig-vergilbt und alle Falzkanten wurden irgendwann mit Klebestreifen verstärkt, die sich an verschiedenen Stellen längst wieder gelöst haben.

Riechst du das?, fragt mein Bruder und hält sich die Karte unter die Nase. Gib her, sage ich. Und tatsächlich. Das Papier riecht noch, was, wonach? Es riecht nach Lavendel, Sandelholz, eine Komponente Leder (Wanderschuhe). Es riecht nach dem Rosmarin-Öl, mit dem Vater sich abends die Hände einrieb. Mühelos hat der Geruch die Zeiten überdauert – mein Bruder ist jetzt in seinen Sechzigern, ich unwesentlich jünger. Vorsichtig, als wäre dieses fragile Gebilde unendlich kostbar, falte ich es auseinander. Und da liegt sie, die Topografie unserer Kindheit.

Jeden Samstagabend saß Vater am Wohnzimmertisch über die Karte gebeugt und plante Routen. Er plante die Wege, die uns am Sonntag alle unsere Kräfte kosten sollten. Es waren nicht einfach Spaziergänge, nach denen ihm der Sinn stand, es waren Gewaltmärsche, die ihn und uns allwöchentlich an den Rand der Erschöpfung brachten, nicht selten darüber hinaus. Bei Einbruch der Nacht stolperten wir noch immer durch irgendeinen Wald, weil Vater sich zeitlich verkalkuliert oder wir uns schlicht und ergreifend verirrt hatten. Trotz Karte. Es war, als ob er sich jeden Sonntag erneut die überragende Leistungsfähigkeit seines Körpers beweisen müsste.

Nun war wandern damals ja noch keine besonders coole Freizeitbeschäftigung. Meine Klassenkameradinnen und Kameraden fuhren samstags, natürlich im Auto, mit ihren Eltern ins Shoppi nach Spreitenbach, sonntags schliefen sie lange, es gab ein üppiges Mittagessen, man spazierte maximal eine Stunde dem Rhein entlang und gegen vier Uhr gab es schon wieder Kaffee und Kuchen. Abends Fernsehen. Wir hingegen standen bei jedem Wetter vor sieben Uhr auf, um den Zug nach Immendingen oder Tuttlingen nicht zu verpassen. Im Rucksack Vollkornbrot, Äpfel, Möhren. Und die Karte.

Unser ökologischer Fußabdruck, hätte man dergleichen damals schon gekannt, wäre sozusagen Unternull gewesen; wir waren Vegetarier, industriell verarbeitete Lebensmittel waren tabu. Wir hatten kein eigenes Haus, besaßen weder Fernseher noch Auto, fliegen kam selbstverständlich nicht in Frage. Ein gutes Leben war für unseren Vater das Gegenteil dessen, was die Mehrheit in den siebziger/achtziger Jahren als gutes Leben empfand. Statt für mehr, war er für weniger. Oder: Er wollte immer mehr vom Weniger.

Heiß und innig war dabei sein Hass auf die degenerierten Massen, wie eine Monstranz trug er seine Minderheitenposition vor sich her, und er bestand darauf, auch noch innerhalb des Kreises der paar Veganer und Vegetarier, die es damals gab, eine Minderheit zu sein. Für ihn war niemand ernst zu nehmen, der auch nur das winzigste Bisschen kompromissbereiter war als er.

Warum hatten wir uns nicht gewehrt, frage ich mich. Warum hat sich mein Bruder nicht eines Sonntagmorgens trotzig auf den Boden gesetzt: Nein, keine Lust, heute komme ich nicht mit. Oder Mutter: Ich will aber jetzt auch endlich ein Auto! Unvorstellbar. Sünde wäre das gewesen.

Seine Obsession sicherte unser Vater ab mit einer Art Moral. Mit einer Moral der totalen Vernunft, die er ganz exklusiv für sich beanspruchte. Schaut mal, sagte er beispielsweise, der saure Regen! Und zeigte auf eine Tanne mit wunderbar grün sprießenden Trieben. Wie kann ein vernünftiger Mensch, fügte er hinzu, heutzutage noch Auto fahren und die Luft verpesten, während der Wald verreckt. Wir sahen hin, wir versuchten, gelbe Stellen zu finden im grünen Nadelkleid des Baumes, Zeichen der Krankheit, des Verfalls, wir wollten gelbe Stellen entdecken, unbedingt. Ja, dort, rief mein Bruder und dann sah ich es auch, ganz deutlich: gelbe Stellen im großen Grün. Und froh waren wir, nicht schuld am Verderben des Waldes und dem absehbaren Verderben einer Menschheit zu sein, die, meinte Vater, das Verderben mehr als verdient hat.

Aber er hatte doch recht, sage ich, wegen der Umwelt, heute ist das doch keine Frage mehr, manchmal muss man halt extrem sein, damit was in Gang kommt, oder nicht? Mein Bruder beugt sich über die Karte. Erinnerst du dich, als noch Dampfloks fuhren, sagt er, statt einer Antwort, und legt den Finger auf den Bahnhof Tuttlingen. Ja, sage ich, Dampfloks, die haben ja auch krass die Luft verpestet. Du soo klein, zeigt er mit der flachen Hand knapp überm Boden. Was du für einen Aufstand gemacht hast, wenn wir von einem Wagen in den anderen mussten. Seitlich diese dicken schwarzen Gummiwülste, über die scheppernde Blechbrücke, während Dampf durch die Zwischenräume hochfauchte. Ich erinnere mich nicht. Du hast gebrüllt, lacht er, zetermordio, wir mussten aussteigen und außen rumgehen. Und das findest du jetzt lustig, sage ich. Damals war mein Bruder ja wesentlich älter als ich, vier Jahre. Ich erinnere mich noch immer nicht, aber glaube ihm. Und bin erstaunt, dass ich derart unvernünftig Theater gemacht haben soll – und auch noch Erfolg hatte damit. So gnädig, weiß ich, wäre Vater ein paar Jahre später nicht mehr gewesen, grob hätte er mich über das Blech gezerrt, klar, war ja schließlich keine Hölle, nur Physik. Ein paar Jahre später hätte ich das verstanden.

(Erstmals erschienen als Carte Blanche im „Kulturtipp“)

Eine Frau, mitten im Leben, ist bereit, für die Kunst alles aufzugeben – sogar sich selbst. «Fangspiele» ist ein packend erzählter Roman über manipulative Macht und die bestürzende Bereitschaft, ihr zu verfallen. Erscheint im Frühling 2024!

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Ayse Yavas

Noreen Sheikh «Was wir uns nicht erzählen»

Ich werde dich eines Tages fragen, wer mein Vater war.
Vielleicht bei einem Abendessen zwischen zwei Bissen, oder vielleicht zwischen Tür und Angel. Du wirst dich im Stuhl zurücklehnen, das Essen sorgfältig kauen. Du wirst es so lange kauen, bis du eine Antwort gefunden hast. Eine für mich zugeschnittene Antwort, oder vielleicht sogar die ganze Wahrheit auf einmal. Happen für Happen.
Vielleicht wirst du mich fest an dich drücken und mit feuchten Augen den Spuren der Regentropfen folgen, die an die Fensterscheibe prasseln.
Der Regen wird dich erinnern. An Zeiten, in denen es häufig regnete und niemand auf der Strasse tanzte und sich darüber freute. Vielleicht wirst du mir, wie schon so oft, von den Jahreszeiten erzählen. So klar und prägnant wie sie einst waren. Jede für sich.

Sie werden wiederkommen, wirst du mir sagen.

Die Erde wird sich erholen, wirst du mir mit Nachdruck versichern. Jetzt, da viele von uns fort sind. Ganz bestimmt.

Du wirst deine Hände verwerfen, dir eine Strähne aus dem Gesicht streifen und dich entschuldigen. Entschuldigen, dass du abgeschweift bist. Ich werde mich fragen, ob du das tatsächlich bist, oder du einfach deine Gefühle vor mir verbergen wolltest. Vielleicht kam Sehnsucht über dich, wie schon so oft. Das Heimweh nach einer alten Heimat. Ein sicheres Zuhause, das schon längst keines mehr war.

Vielleicht hat der Regen mit meinem Vater zu tun.

Ich weiss, dass er ihn am Tag seiner Abreise das letzte Mal sah. Er konnte ihn nicht spüren, nicht riechen, vielleicht nicht einmal hören. Nur sehen. Und sich erinnern wie es war.
Vielleicht, werde ich mich fragen, vielleicht hielt er einen Moment inne, um sich diesen einen Augenblick einzuprägen. Ich werde mich fragen, ob er auch heute noch an diesen Moment zurückdenkt, wenn er die feinen Eiskristalle auf dem roten Staub sieht. Sieht, wie sie aus dünnen Wolken niederrieseln.

Lautlos und sanft.

Vielleicht wird ihm ein Gedanke kommen.

Lautlos und sanft.

Ich werde dich fragen, ob er von mir gewusst hatte. Ob er mich wortlos beiseitegeschoben und heimlich in die Sterne getragen hatte.
Du wirst lächeln, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, und meine Hand streicheln. Vielleicht wirst du auch deinen Blick senken und nervös an den Knöpfen deines Kleides herumspielen. Vielleicht wirst du schweigen, werden wir schweigen. Darüber, was ich schon weiss, oder auch nicht. Ob ich dir vom Brief erzählen soll, werde ich mich fragen. Abgegriffen und versteckt in deiner Schublade. Eine letzte Nachricht an dich, bevor mein Vater in die neue Welt hinaustrat.

Bevor der Regen eine Erinnerung wurde.

Bevor wir eine Erinnerung wurden.

Du wirst den Brief erkennen. Wirst vorsichtig eine Hand drauflegen, wie ein schützendes Schild. Du wirst mir seinen Inhalt erzählen. Wirst mir erzählen, was ich schon weiss und was nicht.
Von der Erde, wie sie vor langer Zeit war, und wie sie damals war, als es für meinen Vater das letzte Mal regnete.
Und wie sie nach der grossen Reise der Männer und Frauen war.

Wie sie nach meinem Vater war.

Vielleicht wirst du mir beichten, dass du hättest mitgehen können. Dass mein Vater hätte bleiben können. Dass eure Hoffnungen in unterschiedliche Richtungen liefen. Deine zur bekannten Welt, der Erde. Seine zu den Sternen, in die Weiten der Galaxie.

Ob du mich wortlos an ihm vorbeigeschoben hattest, werde ich dich fragen. Ob du mich heimlich in dir getragen hattest.

Wirst du es mir je sagen?

Ich lebe auf einem blauen Planeten, der einst noch blauer war. Den ich so nicht kenne und vielleicht so nie kennen werde.
So wie ich auch meinen Vater nie kennen werde, fern auf einem roten Planeten.

Wir müssen reden, du und ich. Eines Tages.

Noreen Sheikh, geboren 1989 in Rorschach SG, lebt mit ihrer Familie in einem 1000-Seelendorf im Kanton St. Gallen. Die begeisterte Amateur-Balletttänzerin widmet sich nebst dem Muttersein nun ganz dem Schreiben. Sie absolvierte an der Migros Klubschule St. Gallen den Kurs Drehbuch schreiben. Derzeit besucht sie den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik (SAL) in Zürich und arbeitet an ihrem ersten Roman. Ihre Geschichten handeln von alltäglichen Tragödien, von Höhen und Tiefen, die das menschliche Dasein ausmachen.

Beitragsbild © Noreen Sheikh

Jan Wagner «gürteltier», Plattform Gegenzauber

gürteltier

I

manchmal kehren die toten zurück. sie rufen:
wir waren nicht tot, nur verschollen,
und plötzlich klumpt der zucker in den raffine-
rien, rutscht in rüben, rutscht in bollen

unter die äcker, aus der holzpiroge
wird wieder wald, der grabstein mit tiara
aus schnee gleitet zurück in sein gebirge
wie ein buch ins regal. zum beispiel das gürteltier.

II

schöpfungslaune, leder-staub-coquille,
bei nieselregen mit dem glanz von seifen-
blasen, hängt als stille discokugel
im morgendlichen tanzsaal der savanne,

wenn eine erste fokker oder cessna
den himmel auftrennt – oder kauert
gleich neben der entfernteren cousine
von dornbusch, kaktus oder taumelkraut;

wie unverhofft ins rampenlicht geschoben,
fast tapsig, aber springt durch alle ringe
seiner selbst; saturngegürtet, schuppen-
akkordeon, goldbraun oder orange;

gepanzert wie ein pferd beim lanzenritt
oder der ritter selber, der als staugut
von einem kran emporgehoben werden muß
                                          und in der schwebe hängt,
                                          für einen augenblick
nicht wissend, ob er abstürzt oder steigt.

III

getilgt von wein
     oder kurz davor,
im park vom hotel
     ambassador

allein mit der liege,
     der nacht von natal,
den fledermäusen
     samt ultraschall,

sehr tief aus dem funkeln
     im rücken, der bar,
ein schrei und ein letztes
     taumelndes paar,

ein fetzen von samba,
     zersplitterndes glas,
und einen moment lang
     im pampasgras

als flüchtige geste,
     als bitte zum tanz,
kaum da, dann verschwunden,
     dein zierlicher schwanz.

 

Jan Wagner «Steine & Erden», Hanser Berlin, 2023, 112 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-446-27730-4

Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt seit 1995 in Berlin. Er ist Lyriker, Übersetzer englischsprachiger Lyrik (unter anderem von Charles Simic, James Tate, Simon Armitage, Matthew Sweeney, Jo Shapcott und Robin Robertson) sowie Essayist und war bis 2003 Mitherausgeber der internationalen Literaturschachtel „Die Aussenseite des Elementes“. Für seine Gedichte, die für Auswahlbände, Zeitschriften und Anthologien in vierzig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und den Georg-Büchner-Preis (2017). Jan Wagner ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Nadine Kunath

Gallus Frei «Helfen Sie mir?», Plattform Gegenzauber

Ich war fünfzehn Minuten zu früh und sah ihn schon, als ich kam, über den kleinen Platz zwischen den Geleisen und dem Bahnhofsgebäude schwanken. Ein Mann, nicht viel älter als ich, mit kurzen Hosen, blossfüssig, nur halb in den Bund gestopftem Hemd und einer offenen Umhängetasche. Als der Zug in die Gegenrichtung eingefahren war und sich die Türen öffneten, torkelte er auf eine Tür zu, blieb aber wenige Zentimeter davor stehen, die Tür schloss sich und er blieb immer noch stehen, während der Zug direkt vor seiner Nase wegfuhr. Er stand da, mit den Zehenspitzen an der Kante, und schwankte. Bevor ich glaubte, er würde fallen und mich zu einer Rettungsaktion zwingen, taumelte er zurück und hockte sich auf die Bank neben mich. Er sagte nichts, obwohl er so nah bei mir sass, dass ich den Alkohol roch, ohne dass er in meine Richtung geschaut hätte. Er murmelte. Ich verstand ihn nicht.
„Fahren Sie auch?“, verstand ich schliesslich.
„Nein, ich warte auf eine Bekannte. Sie wird mit dem nächsten Zug einfahren.“
„Helfen sie mir?»
„Ihnen helfen? Wie kann ich ihnen helfen?“
Würde er mich um Geld anbetteln? Zum ersten Mal sah ich ihm ins Gesicht. Er war wohl ein paar Jahre jünger als ich. Sein rechtes Auge war rot und blau unterlaufen, ein Veilchen. Die Augenbrauen so, als wären sie tätowiert, die Haare im Nacken kurz, die Stirnhaare lang und verschwitzt bis tief in sein Gesicht. Eigentlich gar nicht das Gesicht eines Alkoholikers. Wäre er nüchtern gewesen, hätte ich ihn vielleicht als Künstler taxiert. Aber an dem Mann stimmte beim zweiten Bick einiges nicht. Seine Füsse waren zerschlagen, die Haut an den Knien aufgeschürft. Die Taschen seiner kurzen Hose nach aussen gestülpt, das Hemd bis zum Bauchnabel offen.
„Scheiss Alkohol“, sagte er mit einem Mal ganz deutlich. Dann ergoss sich ein längeres Gemurmel, als hätte er sich und mich im Selbstgespräch vergessen.
„Ich muss ins Spital“, verstand ich wieder.
„Besuchen sie dort jemanden?“, stellte ich mich dumm.
Er antwortete nicht, bewegte die Lippen.
„Können sie mir helfen?“ Er sah mich an, flehend und traurig.
„Klar helfe ich, wenn ich kann.“
„Ich muss in den Zug. Ich muss ins Spital. Scheiss Alkohol.“
„Aber ich kann sie nicht begleiten. Ich erwarte eine Bekannte.“
„Nein, bloss zum Zug, bloss einsteigen helfen. Der nächste Zug ist doch der Richtung Spital.“
„Ja. Ich helfe gerne.“
Es waren höchstens noch zwei, drei Minuten. Meine Bekannte und ich, wir hatten uns noch nie gesehen. Sie ist Schriftstellerin, ich ihr Leser. Sie besucht mich. Schon meine Situation war eigenartig genug, war ich es doch, der normalerweise zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern fährt. Der Mann neben mir nestelte in seiner Tasche, während sein linkes Knie nervös zitterte. Es zog eine Flasche aus seiner Umhängetasche, unzweifelhaft eine Schnapsflasche, drehte am Verschluss, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen nicht enden wollenden Schluck. Es dauerte eine kleine Weile, bis er den Verschluss wieder drehte und die Flasche in der Tasche sinken liess.
„Scheiss Alkohol.“
„Wissen die Leute im Spital, dass sie kommen?“
„Ich muss von dem Zeug weg. Die helfen mir dort. Dort wird alles viel besser. Sie müssen mir nur helfen. Bis zum Zug, Einsteigen helfen. Helfen sie mir? Sie müssen mir helfen!“
Waren das Tränen in seinem glasigen Blick?
Da sassen auf einem sonst verlassenen Bahnhof zwei Männer nebeneinander auf einer Bank. Wäre jemand dazugekommen, hätte man meinen müssen, wir würden zusammengehören. Beide etwa gleich alt, beide mit blauer Tasche, der eine mit Schuhen, der andere blossfüssig.
Er sah mich an. Diesmal sagte er nichts. Als müsse er mit einem tiefen Blick prüfen, ob man meiner Hilfe trauen könne. Ich war mir nicht sicher, ob die Hilfe seiner Unentschlossenheit diente, oder seinem unsicheren Gang. Da sass einer, verfluchte den Alkohol, während er mit grossen Schlucken aus einer Schnapsflasche trank.
„Helfen sie mir?“
„Klar doch, ich helfe ihnen gerne. Der Zug muss jeden Moment einfahren. Wohnen sie hier?“
„Ich wohne hier. Ja, ich wohne hier. Aber ich muss zum Zug. Die warten auf mich.“
Was hätte ich sagen sollen? Hätte ich ihn ermuntern sollen? Was würde meine Bekannte denken, wenn ich ihr mit torkelnder Begleitung entgegenkäme? Ich hoffte, sie würde eine oder zwei Türen weiter dem Zug entsteigen, damit ich Zeit finden würde, den Blossfüssigen in den Zug zu buxieren, bevor es zur ersten wirklichen Begrüssung käme.
„Jetzt sieht man den Zug schon. Ich helfe ihnen.“ Er würde gleich aufstehen müssen, damit er die paar Meter bis zu einer Tür schaffen würde und ich seine nackten Füsse über die Schwelle schieben kann.
Und tatsächlich. Die blaue Tür blieb genau vor uns stehen. Meine Bekannte erkannte ich sofort über die Schulter des Betrunkenen. Ich sah, wie sich ihr Gesicht aufhellte, wie sie um den gebeugten Mann herumgehen wollte, um mich zu begrüssen. Es muss eigenartig ausgesehen haben, denn ich lächelte ihr bloss verlegen entgegen und sprach dem Mann zu, den ich am Oberarm gefasst hatte. Ich fühlte mich, als wäre ich für den Mann verantwortlich.
„Machen Sie’s gut“, sagte ich, ohne Anzeichen, dass er verstanden hatte.
Ich machte einen Schritt zurück, drehte mich um und begrüsste sie endlich.
So wie ich den einen aus den Augen verlor, nahm sie mich ein.

Gallus Frei, 1962 geboren in St. Gallen, Literaturvermittler, Veranstalter, Moderator, Herausgeber des von Hand geschriebenen und gestalteten Literaturblatts, Betreiber zweier Literaturwebseiten (literaurblatt.ch für Rezensionen, Berichte, Gastbeiträge und gegenzauber.literaturblatt.ch für literarische Gastbeiträge aller Art), Programmleiter des Literaturhauses Thurgau, Jurymitglied der SRF-Bestenliste, Blogpartner des Schweizer Buchpreises seit 2019.

Simon Froehling «Körper, ein Verb», Plattform Gegenzauber

Und Familie, das sind Schnüre, oder sagen wir: Blutsfamilie, das sind Schnüre, wählen wir rot, sind rote Schnüre über eine Landkarte gespannt, wie im Krimi, und die Fakten, die ich kenne, Stichwort Migration, sind Reissnägel, Länder aufgespiesst, wie mit den Flaggen der Besetzer früher, der Besetzer heute, sind Schottland, sind England, sind Griechenland, sind Deutschland, sind Australien, sind Südafrika, sind immer wieder die Schweiz, und man stelle sich trotz der Statik dieses Bildes die Bewegungen vor von all den Körpern, Mutterkörpern, Väterkörpern, all die Grossmütter, Grossväter und die Söhne und die Töchter und alle Formen dazwischen, bewegt bis hier und jetzt, tägliche Berührungspunkte per SMS, Email, Telefon, Wie geht es dir, what are you doing? 

Ich schreibe, sage ich, I’m writing about the things written into our bodies, into our genes, über die Heimatlosigkeit, über Identitäten, die wie Wasser sind, die Ozeane sind zwischen unseren Kontinenten, jedes Festschreiben eine Fiktion, So bin ich, so bin ich nicht, an diesen Orten, Geburtsort, Bürgerort, Wohnort, verbunden mit Schnüren, die Sehnen sein könnten oder Handlinien, in denen ungefähre Lebenslängen zu lesen sind, die aber sonst keine Antworten bereithalten, zum Beispiel auf die Frage nach gefühlten Geschlechtern, die nichts mit Pronomen in einer Signatur zu tun haben, oder auf die Frage nach der Asexualität meines Bruders, und immer wieder danach, warum wir keine Kinder wollen, meine Schwester und ich, Aren’t you worried you’ll regret it? Eines Tages bereut ihr es bestimmt, und all die anderen Fragezeichen, die eigentlich Symptome sind, als Diagnosen verkleidet, Grossmutters Alkoholismus zum Beispiel, und die Depressionen, die wie Flechten alle Äste unseres Stammbaums überziehen, oder die Frage nach der Ängstlichkeit meiner Mutter sowie jene nur ein Mal laut gestellte nach ihrer möglichen Unehelichkeit, ihrer Hautfarbe, dort zu dunkel, hier zu hell, und Opas Bemerkung zu unserem Vater, seinem Sohn, Wir dachten schon, du kommst mit einer Einheimischen zurück.

Überhaupt, was wir uns alles eingeheimst haben auf dem Weg von dort nach hier, all die Eigenheime hinter elektrifizierten Zäunen, all die SUVs mit ihren gepanzerten Scheiben, die Rassehunde mit ihren spitzen Zähnen, in Objekte umgemünzte Privilegien, um all die Peinigungen wettzumachen, festgeschrieben in unseren Körpern, die mein Körper sind, so dass ich nicht atmen kann am Morgen (hier, wo das Ich erwacht) und mein erstes Gefühl die geerbte Angst von meiner Mutter, sie setzt sich täglich auf meine Brust, in der ausserdem eine lange Leier von Asthma hustet, ausgelöst durch Allergien, durch Anstrengung und überhaupt: 

Alles, was sich angesiedelt hat in meinem Körper an Geschichten und Geschichte, selten nachzulesen, über geächtete Körper, verfolgte Körper, Körper lange ohne Stimme und wenn, dann umso schriller, diese History Herstory Theystory, die nichts mit Herkunft, mit Abstammung zu tun hat und deren Stein lange vor Stonewall ins Rollen kam, ja all die Steine, die geworfen worden sind und immer noch werden von marschierenden, protestierenden Körpern, all die grossen Brocken, in die Wiege gelegt, in den Weg gelegt, diesen instrumentalisierten, politisierten, verhandelten Körpern, diesen zu weiblichen, zu queeren Körpern, Körper nicht männlich genug, aber trotzdem gut als Arbeitskraft, besteuert und später zur Ruhe gesetzt, ruhig gestellt.

Ruhig Blut, mahnen meine Ahnen, und die Bilder, die ich sehe, sind das Blut, das wir spenden dürfen oder nicht, aus einem Buch, das ich gelesen habe oder nicht, sind die Rechte, die man uns zugesteht oder nicht, sind all die Paragrafen, die jenes verbaten und dieses noch immer verbieten , aus einer Ausstellung, die ich besucht habe oder nicht, sind die Nachkommen, die wir haben wollen, sollen, müssen oder nicht, aus einem Film, den ich gesehen habe oder nicht, und ich sehe, du siehst, wir sehen wieder rot, die Schnüre vermehren sich, Six degrees of separation, schlussendlich haben wir mit der ganzen Welt geschlafen, zu lange geschlafen, nicht genug geschlafen, und jetzt, wo ich heiraten darf, wo mein Bruder heiraten darf, meine Schwester heiraten darf in den meisten unserer Länder, das Echo des Standesbeamten auf Schweizerdeutsch zu meinem Vater, später übersetzt von der Trauzeugin meiner Mutter: Wir hätten es schon lieber, Sie würden eine hiesige heiraten. 

I got married at the rat house, sagt meine Mutter und meint das Rathaus, When are you finally going to tie the knot? Und ich sage, Ich zähle immer noch, ich Rattenfänger, I’m counting the scars, sie sind unzählig, die Narben, gefrässige Nagetiere, sie sind Hundebisse, sind Beschneidungen, sind diverse Löcher für Piercings, aktuell und verheilt, sind Tätowierungen, ganz viele und eine einzige aus Dachau auf dem Unterarm meiner Stiefgrossmutter, den Ärmel immer wieder hochgezogen, ein Vorhang zum Grauen, damit sich das Bild einbrenne in mir und sie nicht ausscheide aus meiner Geschichte, aus unserer Geschichte, der Geschichte ganz allgemein, und die Narben sind ein falsches Knie, sind ein neues Hüftgelenk, sind unzählige Leistenbrüche und immer wieder Blinddarmoperationen, sind gezogene Weisheitszähne und vereiste Warzen, sind ein amputierter Daumen, sind sexuelle Übergriffe, nicht nur von Männermenschen, über die wir nie, nie sprechen, sie sind zwei Überfälle mit einer geplatzten Lippe, zwei gebrochenen Rippen und diversen Prellungen, sind Beschimpfungen auf der Strasse, in Klubs, aus Autos heraus, recht oft, von den Leichen nicht zu sprechen, lassen wir die Toten ruhen, meist war es Krebs und, soviel ich weiss, nur einmal Suizid.

You need to keep it together, reiss dich zusammen, also zurren wir die Schnüre fest (hier, wo das Ich wieder stirbt) und unser Kokon, das sind ein möglichst gebildeter Geist und dazu die gelaserten Augen, sind das neue Gebiss, die begradigten Zähne, sind die falschen Brüste und das Bodybuilding, sind das bisschen Botox immer wieder, sind die Fruchtsäure-Peelings und das Make-up, ganz dezent, der Nagellack und das getönte Haar, sind die Bitte nach Berührung, Please touch us, touch our sick body, our young body, our ancient body, our white, Black, yellow body, touch our soft skin, our old skin, our dry, scaly, flaky skin, denn bald sind wir Schmetterlinge, bald schimmern, bald flattern unsere Flügel und lösen Wirbelstürme aus, und bald, bald sind wir Wind.

Simon Froehling, geboren 1978, ist schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger. Neben rund einem Dutzend Theaterstücken und Hörspielen hat er zwei Romane veröffentlicht (Lange Nächte Tag, 2010; Dürrst, 2022) und war sowohl für den Ingeborg-Bachmann-Preis als auch den Schweizer Buchpreis nominiert. Neben seiner Arbeit als Autor ist er als freier Dramaturg am Tanzhaus Zürich tätig. «Körper, ein Verb» wurde zuerst in Literatur + Kritik, Ausgabe Nr. 575/576 vom Juli 2023, im Otto Müller Verlag, Salzburg, veröffentlicht.

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Beitragsbild © Dieter Kubli/Bilgerverlag

Hans Gysi «Fledermausflug», Plattform Gegenzauber

Seltsam leicht
der fledermausflug
glücklich wer
sie flattern sieht
über die balkonkante
durchs vogelhaus
bricht dämmerung
du bist ein stern
geworden über dir
himmel tinten blau
buchstabiere die
rätsel neu
und die zeichen
des grossen bärs


frozen yoghurt

ein herz wie
gefrorenes yoghurt
tapfer lächelt die
vekäuferin ringt
eine freundlichkeit
nieder und sieht
plötzlich alt aus
im halben gesicht
sie trägt plastik
handschuhe
gut signalisiert
die zwei meter
marken zum vorrücken
mit korb oder
einkaufswagen
eine kundin drängelt
jugendbonus im rock
argwöhnischer blick
wie gefrorenes yoghurt
wer hat’s
wer kriegt’s
wen nimmt’s
angst essen seelen auf


Postkarte

ich hatte lange
geschlafen mit rilke
unter dem kopfkissen
doch als ich erwachte
war er weg und grüsste
mich aus dem wallis mit
einer postkarte
sei erde jetzt
demütig sei
schrieb er was ich
mir gern zu herzen nahm
dann wandte ich
mich nach osten


Aufräumen

man räumt auf
macht sauberen tisch
etwas fällt darunter
vielleicht man selbst
man schliesst ab
die alte Sache
das konto rennt
man führt name um name
der vergessenheit zu
bleibt auf der strecke
gerät ins hintertreffen

da ein sauberer tisch
voller spuren
gekritzel magische
zeichen eingekerbt

ameisenlaufen in den
händen irgendwo
lauert ein chaos

 

Hans Gysi «pocket songs», Edition 8, 144 Seiten, CHF ca. 20.00, ISBN 978-3-85990-168-1

Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers und an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen (Theater Katerland; Theater Zwei- Ge, Bilitz). Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der Pro Helvetia und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreis für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Lebt in Kreuzlingen Thurgau. Verheiratet. Vater von drei Kindern. Seit Januar 04 leitet er das theaterbureau, das kleinste Theater im Kanton Thurgau in Märstetten. 

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Sandra Hughes «Kopflos», sommerliche Krimigeschichte, Plattform Gegenzauber

«Alex Breitenstein, Kriminalpolizei Basel-Stadt. Frau Vogel?»
Heidi blinzelte in den blauen Himmel. Sie konnte das Gesicht des Herrn Breitenstein nicht erkennen, bloß einen schwarzen Umriss vor der Sonne. 
«Bleiben Sie ruhig liegen.»
Herr Breitenstein ging neben Heidi in die Hocke. Ein netter Mann. Keiner, der eine alte Dame schikanieren wollte. Heidi hatte sich auf ihrem Liegestuhl niedergelassen, noch immer schockiert von den Ereignissen des Morgens. 
«Die Bademeisterin hat mich an Sie verwiesen. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?»
Natürlich. Für Fragen war Heidi bereit. 
«Sie haben heute früh das Gartenbad betreten. Was ist passiert? Erzählen Sie möglichst genau.»
Oh, es hatte lange vor dem Betreten des Gartenbades begonnen. Aber Heidi konnte sich gerne auf einen Teil der Geschichte beschränken, und der ging so: Heidi war heute ins Tram Linie 2 gestiegen und bis zur Station Eglisee gefahren, wie sie es jeden zweiten Mittwoch in der Früh im Sommer tat, wenn die Sonne schien. An jedem zweiten Mittwoch im Monat hatte sie sich einen Morgen ganz für sich allein erkämpft. Er dauerte drei Stunden. Jeweils um elf Uhr brach sie zurück nach Hause auf, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit aufzutischen. Ihr Mann bestand darauf. Eine warme Mahlzeit am Mittag musste sein, mit Suppe. Selbstverständlich alles selbst gekocht. Bloß einmal hatte Heidi es gewagt, ihm ein Stück Käsekuchen von der Migros vorzusetzen. Immer wieder hatte sie versucht, ihm Spiegeleier schmackhaft zu machen, die er sich selbst anbraten konnte. Sie hatte Eintöpfe zubereitet, einfach zum Aufwärmen. Vergeblich. Ihr Mann wollte, dass Heidi für ihn da war, jeden Mittag. 
«Wie schön, Frau Vogel», sagte Herr Breitenstein. «Aber wir waren beim Gartenbad.»
Genau. Heute früh also hatte Heidi um neun Uhr den Eingangsbereich des Gartenbad Eglisee betreten und einen Eintritt gelöst. Nach der Kasse bog sie wie immer rechts ab ins Frauenbad. Das Frauenbad war ihre Glücksinsel. Von Saisonbeginn bis September kam sie jeden zweiten Mittwochmorgen hierher, wenn die Sonne schien. Der einzige Ort, an den ihr Mann ihr nicht folgen konnte. Hier musste sie seinen bösen Blick nicht sehen, wenn das Salz auf dem Tisch fehlte, der Brokkoli zu weich gegart war. Immer fehlte etwas, und egal, was Heidi tat, es genügte nie. Wenn Heidi redete, war es dummes Zeug, und wenn sie schwieg, griff er sie mit bös gemeinten Sätzen an. Er kommentierte jeden Handgriff von Heidi, nichts führte sie korrekt aus. Er quälte sie seit seiner Pensionierung, das Eheleben davor schien Heidi im Rückblick wie ein Zuckerschlecken. Die Sprüche von früher waren Streicheleinheiten im Vergleich. Wohin Heidi in der Dreizimmerwohnung ging, dahin verfolgte er sie. Er legte an, einen verbalen Pfeil nach dem anderen, und zielte präzise. Jeder Schuss ein Treffer in Heidis Herz. Heidi wappnete sich mit dicker Haut, verschloss ihre Ohren, übte eigene Bosheiten ein, damit sie zurückschiessen konnte. Keine Strategie taugte. Nichts half. 
«Also eine schwierige Ehe», sagte Herr Breitenstein. «Aber konzentrieren Sie sich bitte, Frau Vogel. Das Frauenbad.» 
Nach der Kasse war Heidi rechts ab ins Frauenbad abgebogen. Wie schön es war, frühmorgens hier zu sein. Noch bevor die Musliminnen und die alten Baslerinnen eintrafen. Sie führten gegeneinander Krieg, Burkiniträgerinnen gegen Barbusige, umkreist von Wächterinnen mit Kampfstiefeln und Schlagstöcken. Die einen zählten fremde Haare im Wasser. Die anderen machten sich breit, feierten Picknickorgien und beschimpften Bademeister, bloss weil sie Männer waren.
«Frauen», sagte Herr Breitenstein. Er hatte sich neben Heidis Liegestuhl auf dem Rasen niedergelassen. «Kommen Sie zur Sache, Frau Vogel. Konzentrieren Sie sich!»
Heidi ertappte ihn bei einem verächtlichen Blick auf ihre nackten Brüste. Ihre knapp achtzigjährigen Körperteile, von den Spuren des Lebens gezeichnet und in Würde gealtert, hatte niemand so zu behandeln. Das ließ sie den Herrn Breitenstein auch gleich wissen. Genau so wenig wie es niemandem zustand, ihre Speckrollen rund um Bauch und Hüfte zu verachten. Sie waren die schönste Verwandlung von Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten, die Heidi in stiller Verzweiflung während all der Stunden in ihrer kleinen Küche schuf. Immer dann, wenn ihr Mann drohte, sich aus dem Fenster zu stürzen, falls sie ihn schon wieder allein zu Hause zurückließ, um mit einer Freundin zu spazieren. Heidi ertappte sich wiederholt bei der Hoffnung, dass er verschwunden war, wenn sie auf Kommando um sechzehn Uhr mit Kaffee und Kuchen aus der Küche trat. Aber er war immer da. 
«Frau Vogel. Kommen Sie endlich zum Punkt!»
Herr Breitenstein schaute jetzt so böse wie Heidis Mann. Es fehlte bloß noch, dass er einen Vortrag dazu hielt, wie dumm Heidi war. Also: Sie wollte heute früh schwimmen, wie immer als Erste. Sie platzierte ihren Liegestuhl auf dem gewohnten Platz. Dann stieg sie die Stufen hinunter ins Schwimmbecken, ließ sich ins kühle Wasser gleiten, schwamm eine Länge hin und eine Länge zurück. Für den Ausstieg suchte sie mit den Zehen nach der untersten Stufe, ganz sachte, weil man sich an der harten Kante stoßen konnte. Heidis Augen waren nicht mehr die besten. Aber fühlen, das konnte sie noch. Sie tastete sich also vor, um sicheren Tritt zu fassen. Da spürte sie unter ihrer Fußsohle etwas, einen Widerstand, der zugleich weich war. Glitschig und klebrig in einem. Ihr Fuß zuckte zurück, aber zu spät. Sie hatte diesen – Heidi blieb das Wort in der Kehle stecken – diese Sache unter ihrem Gewicht zerquetscht. 
«Zerquetscht?» Breitensteins Gesicht war nun ganz nah bei Heidi. «Und danach?»
Danach hatte Heidi geschrien. Ihr Schrei gellte über das gesamte Areal und weit ins Kleinbasel. Auch die Angestellten vom Familienbad drüben kamen angerannt, um gemeinsam ins Wasser zu starren, das nun von rosaroten Schlieren getrübt war. Es folgten vielstimmiges Entsetzen und nüchterne Mutmassungen. Nach viel Gerede kam es der Bademeisterin in den Sinn, den Zugang zum Frauenbad zu sperren, die 117 anzurufen und im Laufschritt ein Netz holen zu gehen. Heidi war schneller als die Bademeisterin. Sie beugte sich vornüber, griff tief ins Wasser und holte diesen – diese Sache – aus dem Becken. 
«Sie haben ihn angefasst?» Herrn Breitenstein flossen Schweißbäche übers Gesicht. «Zuerst treten sie ihn halb zu Brei, und danach befingern Sie ihn?»
Es tat Heidi leid. Ehrlich. 
«Sie haben wertvolle Hinweise auf den Tathergang verwässert!»
Heidi schaute zum Schwimmbecken hinüber und unterdrückte ein Kichern. Tatsächlich. 
«Herrgott, Frau Vogel!» Herr Breitenstein war aufgesprungen. «Denken Sie das nächste Mal, bevor Sie handeln!»
Heidi sah ihm nach, wie er über den Rasen davoneilte, das Handy am Ohr. Herr Breitenstein musste jetzt das Opfer finden, zu dem Heidis Fundobjekt gehörte. Heidi musste ihm beipflichten: Sie hatte gehandelt, ohne nachzudenken. Kopflos, wie ihr Mann gesagt hätte. Heidi hatte schon lange keinen Kopf mehr, wenn es nach ihrem Mann ging. Aber ihr Mann irrte sich, sie hatte noch einen Kopf. Heidi hatte bloß kein Herz mehr. Sie lehnte sich im Liegestuhl zurück, schaute in den blauen Himmel hoch und dann zur Uhr, deren silberne Zeiger in der Sonne glänzten. 
Heute würde Heidi nicht um elf Uhr nach Hause aufbrechen, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit samt Suppe aufzutischen. Auch keine Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten würde sie mehr still in ihrer kleinen Küche schaffen. Heute blieb Heidi auf ihrer Glücksinsel liegen. Morgen würde sie wiederkommen und übermorgen auch. Immer wenn die Sonne schien und mit ihrer Wärme dazu beitrug, den zerfetzten Klumpen in Heidis Brust wieder zu einem Herzen zusammenzusetzen.

«Mord in der Badi. Sommerliche Krimigeschichten aus der Schweiz», herausgegeben von Miriam Kunz, Atlantis Verlag, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 22.90, ISBN 978-3-7152-5513-2

Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Bisher erschienen die Romane «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009), «Zimmer 307» (2012) und «Fallen» (2016). Bei Kampa sind bisher 3 Krimis um Tschopp & Bianchi erschienen. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Neben Krimis und Romanen schreibt Sandra Hughes auch für Kinder. 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.

Sandra Hughes verfasste beim Schweizerischen Jugendschriftwerk SJW auch zwei preisgekrönte Erstlese- und Vorlesebüchlein:

 

 

 

 

 

Beitragsbild © Kampa Verlag/Sven Schnyder