Ulrike Ulrich «Das Beste an Corona», Literatur für das, was passiert

Das KünstlerInnenkollektiv Literatur für das, was passiert wurde 2015 von den Schriftstellerinnen Gianna Molinari und Julia Weber gegründet, um Menschen auf der Flucht zu helfen.

Seit 2015 gibt es Anlässe, bei denen SchriftstellerInnen an Schreibmaschinen Texte auf Wunsch verfassen. Das können Gedichte, Geschichten, Pamphlete, Liebesbriefe, das kann alles sein. Auch kommen seit einigen Jahren immer wieder ZeichnerInnen dazu, welche die Texte vor Ort illustrieren. Die entgegengenommenen Spenden gehen an Menschen auf der Flucht. Dabei werden Organisationen unterstützt, welche vor Ort (mehrheitlich in Griechenland, Italien und Syrien) tätig sind, die medizinische Hilfe leisten, Nahrungsmitteln, Kleidung verteilen und die Menschen bei der Weiterreise finanziell und rechtlich unterstützen.

Seit 2019 ist Literatur für das, was passiert auch in Deutschland präsent.

Literatur für das, was passiert schreibt für das, was passiert, gegen das, was passiert, schreibt auch für das, was passieren soll. Es wird für oder gegen das geschrieben, was drängt. Literatur für das, was passiert mischt sich durch das Schreiben in gesellschaftliche und politische Diskurse ein.

Ulrike Ulrich schrieb den folgenden Text ist an einer Schreibmaschine in 30 Minuten:

 

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman „fern bleiben“, dem 2013 der Roman „Hinter den Augen“ folgte, und 2015 der Erzählband „Draussen um diese Zeit“. Mit Svenja Herrmann hat sie Anthologien zum 60. und 70. Geburtstag der Menschenrechte herausgegeben. Mit Axmed Cabdullahi erschien zuletzt „Ein Alphabet vom Schreiben und Unterwegssein“. Ihre Texte wurden u. a. mit dem Walter Serner-Preis 2010, dem Lilly-Ronchetti-Preis 2011 und Anerkennungspreisen der Stadt Zürich ausgezeichnet. 2016 erhielt Ulrike Ulrich ein Werkjahr der Stadt Zürich und 2018 einen Pro Helvetia-Werkbeitrag für «Während wir feiern».

Webseite der Autorin

Literatur für das, was passiert

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

Shilin 士林

(Lang-Haiku)

Surrende Morgen
im Wald der Gelehrten wie
ein Dorf in der Stadt
Tofuverkäufer richten
die Stände Nudeln werden
geschlürft Kinder auf
Motorrollern zur Schule
gefahren derweil
das Café an der Ecke
geschlossen wegen
der Krise alte
Frauen und Männer schwingen
Arme und Beine
im Kinderwagen sitzt ein
Hund Frauen wollen
keine Männer regieren
besonnen das Land.
Warum werden Graffiti
bald weiss übermalt?
Die hohen Betonmauern
schützen vorm Fluss wenn
der Taifun Wasser
in die Stadt treibt weit schwingen
Brücken zähmen die
Natur Mensch gefangen
im löchrigen Netz.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan IV

«Bücher sind lebensverlängernd – oder: Bücher als Lebensmittel»

Monika Lustig gründete die Edition Converso mit literarischem Blick zum Mittelmeerraum. Zum mutigen Unterfangen und die Motivation dazu, gibt die in Süddeutschland lebende Verlegerin Auskunft.

Urs Heinz Aerni: Ihr Verlagslogo schmückt sich mit einer Meeresgöttin, der Amphtrite. Wie sind Sie auf sie gekommen?

Monika Lustig: Zum ersten Mal begegnete sie mir als Skulptur auf der Spitze des Mannheimer Wasserturms.  Meine Neugier war hellwach. Dann, die Steintafel gemäss Wikipedia aus korinthischer Zeit, eine Offenbarung…

Aerni: … inwiefern?

Lustig: Den Dreizack kennen wir gemeinhin als Machtsymbol für die Domäne des Fischfangs in der Hand von Neptun oder Poseidon, den Herrschern der Meere. Doch die mythologische Geschichte dahinter besagt: diese Macht war einst die der Frauen. Sie die schöne und stolze Amphitrite mit ihren weltenspiegelnden Augen wollte unverheiratet bleiben, und das reizte den Appetit des Poseidon. Er setzte ihr nach, sie flüchtete. Am Ende erlag sie seinem Schmeicheln …

Aerni: Ob es wirklich Liebe war?

Zum Beispiel: Belinda Cannone «Vom Rauschen und Rumoren der Welt»
Ein sehr origineller wie sinnlicher Ideenroman, in dessen Zentrum zwei Figuren mit «Hyperakusis», extremem Hörvermögen, eine Komponistin und ein Vagabund stehen. Ein Roman, der dem Schrecklichen und Schönen in der Welt gleichermassen nachlauscht und beim Zuhören Widerstandskräfte entwickelt.

Lustig: Poseidons Ziel war die Macht, kaum die liebende Verbindung. Amphitrites Hand löst sich vom Dreizack … der bereits mit dem Myrtenkränzchen der Hochzeit geschmückt war. Diese «Momentaufnahme» der Niederlage wurde zum Logo von Edition Converso. Doch Amphitrite soll den Dreizack wieder fest in ihre Hand bekommen. Weibliche Ästhetik und Kreativität sollen programmatisch im Vordergrund stehen, besondere Wertschätzung erfahren; doch zugleich offenbaren sich mir an erster Stelle die Themen und die Geschichten, die zu Büchern werden, ohne Ansehen des Geschlechts. «Inkohärenzen» sind also mitbedacht.

Aerni: Die Grundbedeutungen von di converso oder con verso, mit Widerspruch, in der Konversation und mit Reim sagt ja schon einiges aus über die Absicht Ihres Verlages. Wie würden Sie dieses Credo für Ihr Programm sonst noch umschreiben?

Lustig: Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben: Das Lesen «die menschlichste aller Gesten» (Fabio Stassi), soll wieder zur lebendigen Praxis des Austausches mit Anderen werden. Dem kurz gewordenen Gedächtnis, dem Geschichts-Vergessen mit all seinen Monstrositäten der Kampf angesagt werden. Hochgestecktes Ziel: Aus allen Sprachen rings um das Mittelmeer, Adria inclusive, Übersetzungen zu veröffentlichen, erzählende wie essayistische Literatur, aber auch Lyrik, um den Mittelmeerraum wieder als einen vereinten und ganzheitlichen Kulturraum zu erkennen, wie er es einst war, und nicht als eine Region unmenschlicher Grenzverläufe und Kriegsgräben. Wir sprechen bislang italienisch, sizilianisch, arabisch, spanisch, griechisch, slowenisch …

Der Verlag soll ein Podium für aufklärerische und verführerisch schöne Stimmen sein. Und doch auch Bücher zu verkaufen, um neue zu machen, um das Gespräch mit der Welt fortsetzen zu können.

Aerni: Es gibt ja Tage, die dem Buch gewidmet werden, wie der 23. April oder diese Vorlesetage…

Zum Beispiel: Hussein Bin Hamza «Ich spreche von Blau, nicht vom Meer»
Hussein Bin Hamzas Gedichte sprechen eine frische knappe Sprache – er meidet jegliche „orientalische“ Blumigkeit. Die Sprache ist ein Rüttelsieb, durch das er die Existenz bis auf die Knochen freilegt.

Lustig: Richtig, aber warum wird am Tag des Lesens immer nur an Kinder gedacht? Wir glauben an die therapeutische Wirkung von Büchern. Politikerinnen und Politiker sollten zur Lektüre verpflichtet werden – einschliesslich dem «Abgehörtwerden» (sie lacht).

Aerni: Sie hegen eine sehr persönliche Beziehung zu Büchern…

Lustig: Es geht um das Weiterlernen, erinnern, altes Wissen ausgraben. Ich will den Beweis antreten, dass allein schon der Besitz von vielen Büchern, mit Sinn aufgereiht, lebensverlängernde Wirkung haben kann.

Aerni: Was führte Sie zur Gründung eines Buchverlages?

Lustig: Die Geschichte hinter Edition Converso nährte und nährt sich, wie alle meine Unternehmungen, von purer Passion und Leidenschaft. In die nähere Vergangenheit blickend war die  2013 begonnene Veranstaltungsreihe  «Südwärts-um-die-ganze-Welt» eine Verlagsvorstufe: sie zeigte auf, wie wichtig die Schnittstelle zwischen der Verklärung des Südens und die Suche des Südens nach Rettung und Zukunft durch den Norden ist. Die damaligen Begegnungen in Karlsruhe mit Autorinnen, Musikern, Verlegerinnen und Übersetzer und die Veranstaltung im Januar 2018 zu «Religionen der Liebe» im ausverkauften Gartensaal des Karlsruher Schlosses mit Stefan Weidner gingen nahtlos über in die Verlagsgründung am 1. März 2018. Weidner wurde dann auch unser erster Hausautor.

Monika Lustig,  Bismarckgymnasium Karlsruhe, Philosophie- u. Germanistikstudium Heidelberg, 1979, statt zu promovieren, Emigration nach Italien:  Insel Elba, Sardinien, Sizilien, Emilia-Romagna. Und Toskana. Sie ist sie bis heute nicht darüber hinweg, Florenz verlassen zu haben. Nach Jahren des Unterrichtens an italienischen Schulen u. Uni, eigene Sprachschule „Studio Fiore Blu“ (Deutsch-Italienisch-Englisch) auf Elba. Geschrieben hat sie schon immer; so auch 1993 (Auftragsarbeit) eine Biografie des Mafiajägers Leoluca Orlando. Lieblingsautoren aus ihrem Übersetzerportfolio: Leonardo Sciascia, Simona Vinci, Santo Piazzese, Fabio Stassi, Simonetta Agnello-Hornby, Marcello Fois, Giorgio Chiesura, der Andrea Camilleri der historischen Romane, u.v.m.. Für ihre Übersetzungen erhielt sie mehrere Stipendien (Deutscher Literaturfond; Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V. Befruchtende Aufenthalte im Übersetzerhaus Looren/Zürich. Sie lebt derzeit im deutschen Wald, immer das Mittelmeer vor Augen.

Webseite des Verlags

Karsten Redmann «Flawil bei Paris»

Wo es einen hinführt, wenn es einen fortführt; aus dem allseits Gewohnten, hin zu etwas Neuem. Flawil leuchtet. Und Paris? Mutet an, nur ein paar Strassen weit entfernt zu sein.

Es sind andere Zeiten, denke ich. Und dass diese etwas mit mir anstellen. Mich in Bewegung versetzen.

Und so ist es ja auch: Ich habe vorübergehend einen Ort durch einen anderen ersetzt; Sankt Gallen gegen Flawil. Und dieses Flawil, so scheint es, so sagt man, ist zwar nicht schön, aber doch wohl wert gesehen zu werden.

Also erkunde ich.

Die Sonne steht hoch. Ich gehe los, quere die Strasse, nehme die Brücke. Unter der Brücke liegen Schienen. Sie verbinden Ost mit West. Ein Zug passiert die Brücke, es vibriert. Geräuschvoll gleiten die Wagen unter mir hindurch. Meine Kapillare nehmen die Vibration umgehend auf.

Es ist einer der Züge, die weite Strecken zurücklegen. Links und rechts des metallenen Schienenstrangs leuchten Schilder in Blau. Ich lese «Flawil». Erst rechts, dann links. Gehe weiter. Über die Brücke hinaus. Folge dem Weg, in den Ort hinein.    

Das Gehen tut gut. Ich bin unterwegs. Nicht so wie gestern und vorgestern. Denn gestern und vorgestern sass ich oder lag ich, hinter einer dünnen Bretterwand. «So ein Bauwagen ist schlecht isoliert», hatte jemand zu mir gesagt – und das stimmt ja auch: die Nächte sind kalt.

Im Nachhinein ist mir, als hätte es gestern und vorgestern nicht aufgehört zu regnen. Unzählige silberne Bindfäden in der Luft. Kühle auf der Haut. Das Geräusch des Regens auf dem Dach des Wagens, ein ständiges Trommeln – tausende Finger auf dem Blech. Das ist heute anders. Heute ist das Draussen schön.     

Ich spaziere am Spital vorbei. Es ist ruhig. Kein Mensch auf der Strasse. An den Fenstern stehen Ärzte und Patienten. Folgen mit den Augen meinen Schritten. Kurz bin ich versucht zu winken, lasse es aber sein. Mit der Hand wische ich mir Schweiss aus dem Gesicht. Aus dem Nichts tauchen Filmsequenzen auf, bebildern meinen Kopf. Ich höre Schreie. Stumme Schreie.

Aber das macht doch keinen Sinn, denke ich.

Ich sehe Menschen hinter Glas. Offene Münder. Ich denke an Anstalten, weisse Kittel, und daran, wie schnell man diese an- und ausziehen kann. Auch denke ich an Blut, das an den Kitteln kleben bleibt. Früher oder später. Vor allem aber denke ich daran, wie sich Dinge verfestigen. Auch Muster und Rollen.  

Grundsätzlich versuche ich zu sehen was ist. Hin und wieder auch das Dahinter. Aber weit komme ich nicht. Einer geschlossenen Tür folgt die Nächste. Und es braucht unendlich viel Zeit sie zu öffnen.

Es braucht immer viel zu viel Zeit.

Jetzt: eine Fassade. Und ein Haus weiter: eine Fassade. Fenster. Türen. Dann andere Strassen. Sich kreuzende Wege. Grünflächen. Hunde. Lautes Bellen. Wieder Wege, die zu Häusern führen, Menschen dahinter. Unsagbar viele Vorhänge. In einem der Fenster: Kakteen. Auf der Fassade des Hauses prangt eine Sonne. Selbst in der Nacht ist ihre Wärme zu spüren. Man kann es sich denken.

Ich bin in der Ansichtnahme von Dingen und Menschen. Hole sie mit meinen Blicken näher heran. Mehr jetzt die Dinge als die Menschen. Warum das so ist? Vielleicht liegt es ja an der Widerspruchslosigkeit der Dinge. Sie wehren sich nicht. Das macht es einfacher.  

All diese Strassen sind mir neu. Ich kannte sie nicht. Und lerne sie jetzt kennen: den Teer, die gepflasterten Steine, links und rechts Gebäude – die einen bewohnt, die anderen wohl unbewohnt.

Es ist sehr still. Und in dieser Stille empfinde ich Stille. Und aus dieser heraus, betrachte ich. Betrachte ein Fenster mit zur Schau gestellten Dingen. Ich sehe eine Puppe in einem Wagen. Einen Plüschhund an einer Leine, die von keiner Hand gehalten wird. Ein Haus aus Pressspan mit vielen Zimmern und Figuren darin. Eine nachgestellte Welt. Ich koppele das, was ich sehe, an Gedanken, die ich habe. Es sind nicht viele; aber doch welche. Es könnte schlimmer sein, denke ich. Mit einem Mal die Frage: Was stellt man eigentlich aus, für wen, und warum? Warum diese eine Figur und keine andere? Fragen und Schaufenster haben etwas gemein, sie geben keine Antworten.       

Vor einem weiteren Schaufenster mit weiteren Dingen stehend, vergesse ich, wo ich eigentlich bin. Da ist ein Gefühl, das sich in mir entfaltet, sich breit macht, wie ein Teppich auslegt; auf dem ich stehe, dann gehe. Über Dinge hinaus. Ein paar Strassen weiter ist Paris, sagt mir mein Gefühl – und meint: Geh weiter. Bleib in Bewegung. Sieh genau hin. Und ich sehe genau hin, gehe den Dingen allmählich auf den Grund, wende Steine, grabe mit den Händen ein Loch, wühle auf.

Die Hitze macht meinem Körper zu schaffen. Ich suche Schatten. Finde Schatten. Grabe mich ein. Unter der Stadt ist eine andere Stadt. Eine Unter-Stadt. Sie hat Häuser und Wege, die anders aussehen. Wege, die ins Nichts führen. Häuser ohne Fenster. Zwischen den Gebäuden und auf den Strassen brennen Feuer. Das einzige was ich höre ist ihr Lodern. Stundenlang gehe ich die Wege der Unter-Stadt entlang. Ich nehme einfach hin, dass es sie gibt, diese Stadt unter der Stadt. Die Erde ist braun, Varianten von Braun. Am Ende eines schmalen Weges, der steil nach oben führt, wende ich den Kopf. Eine Bewegung in Richtung Himmel. Zwischen den Häusern, und deren mit roten Ziegeln bedeckten Dächern, leuchtet es Blau. Die Ober-Stadt, denke ich. Am Himmel kein Schwarz. Keine Flügel. Kein Schatten. Nur Licht. Es blendet.  

In der Nähe grösserer Einkaufsläden komme ich an einer Plakatwand vorbei. Treffe auf Menschen. Es sind nie mehr als fünf. Sie grüssen ohne Worte.

Überall, selbst in den kleinsten Strassen, zeigt sich etwas. Gibt sich als neu aus. Doch mit dem Gehen verliert sich das Neue. Ich eigne mir Orte an, schmiege mich an Angesehenes, mit den Augen Abgetastetes. Aber – ich verliere mich gleichzeitig. Meine Gedanken füllen ganze Strassen. Liegengebliebene, auf der Strecke gebliebene, Gedanken.

Ich summe ein Lied aus Kindertagen, es tut gut, es in meinem Inneren zu hören, ihm zu lauschen, den Tönen nachzugehen. So hole ich mich ein. Sammele mich auf. Ein Mann ruft ein Kind. Davon gehe ich zumindest aus, denn die Art wie er ruft, macht die gerufene Person klein. Es ist ein strenger Ton.

An einem Spielplatz bleibe ich stehen. Keine Kinder. Lange blicke ich auf den verlassenen Sandkasten, die Schaukeln, die leeren Sitzbänke. Eine Welle kommt auf mich zu, erst leise, dann lauter: ein französischer Chanson. An einem offenstehenden Fenster sehe ich eine junge Frau. Aus ihrer Wohnung dringt das Französisch. Ein Singsang.

Paris, denke ich, und meine Schritte werden schneller. Ein Junge mit riesigen Kopfhörern geht an mir vorbei. Auf seinem schwarzen Pullover prangt ein weisses Haus das auf dem Kopf steht. Aus den Fenstern des Hauses purzeln Menschen. Ihre Körper ebenfalls weiss. Sie hängen in der Luft. Jetzt verschwindet der Junge hinter der nächsten Strassenecke.

Der Eiffelturm, auf den Kopf gedreht, bohrt sich direkt neben meinen Füssen in den Boden. Ich stehe an einem der vier Enden. In der Erde, tief unter mir, die Spitze des Turms. Wie tief er wohl steckt? Irgendwie ist alles verdreht.

Ich gehe weiter. Gehe um Ecken herum. Hier eine Mauer, da ein Garten, alles sauber getrennt. Hier das eine, da das andere. Hier jetzt ein speiender Zwerg an einem Teich. Das Gurgeln des Wassers. Ein Garten aus Stein. Balkone. Wörter und Sätze, die von Balkonen fallen. Ich nehme sie auf. Betrachte jedes einzelne Wort. Was es nicht alles zu sagen gibt? Zu sagen gäbe? An einer der grauen Häuserwände klebt eine Figur. Ein Mädchen. Ihr Körper ist rot. Sie trägt ein Kleid.

In einem Hinterhof sitzen Menschen auf Stühlen. Sie nicken sich zu. Ihre Gespräche ein Rauschen. Um die kräftigen Beine der einen Frau windet sich eine Katze. Die Katze sieht mich und läuft weg.     

Wie sehr sich in meinem Kopf, während ich gehe, alles verbindet, verschaltet: Diese Strassen und Häuser von Flawil mit den Strassen und Häusern von Paris´ Zentrum – einer Stadt in der Stadt, die zwar auch Paris ist, aber nicht nur. Man denke an ihre schiere Grösse. An weitere Kreise. Umkreisungen von Kreisen.

Überall entdecken meine Augen, ihre Farbe habe ich vergessen, wie so Vieles in der letzten Zeit.

Finde ich den Weg zurück? Von jetzt zu früher? Von diesem Ort hier, zu einem, an dem ich gelebt habe? Von diesem Platz, wo ich mich gerade aufhalte, zu dem Wagen mit dem Blechdach? Gerade weiss ich es nicht. Kann es nicht sagen. Aber es ist auch egal. Vielleicht muss man sich erst verlieren um sich später zu finden.

Umgehend frage ich mich, was ich über mich selbst sagen kann? Und ob das stimmen würde, was ich dann sage? Fände ich die richtigen Worte? Treffende? Und führen diese Worte zu mir? Was ist dieses Ich? Ist es oder wird es? Wird es sein? Gewesen sein? Ich? Bin ich das?         

Überall erkennen meine Augen: ein Wort. Hören meine Ohren: ein Wort. Spuckt mein Mund: ein Wort – auf den aschgrauen Boden. Und dieses Ich, es dunkelt, ein Punkt. Ein Ausgehen von. Ich gehe von diesem Punkt aus. Das Davonausgehen tut gut, denn ich bleibe in Bewegung.

Alles ist näher als man denkt, denke ich. Und bald schon kommt Paris, denke ich. So viel ist sicher. Man muss nur weitergehen. Über alles Bekannte hinaus.

Es sind andere Zeiten.

Karsten Redmann, geboren 1973 in Neunkirchen (Saar), lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in St. Gallen (CH). Studium der Politologie mit Nebenfach Psychologie an den Universitäten Duisburg, Bremen und Tampere (FIN). Nach Abschluss des Politikstudiums besuchte er die Deutsche Fachjournalistenschule (DFJS) in Berlin und arbeitete als freier Journalist für überregionale Print- und Onlinemedien. Zuletzt erschien der Erzählungsband mit dem Titel «An einem dieser Tage»in der edition offenes feld.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn», Verbrecher Verlag

Grotesk sezierend könnte man die poetische Herangehensweise der Berliner Schriftstellerin Alexandra Riedel nennen. In ihrem Roman über Eltern-Kind-Beziehungen arbeitet sie sich an großen Themen wie Liebe und Grausamkeit ab. Zuletzt gewann die Autorin mit einem Auszug ihres Romans den Bayern 2-Wortspiele-Preis.

von Karsten Redmann

Vom Ende her gedacht, vom Ende her geschrieben

Mit etwas mehr als hundert Seiten ist «Sonne, Mond, Zinn» ein recht schmaler Roman, der in seiner Kunstfertigkeit Grosses versucht, an vielen Stellen auch Grosses schafft, sich hin und wieder aber auch leicht verhebt.

Die in Berlin lebende Autorin Alexandra Riedel scheint sich bei ihrem Debüt im Verbrecher Verlag einiges vorgenommen zu haben, schreibt rhythmisch, fliessend, aber auch karg und hart. Ihre Sprache ist, von kleinen Ausnahmen abgesehen, sehr reduziert, direkt, ja lakonisch – und das im besten Sinne des Wortes:

«Herr Anton Hamann, dein Vater, mein Großvater: gestorben. Und woran? Ich hatte nicht gefragt.»

Die 40-jährige Riedel, Absolventin des Masterstudiums am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig (DLL), engt ihren Ich-Erzähler, dessen Worte der eigenen Mutter gelten – insofern ist der Roman ein Briefroman – in keiner Weise ein, so dass sich sein Berichten zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten bewegt. Das an die Mutter gerichtete Schreiben ist insofern ein Erzählen in Möglichkeiten, weil der Berichtende über das, was er weiss oder zu kennen glaubt, immer wieder hinausgeht, und damit fiktive Begebenheiten, im eigenen Kopf Phantasiertes, oft auch Surreales, an tatsächlich Geschehenes koppelt. Der Ich-Erzähler schafft sich somit innere und äussere Freiräume, die er gerne und oft nutzt. Diese Art des Erzählens hat etwas Weitendes, Ausgreifendes, die Sehnsüchte des Erzählers Ausweisendes. Und in diesem narrativen Spannungsverhältnis steckt eine der Stärken des Romans.

Hier ein Beispiel:

«Vierzig Minuten schwebt eine Mondsonde über euch. Um vier Uhr morgens verschickt sie schliesslich ihre Aufnahmen per Funk. Auf siebzehn von neunundzwanzig Bildern seid ihr zu sehen. Vater und Tochter auf der Rückseite des Mondes. Kurze Zeit später taucht ihr auf allen Titelseiten der Welt auf.»

In insgesamt dreizehn Kapiteln wird die Geschichte von Esther Zinn durch ihren Sohn erzählt, nicht aus einem Guss, sondern bruchstückhaft. Dabei wirkt dieses Erzählen hin und wieder wie ein Bedienen aus dem Baukasten. Mit sehr unterschiedlichen Versatzstücken.

Zusammengehalten wird der immer wieder ins Groteske gehende Roman durch eine Rahmenhandlung: Gustav Zinn, Fluglotse auf einer Insel, reist zum Begräbnis seines ihm bis dato unbekannten Grossvaters, und berichtet im weiteren Verlauf über die unangenehme Situation, sich fremd unter den eigenen Verwandten zu fühlen, schliesslich lebte der Grossvater bis zu seinem Tod getrennt von Gustavs Mutter, Esther Zinn, und damit auch getrennt von ihm.

Was den literarischen Gestaltungswillen dieses Romandebüts angeht, machen vor allem die ersten Seiten, sowie die Kapitel ab etwa der Mitte des Buches, Eindruck. Inhaltlich und von der Form her wirken sie sehr durchdacht, konzentriert und genau gearbeitet. Man könnte sie auch als schlackenlos bezeichnen. In diesen recht gelungenen Kapiteln findet sich beispielgebend folgender Textausschnitt:

«Dinge passieren. Menschen auch, sagtest du immer, wenn du von deinem Vater sprachst.»

Auf längere Sicht etwas gekünstelt und gestelzt wirken die Passagen die im Konjunktiv verfasst sind. Auch wenn es naheliegt, diese Erzählform zu wählen, nutzt sich ihre Frische und Kunstfertigkeit mit der Zeit leider ab:

«Ich erinnere mich, wie du mir davon erzähltest. Ganz jung hattest du mit einem Mal wieder ausgesehen. Du lächeltest, strahltest wie ein Kind, schliefst irgendwann ganz ruhig ein.»

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn» Verbrecher Verlag, 2020, 112 Seiten. Verbrecher Verlag, CHF 28.90, ISNB 978-3-95732-423-8

Eine grosse Stärke der Autorin, die in Süddeutschland geboren und in Norddeutschland aufgewachsen ist, sind die Dialoge zwischen den Figuren. Diese sind perfekt gearbeitet, glaubwürdig und in ihrer Machart geradezu aussergewöhnlich. Insbesondere, wenn – wie beiläufig – Stimmen von Vorbeigehenden festgehalten werden. Ein derart eindrucksvolles Einfangen von Sprache klingt so:

«Wirklich schönes Wetter. Wirklich gute Idee. Nochmal die Beine vertreten. Nochmal tief durchatmen. Man fange an zu schwitzen, so ganz in Schwarz. Der heisseste Tag des Jahres. In der Kirche bestimmt angenehm kühl. Bachs Toccata werde gespielt. Da vorne sei es schon. Was? Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche. Wessen Stücke? Bachs. Wie spät? Gleich elf. Unter all den vielen Menschen finde man sie doch niemals. Doch, doch. Da, da.»

Auf den letzten Seiten kippt Riedels Text leicht ins Surreale, Traumhafte, nimmt erneut an Fahrt auf, verändert die Grundspannung. Das ist durchaus herausfordernd. Alles in allem kann man der Autorin damit gegen Ende des Buches nun wirklich nicht vorwerfen, ängstlich vorzugehen, denn sie treibt den Text – auch was das Symbolische angeht – auf den letzten Metern voran, geht ein Risiko ein, irritiert an manchen Stellen, behält die Fäden aber allzeit in der Hand. Das Poetische ihrer Sprache leuchtet auch hier immer mal wieder auf – wobei die hier genannte Textstelle das Kristalline in Riedels Sprache besonders deutlich macht:

«Das Meer an windstillen Tagen so glatt wie ein Betttuch. Der Horizont ein gerader Strich. Ob du schon mal hinter dem Strich da gewesen seist?, fragte ich dich damals.»

Dem Berliner Verbrecher Verlag ist es zu verdanken, dass mit «Sonne, Mond, Zinn» ein höchst eigensinniger Roman das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. In seiner Machart sticht der Titel unter den vielen Büchern des Frühjahrs besonders ins Auge. Und das nicht nur aufgrund seiner Kürze. Gerade wegen des künstlerischen Anspruchs, den die Schriftstellerin Alexandra Riedel formuliert, ist dem Text eine grosse Leserschaft zu wünschen.

© Nane Dieh

Alexandra Riedel, geboren 1980 in Süddeutschland und aufgewachsen in Norddeutschland, studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin. Danach folgte ein Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 war sie unter den FinalistInnen beim 22. Open Mike. Veröffentlichungen in: «Object is Meditation and Poetry», Grassi Museum für Angewandte Kunst (2017) und «Tippgemeinschaft» (2016, 2015). Alexandra Riedel lebt in Berlin. Für ihren Debütroman «Sonne Mond Zinn» wurde Riedel mit dem Bayern2-Wortspiele-Preis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Nane Dieh

Ruth Werfel «Ausgeträumt», Bucher, Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

Die Kulturjournalistin und Lyrikerin, Ruth Werfel, legt ein Lyrikband vor, der eine breite Palette an Gefühlen auslöst oder bedient. Das Buch liegt angenehm und bibliophil schmuck gemacht in den Händen, das Lesen öffnet Tiefen. Dazu stellte der Journalist Urs Heinz Aerni der Autorin in paar Fragen.

«Die Zweifel sind das Gerüst.»

Urs Heinz Aerni: Der Titel Ihres Lyrikbandes heißt schlicht und einfach «Ausgeträumt». Zuerst las ich «Ausgeräumt». Was meinen Sie dazu?

Ruth Werfel: Hm… Ein freudscher Verleser? Oder doch eine engere Verwandtschaft? Cousins, vielleicht?

Aerni: Ihre Gedichte hinterlassen beim Lesenden allerhand Gefühle. Von witzig-fröhlichen wie zum Beispiel beim Gedicht «Spuk-Puck» über wütende auf die Welt wie auf den Seiten 74 und 75, bis hin auch zu zweifelnden und melancholischen wie beim Gedicht «Ohne Lösung». Ist das auch Ihr Weg beim Schreiben; vom Reflex der Emotion zum Griff in die Tastatur?

Werfel: Das ist ganz verschieden. Ein Gedicht meldet sich, wie Klingeln an der Haustür – siehe Seite 12 – es beruht auf Gedanken, einem Erlebnis, oder auf einer Fotografie in der Zeitung. Es gibt ganz verschiedene Auslöser, die zu einem kleinen Text führen.

Ruth Werfel «Ausgeträumt», Gedichte, Bucher Verlag, 2020, 100 Seiten, CHF 20.90, ISBN 978-3-99018-529-2

Aerni: Ihre Arbeit bewegte sich eine Lebenslänge zwischen Kulturjournalismus, Literatur und Poesie. Wie sehr kann ein Leben für die Kultur auch bewirken, dass die Kultur das Leben bereichert?

Werfel: Kultur – wie weit man diesen Begriff auch auslegt – ist eine einzige Bereicherung. Ein Leben ohne Kultur: Unvorstellbar.

Aerni: Zurück zur Ihrer Lyrik. Wie darf man sich die Arbeit daran vorstellen? Wann wissen Sie, dass es vollendet ist, das Gedicht?

Werfel: Nie. Die Suche nach dem einzig richtigen Wort, der stimmigen Sprachmelodie, sind treue Begleiter von der ersten Fassung bis zum gedruckten Text. Das Ändern, Feilen, Reduzieren ist einfach nie fertig. Zweifel sind das Gerüst, an dem entlang geschrieben wird.

Aerni: Im Feuilleton wird gespart, Kulturbudgets werden gestrichen, der Buchhandel steckt in der Krise und Sie schicken schöne Poesie in die Welt hinaus. Wie groß ist Ihr Glaube an die Zukunft?

Werfel: Ich habe keine seherischen Fähigkeiten. Zum Glück! Selbst Kassandra hat sie verloren: «nur Chaos träumt sie – nur Chaos total» (schlägt Seite 73 auf, dreht das Buch um und schiebt es dem Interviewer zu).

Kassandra

Hilfloser Versuch
die Zukunft zu stammeln Künftiges gespiesen
aus Vergangenheit
und Gegenwart Kassandra
schläft
verschwommen
die Träume
verhangen
der Seherblick
nur Chaos träumt sie nur Chaos total

Hurra!

In Gedanken zum Krieg Hurra!
Männer wollen Krieg Hurra!

Potentaten zahlen Krieg Hurra!
Industrien brauchen Krieg Hurra!

Krieg in den Köpfen Krieg in den Hoden Krieg in den Kassen Hurra!

Klon

Da sitzt diese Person
im Café
hallo, denke ich
Bekannte soundso
und grüsse freundlich Erstaunen beim Gegenüber Pech gehabt

war nur ein Klon
selbe Szene anderer Tag hallo, denke ich
das ist der Klon
verzichte auf den Gruss Befremden beim Gegenüber Pech: es war das Original

(Gedichte veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

Ruth Werfel ist mit tschechisch-polnisch-jüdische Wurzeln; geboren, auf- gewachsen, Schulen und Studium in Zürich; freie Kulturjournalistin; Kuratorin der Ausstellung «Gehetzt». Südfrankreich 1940 – deutschsprachige Literaten im Exil; Herausgeberin der gleichnamigen Publikation im NZZ- Verlag; Lesungen, Lyrik, Bühnentexte. 2015 erschien ihr Lyrikband «Mit anderen Worten geht die Zeit» in der Edition Isele.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

LINIEN ziehen durch meine Gedanken, Linien auch beim Blick aus dem Fenster, Gitterlinien zwar, nicht einmal zwanghaft strukturierend oder einengend, eher ein Zurückgeworfensein auf sich selbst, damit die Gedanken nicht davonflattern.

ALS (Flug-)Linien gekappt wurden, ging ich eines Morgens hinunter zum Fluss und zog mit meinen Armen Linien durch die Luft, ließ die letzte Brokatübung ausklingen, als von weither Schlagermusik nahte. Eine Frau mit Sonnenbrille trotz bewölktem Himmel, gelber Nylonjacke, geblümtem Rock hängte eine Plastiktüte an den Baum, darin schepperte die Musik weiter. Sie bückte sich, zog ihre Jacke aus, schwang ihre Arme und klatschte in die Hände, nestelte an der Tüte herum, doch ich hoffte vergebens, dass sie die Musik abstellen würde. Mit hoch erhobenem Kopf zog ich – wie lächerlich! – davon.

UND meinte doch kurz zuvor, im glücklichen Nichts-mehr-Wollen angekommen zu sein.

Blick aus dem Fenster © Alice Grünfelder

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Dorthe Nors «Die Sonne hat Gesellschaft», Kein & Aber

Nicht immer hat man Zeit und Lust auf einen seitenstarken Roman. Nicht immer muss es eine verschlungene, sich windende Familiensaga sein, die irgendwo kurz vor dem Ersten Weltkrieg unter sich am Himmel aufbauender Wolken beginnt und sich hochschraubt bis in unsere Gegenwart plus einen Ausblick auf die Zukunft, bevölkert von einem hundertköpfigem Helden-Ensemble, mindestens. Manchmal soll es nur eine kleine Geschichte sein.

«Geschichten wie Blitzeinschläge»
Gastbeitrag von Frank Keil

Zwei Personen treten an und auf, nicht mehr. Na gut – drei. Vielleicht noch hält sich die eine oder andere Figur im Hintergrund, die sich vage einmischt, sozusagen mit Hörensagen. Aber nicht mehr!
Hineingeworfen werden möchte man in eine Szenerie, in der es gleich im ersten Satz um aber auch alles geht. Der den Takt angibt, der erste Satz, der die Richtung zeigt, in die es nun geht, bergab, bergauf, aber meistens bergab, mit Tempo, getragen von einer gewissen Gnadenlosigkeit. Und dann ist alles schon wieder vorbei und fängt doch im eigenen Kopf erst an. Wer das mag, wer das schätzt, wer da aufschreckt im positiven Sinne auf den letzten Satz starrt, ist bei der dänischen Erzählerin Dorthe Nors genau richtig.

Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“, aus dem Dänischen von Frank Zuber Kein&Aber, 2020; 142 Seiten, 26 CHF, ISBN: 978-3-0369-5823-1.

Ein vor sechs Jahren erschienener Erzählband trägt den Titel „Handkantenschlag“; ein darauffolgender Roman hört auf den Titel „Rechts blinken, links abbiegen“, da weiß man gleich Bescheid. Nun ist just ein nächster Erzählband erschienen: „Die Sonne hat Gesellschaft“. Auch nicht schlecht.
Also: Ein Mann hat es satt, dass er jede, aber auch jede Auseinandersetzung mit seiner Frau verliert, und er flieht in den Wald; fürchterlich gefroren hat er in der Nacht, Tiere brachen durchs Unterholz. Zwei junge Frauen sammeln in einem heruntergekommenen Wohnviertel Spenden für die Krebshilfe, sie haben eine Büchse, mit der man gut rasseln kann, wenn ein wenig Geld sich darinnen versammelt hat, aber dann fragen sie sich plötzlich: Was machen wir hier eigentlich, in einer Gegend, in die wir nicht hineingehören, dabei läuft es nicht schlecht, also mit dem Sammeln läuft es eigentlich ganz gut, nur die Liebe – puh: die Liebe! Ein Mann besucht eine Frau, die vielleicht seine neue Freundin ist oder die es werden wird, wenn es gut wird, mal schauen, eine Nacht haben sie miteinander verbracht, und nun nimmt sie ihn mit zu einem Familienfest, in einem Gasthaus in der Nähe, ein Mittagessen, aber da duldet man ihn gerade mal so. Noch ein anderer Mann steht am Sarkophag von Lord Nelson, dem Einarmigen, der zuletzt auch einäugig war, in der Mitte der Krypta steht der Sarkophag, Erinnerungen an seine abenteuersehnsüchtige Kindheit überschwemmen unseren Mann, an Modellbauschiffe, an ruppige Eishockeyspiele denkt er, seine Frau sitzt draußen auf den Stufen, mit Sonnencreme im Gesicht und schaut gelangweilt in ihr Handy, sie spielt ein Spiel, bei dem man bunte Ballons zerplatzen lassen kann.

14 hochkonzentrierte Geschichten sind so versammelt, 14 Geschichten wie Blitzeinschläge, 14 mal Grundmomente wie Verzweiflung, Einsamkeit, aber auch des Aufbegehrens werden uns auf jeweils wenigen Seiten erzählt, das kann Literatur, das kann sie wirklich, auch das denkt man und denkt an all die Leute, die da sagen: „Bücher? Ich lese keine Bücher mehr, vielleicht mal ein Fachbuch.“. Während man durchaus angestrengt überlegt, ob man jetzt gleich die nächste Geschichte hinterherlesen will, sofort, ohne Pause, oder ob man sie sich aufsparen will, auch weil man ein wenig Angst hat, dass der Zauber und mehr noch die Macht des eben Gelesenen in die Kniee gehen könnte, wenn jetzt gleich wieder der Anfangssatz der nächsten Geschichte zündet und diese die eben Gelesene überlagert.

Dabei hat Dorthe Nors mit Romanen angefangen. Hat zugleich immer in die USA geschielt, sich ausgedacht, dass sie das nicht könne, Kurzgeschichten schreiben, aber dann setzte sie sich in eine Schulklasse von jungen Leuten, die dabei waren noch den letzten Halt zu verlieren und denen man noch eine Chance geben will, eine letzte, eine allerletzte; saß da unter ihnen, schaute hin, hörte zu, schrieb darüber einen kurzen, knappen Text, las ihn den Schülern vor und die waren begeistert, sie fühlten sich gesehen, weil sie sie gesehen hatte.
Und Dorthe Nors schrieb weiter, schrieb weitere Kurzgeschichten, eine Gattung, die es in der klassischen dänischen Literatur eher nicht gibt, sie in einem Rutsch, in einem dieser typischen Ferienhäuser an der jütländischen Westküste, das einst dem dänischen Dichter Knut Sørensen gehört und das nun für Stipendienaufenthalte zur Verfügung steht; zwei Wochen nahm sie sich Zeit, schrieb und schrieb und schrieb, was auch gut war und half: Sie war in dieser Zeit verliebt, schwer verliebt, wie man so sagt, war sich sicher, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben.

„Handkantenschlag“ oder übersetzt: „Karate Chop“ wurde ein Erfolg in den USA, eine Erzählung aus dieser Sammlung druckte der The New Yorker ab, so wurde sie die erste Dänin, von der ein literarischer Text im The New Yorker abgedruckt ist.
Und so ist sie – sozusagen unterbrochen von weiteren Romanen, wobei „Rechts blinken, links abbiegen“ für den Man Booker International Prize nominiert war – beim Sujet der Kurzgeschichte geblieben, was man nur begrüßen kann, und in ihrem eben neuen Erzählband gibt es neben den Geschichten über den Lord-Nelson-Fan und dem Mann im nächtlichen Wald, auch eine Geschichte über eine Schriftstellerin: Eine Schriftstellerin zieht sich zum Schreiben in das ehemalige Sommerhaus eines norwegischen Schriftstellers zurück, mitten im Wald liegt es, aber sie findet keine Ruhe zum Schreiben, eine Liebe ist zerbrochen, unweigerlich, wie soll man da schreiben, aber dann fügen sich die Dinge neu zusammen, Pferde spielen eine Rolle, das Foto von einer nackten Frau an einer Wand, eine Mutter und ihr Sohn und sie kommt ins Schreiben und der erste Satz geht so: „Es ist lange her, aber einmal wohnte ich in einem kleinen Haus in Norwegen.“

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Åarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Bei Kein & Aber erschien 2016 ihr Roman «Rechts blinken, links abbiegen», der für den Man Booker International Prize nominiert wurde. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

Frank Keil, Journalist, lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland. Studium der Diplom-Pädagogik. Seit 1995 unterwegs als freier Journalist, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales. Aktuell regelmässige Beiträge für die Taz Nord, Hinz&Kunzt, Nordis, Mare, Jüdische Allgemeine, die Evangelische Wochenzeitung und andere Medien. 1990 Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg, 2009 Essaypreis der Akademie für Publizistik.

Webseite Frank Keil

Beitragsbild © Petra Kleis

Urs Mannhaft «Der Leserbrief», Plattform Gegenzauber

Sicher hat vieles damit zu tun, dass ich nun schon eine Weile arbeitslos bin. Dass niemand einen Ingenieur brauchen kann, schon gar nicht einen, der spezialisiert ist auf Anlagen für Wärmerückgewinnung im Niedrig-Temperatur-Bereich. So dass ich ein bisschen viel Zeit habe, um Zeitung zu lesen, aus dem Fenster zu schauen und kleine Runden zu drehen auf meinem schönen alten Rennrad.
Während einer Ausfahrt in die Hügel zwischen Bern und Burgdorf fahre ich, in einem Wald hinter Bäriswil, eine Weile entlang von Tüten, Servietten, Bechern und anderem Unrat, der da, hingeschmissen von einem McDonald’s-Kunden, den Weg säumt. Als mir zwei, drei Kilometer später eine ähnliche Szene begegnet, werde ich hineingezogen in eine sonst Pubertierenden vorbehaltene Stimmung, in welcher man alle wachrütteln, zur Besinnung rufen und die Welt retten möchte.
Egal, mit welch grossen Gängen ich die folgenden Steigungen, insbesondere den ruppigen Aufstieg nach Dieterswald auch bewältige, mein Ärger über die Ignoranz gewisser Menschen und der Wunsch, mich für mehr Ökologie einzusetzen, bleiben an mir haften.
So stelle ich mich nach dieser Radtour nicht wie gewöhnlich unter die Dusche, sondern hocke mich an den Laptop und schreibe einen Leserbrief. Ich beginne mit dem Elektro-Velo, das mich in der letzten Steigung überholt hat und erwähne, dass auch ich, wäre mein Velo derart schwer, eine Batterie nötig hätte. Und dass es unverantwortlich sei, statt Körperfett zu verbrennen, mit einem unsäglichen Aufwand in China und Afrika seltene Metalle aus dem Boden zu holen, sie nochmals mit einem unsäglichen Aufwand in eine Batterie zu drücken und dann so zu tun, als wäre das Umweltschutz.
Nach ein paar Zeilen, in welchen ich hervorhebe, wie idiotisch es ist, vom Zahnbürstchen über den Rasenmäher bis zum Auto alles mit einer Batterie auszurüsten, komme ich auf den Klimawandel zu sprechen und auf die Verträge von Paris. Kaum habe ich beim Thema Massentierhaltung und Abholzung der Regenwälder argumentativ ein bisschen an Fahrt gewonnen, klingelt das Telefon; von meiner Mutter aber lasse ich mich gerne unterbrechen. Sie ist 71, hat eine schwierige Knieoperation hinter sich, wäre fast begraben worden unter einer Lawine von Medikamenten; erleichtert vernehme ich, dass es ihr deutlich besser geht. So gut geht es ihr, dass sie nun zusammen mit Vater die Sommerferien gebucht hat. Jetzt freue sie sich riesig auf Ägypten.
Ehe ich reflektiere, höre ich mich fragen, ob sie noch nie etwas von Ökologie gehört habe und ob so ein Flug wirklich nötig sei.
Meine Mutter kennt meine etwas direkte Art; dennoch scheint sie frappiert. Ihre zögerliche Erklärung, man könne ja doch nichts gegen den Klimawandel machen, erzürnt mich so sehr, dass ich auflegen muss.
Mit umso grösserem Furor führe ich meinen Leserbrief fort. Schon möglich, dass Wut in der Regel kein guter Antrieb ist, um etwas zu Papier zu bringen. Aber für mich ist dieser Zustand genau der richtige; es fühlt sich gut an, loswerden zu können, wie ignorant meine Eltern sind. Dann resümiere ich, dass viele Pensionierte zum Glück alt genug seien, um ungestraft glauben zu dürfen, der Klimawandel sei wie einst das Waldsterben nichts weiter als eine medial inszenierte Aufregung. Anderseits seien die Pubertierenden jung genug, um glauben zu dürfen, es ließe sich mit Protesten etwas bewegen, sei es auch nur das Gefühl, einer Protestbewegung anzugehören. Folglich sei es an den Mittelalterlichen, an den Praktizierenden, wie ich sie nenne, die Welt als Lebensraum zu retten: Wir dürfen nicht dumm genug sein zu glauben, wie bisher leben zu können. Wir müssen unser Leben in der Schweiz wandeln hin zu einem Stil, der einem rumänischen Provinzdorf bei Stromausfall ähnelt.
Diese Formulierung gefällt mir. Gerade weil das Wort Rumänien bei den meisten Schweizern negative Gefühle auslöst, will ich es drinhaben. Die Leute sollen endlich begreifen, dass die Zukunft unbequem wird, dass es mit der Faulheit, mit dem Fleischessen ein Ende haben wird, dass fertig ist mit warm duschen.
«Die Schweiz ist gut aufgestellt, um das Übereinkommen von Paris umzusetzen», lese ich dann auf der Website des Bundesamtes für Umwelt. Und erleide beinahe einen hysterischen Lachanfall. Die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen natürlich, dass wir überhaupt nicht gut aufgestellt sind. Dass der Mensch nicht gut aufgestellt ist, bescheidener zu leben. Der schweizerische Mensch sowieso nicht. Denn welcher Schweizer, welche Schweizerin möchte weniger Kaffee? Weniger Wohnfläche? Weniger Apfelkuchen? Weniger Liebe? Wer möchte in alten Kleidern rumlaufen? Keine Butter aufs Brot? Ein lahmes Auto fahren? Zu Fuss in die Ferien? Nicht in den Mangoschnitz beissen?
Ja, die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen das alles, sie dürfen es aber nicht hinschreiben. Also schreibe ich es in meinen Leserbrief hinein.
Und versuche schließlich, diesen abzurunden mit einer klaren, auf ihre Art vielleicht auch radikalen Forderung: Nicht Fridays for Future sei das Programm der Stunde, sondern Mondays for now. Mit den Protesten der Jugendlichen sei nichts falsch, im Gegenteil. Aber die Erwachsenen müssten eben antworten. Und ich schlage vor, sie sollen das tun mit einem arbeits-, auto- und flugzeugfreien Montag. In den 70er-Jahren hat doch der Bund aufgrund der damaligen Erdölkrise unserer Schweiz einige autofreie Sonntage anbefohlen. Abgesehen von ein paar Besitzern abgelegener Ausflugsrestaurants war das damals für alle eine grossartige und höchst erholsame Sache. Also empfehle ich dem Parlament, das Verbrennen treibhausgasemittierender Stoffe und das Benutzen der ökologisch ebenso bedenklichen Elektrofahrzeuge an Montagen generell zu verbieten. Rasch rechne ich vor, dass dies — mit all den leeren Autobahnen, mit Flughäfen, die für Spaziergänger und Rollschuhfahrer geöffnet sind — die CO2-Emission der Schweiz sofort runterbringt auf einen Wert, von dem aus sich die in Paris vereinbarten Klimaziele mit einigen zusätzlichen Massnahmen erreichen lassen.
Ich setze einen Punkt, notiere meinen Namen, meinen Wohnort, speichere zufrieden meine Zeilen und schicke sie, weil mir scheint, es sei trotz allem die einzige halbwegs anständige Zeitung, an die NZZ.
Drei Tage später, ich denke schon nicht mehr an diese Sache, erreicht mich eine Mail von einem mir unbekannten Mann aus Oberburg bei Burgdorf, der erklärt, er habe seinen Müll im Wald hinter Bäriswil eingesammelt; er entschuldigt sich und wünscht mir weiterhin gute Fahrten mit dem Rennrad.
Da sehe ich, dass die NZZ meine Zeilen tatsächlich abgedruckt hat. Nicht hinten, nicht versteckt bei den Leserbriefen. Sondern ungekürzt und ziemlich prominent im Wirtschaftsteil als Gastkommentar; hinter meinem Namen steht das Wort Ingenieur. In einer Mail aus dem NZZ-Sekretariat werde ich nach meinen Kontoangaben und meiner Pensionskasse gefragt. In einer anderen Mail der NZZ ist entschuldigend von einem Missverständnis die Rede; ein Redakteur drückt gewunden seine Hoffnung aus, es sei mir die Sache nicht zu unangenehm. Im Ressort Wirtschaft habe man verzweifelt auf einen längst vorbesprochenen Gastkommentar gewartet, und ein offenbar übermüdeter Blattmacher habe schliesslich geglaubt, ich sei jener Ingenieur, dessen Text man herbeigesehnt hatte. Aber ja, vielleicht sei es auch gar nicht so schlimm, meine Ausführungen seien jedenfalls erfrischend und überraschend bunt.
Ich will mich gerade fragen, ob die Worte erfrischend und überraschend bunt unter Journalisten vielleicht gemeinhin nicht als Kompliment gelten, als meine Mutter anruft und ganz aufgeregt erzählt, es seien verschiedene Mails bei ihr eingegangen, alle mit wüsten Beschimpfungen, eine sogar mit einer Drohung: Wenn sie die Flugreise nach Ägypten nicht annulliere, werde man ihr co2-neutral das Haus abfackeln.
So gut es geht, versuche ich, meine Mutter zu beruhigen. Die Vorstellung, dass das Haus, das ich in wenigen Jahren erben werde, ein Raub der Flammen werden könnte, alarmiert mich. Also empfehle ich meiner Mutter, auf Facebook zu posten, dass sie die Reise nach Ägypten abgesagt habe. Dann muss ich auflegen, denn jetzt prasseln die Nachrichten nur so auf mein Telefon nieder. Ich kann mich nicht erinnern, je derart viel Lob, Zuspruch und Ermutigungen erhalten zu haben. Endlich jemand, der nicht davor zurückschrecke, vollkommen moralisch an die Sache heranzugehen, lese ich.
Mir war nicht bewusst, dass meine Zeilen moralisch sind, ich habe bloss getippt, was mir durch den Kopf ging.
Eine unbekannte Frau erzählt mir in einer Mail, wie sie aufgrund meiner Ausführungen zur Massentierhaltung entschieden habe, nur noch Fleisch zu essen von Tieren, die sie kennen gelernt hat. Also habe sie einen Bauernhof am Stadtrand aufgesucht und nach einem Tier gefragt, das demnächst geschlachtet werden soll. Der Landwirt habe sie im Stall zu einem rabenschwarzen jungen Stier geführt, der auf den Namen Sultan höre. Kaum sei sie vor dem kräftigen Tier gestanden, sei es zu einem Blickkontakt gekommen, dessen Intensität zu beschreiben ihr schwer falle. Jedenfalls könne sie sich nicht erinnern, je zuvor in einem Auge derart deutlich gefühlt, nein: gesehen zu haben, was gemeinhin als Seele bezeichnet werde. Ergriffen habe sie sich gefragt, wie sie all die Jahre überhaupt habe leben können, ohne regelmässig einem derartigen Tier in die Augen zu blicken.
Kurz danach habe sie am Hals des schönen jungen Stiers eine Beule entdeckt. Danach gefragt, habe der Landwirt gelacht und erklärt, das sei vielleicht ein bisschen gross, allerdings nichts anderes als ein Pickel. Der junge Kerl befinde sich halt in der Pubertät.
Das habe sie nur zusätzlich berührt. Und sie habe den Stall nicht verlassen können, ohne das Versprechen des Landwirts mitzunehmen, diesen jungen, bildhübschen Stier am Leben zu lassen. Bald schon werde also sie sich um das Tier kümmern — und vielleicht könnte ich ihr behilflich sein auf der Suche nach einem guten Platz für Sultan.
Noch während ich überlege, wie viel Gras wohl ein junger Stier frisst und wie gross seine Weide sein muss, erreicht mich eine Mail aus dem Bundeshaus. Zwar stehe noch eine ausserordentliche Sitzung an mit den Dachverbänden von Wirtschaft und Zivilluftfahrt, aber eigentlich sei klar, dass Mondays for now die einzige Chance sei, um die hochgesteckten, in Paris beschlossenen Klimaziele zu erreichen. Man möchte gerne wissen, ob ich kommende Woche für ein Podiumsgespräch sowie assistierend, mit meiner Erfahrung als Ingenieur, bei der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlagen zur Verfügung stehen könne — natürlich gegen Honorar.
Die Anfragen nehmen gar kein Ende; bald schon werde ich als Star der Schweizer Klimaszene bezeichnet. Journalisten melden sich, begeisterte Bürger, ein jungen Mann, der sich dabei gefilmt hat, wie er seinen Führerschein in einen Schredder wirft, eine fremde Frau, die mir tausend Herzen aufs Papier gemalt hat, ein nervöses Fernsehteam, ein feister Wirtschaftsboss aus Deutschland.
Und drei Tage später, kurz nachdem ich den Flug nach Brüssel gebucht habe, kaufe ich mir einen schicken Anzug, schicke Lederschuhe einen dieser schlanken Laptops und ein neues Telefon, damit ich an der Konferenz, zu der ich eingeladen bin, auch seriös und glaubhaft auftreten kann.
Seltsam, aber heute kann ich kaum mehr verstehen, wie ich es geschafft habe, diese unendlich langweiligen, des fehlenden Einkommens wegen auch brutal bescheidenen Monate der Arbeitslosigkeit durchzustehen, ohne psychisch krank zu werden. Ja, es tut mir gut, ich fühle mich wertvoll, mich in einer ganz neuen Position für den Kampf gegen den Klimawandel einsetzen zu können.

Urs Mannhart hat als Velokurier, Nachtwächter, Journalist und in der Landwirtschaft gearbeitet. 2004 erschien sein Erstling «Luchs», 2006 dann «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Als Reporter berichtet Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weissrussland und der Ukraine. «Bergsteigen im Flachland» ist sein dritter Roman, für den er 2016 mit dem Conrad Ferdinand Meyer-Preis ausgezeichnet wurde.

Alice Grünfelder «Der Unwetterer – Biji* über den Maler Adolf Stäbli»

Wolken, Unwetter, dunkle Welten – Drohungen oder Visionen? Die Wege sind verschattet. Umrisse scharf in dieser Millisekunde, bevor das Gewitter sich entlädt. An den Bildern des Unwettermalers Adolf Stäbli riss sich jedenfalls mein Auge auf, als ich sie das erste Mal sah.

Ihretwegen fahre ich Monate später wieder zurück, dieses Mal ist Brugg durch das Stadtfest wie verwandelt, ich finde mich nicht mehr zurecht vor lauter Schildern, die hinführen zur Kletterwand, Swingroom, zu Barbecue, thailändischen Nudeln und tibetischen Momos … Zwar sehe ich schon die Gemäuer der Altstadt, finde jedoch keinen Zugang. Eine Frau nimmt mich mit, wir gehen hinter einem Kinderkarussell unter einem steinernen Bogen hindurch. Die Gassen winden und krümmen sich, dass ich bald die Orientierung verliere, und nein, ins Legionärsmuseum Vindonissa möchte ich nicht, sondern eben ins Stadtmuseum, das aber kennt sie nicht. Ob Brugg überhaupt ein solches hätte? Sie wohne auf der anderen Seite der Aare, woher ich denn käme? Ein paar Schilder und Häuserecken weiter stehen wir vor dem Museum.
Wegen Adolf Stäbli sei ich hier, sage ich.
Sie wohne am Stäbli-Platz, welch ein Zufall, aber nein, das Museum, der Maler interessieren sie nicht, antwortet sie, als ich sie frage, ob sie nicht mit hineinkommen möchte.

Still ist es im Stäbli-Saal. An blauen Wänden hängen 33 Bilder. Wie zufällig trete ich vor die drei Porträts: der junge Adolf Stäbli mit rötlichem Haar, das Gesicht frei; später im Alter sind die Wangen gefleckt, der Bart schimmert rötlich. Der Blick des Mannes auf dem dritten Gemälde aus dem Jahr 1893 ist einer, der vom Leben nicht mehr allzu viel erwartet, die Augen haben schon zu viel gesehen.
Und mit diesen Augen im Kopf gehe ich an den Bildern entlang und versuche zu sehen, was Adolf Stäbli gesehen hat, versuche zu verstehen, warum das Unwetter ihn anzog, die düsteren, flachen Landschaften, über denen sich Wolken aufbäumen und am Bildrand entladen, die Welt auf jedem Bild unterzugehen droht.

Neben den Porträts hängt ein „Kruzifix am Weg“. Efeu rankt daran empor, der helle Himmel darüber, so scheint mir, wurde mit einem Spachtel glattgestrichen, nur oben am rechten Bildrand düstert es noch dunkler. Dagegen können auch die weißen Punkte – sind es Margeriten? – und die blauen – Enziane? – nicht ankommen, sie verschwinden fast in dem dunklen Gras.
Weite Steppe und davor eine Birke, die seit Jahren vergebens dem Wind trotzt, nun gebeugt von diesem Kampf; der Blick geht hinaus in ein weites Land, folgt dem Weg durch die Felder, die sich bis zu einem See erstrecken – oder ist’s ein Meer? Und dahinter, darüber wieder diese Wolken, die sich stauen, jagen oder als wachten sie darüber, dass unter ihnen alles so weit und flach bleiben möge, wo sie selbst oben schon den nächsten Windstoß erwarten. Kein Mensch, nirgends, auch kein Tier, nicht einmal Vögel, die doch sonst den Himmel bevölkern und zirpen und kreiseln, wenn ein Unwetter aufzieht. Das Bild „Weites Land“ erzählt nicht viel von dem, was fehlt.
Auf einem der nächsten Bilder grellt der Schnee in den Bergflanken, so dunkel ist der Grat, der Wald, und unten fettes, grünes Land, Wald und Blumen und Gräser, vom Wind aufgefächelt. So als bräuchte auch das Unwetter in Stäblis Welt einmal eine Pause, vielleicht hat er sie in der „Gebirgslandschaft bei Patenkirchen“ gefunden?

Immer wieder öffnet sich Tür, quietscht in ihren Angeln, ein Kommen und Gehen von Stadtfestgängern, niemand verweilt länger als fünf Minuten, es quirrt der ganze Raum, wenn oben die Menschen zwischen den Vitrinen umhergehen, fast unheimlich ist dann der Blick in den Saal, der nun leer ist, wo unter der Woche und an Samstagen gern geheiratet wird. Leise und beständig surrt nur die Klimaanlage. Ich schaue hinaus zu den Geranien, wie sie prall vor den Fenstern hängen, zu den Fensterläden, die schräg gestellt sind, um die Hitze auszusperren, und ich stehe wieder vor den Bildern und suche nach etwas, das ich nicht finde.
Eine Zeichnung sieht aus wie der flüchtige Versuch, den Wald, die Büsche, das Gewaltvolle zu fassen. Mich erinnert sie an die Baumtempel des Angkor Wat, wo Tempelruinen, Wurzeln, Steinblöcke in einer Weise ineinander übergehen, dass einem das Auge überfließt und der Verstand erst recht. Man bewegt sich dort wie in einem Fluidum, und wären der Saal und das Stöhnen des ganzen Hauses unter den Schritten der Menschen nicht, könnte es hier in der Welt des Adolf Stäbli ähnlich sein.
In der „Flachlandschaft“ steht eine Rinderherde am Himmel, wirft sich übereinander, drängt sich wie auf einem Schlachtfeld.

Vorwärtsdrängende
Rinderherde am Himmel
den Süden im Aug

Und immer wieder weites flaches Land, über das der Wind hinwegfegt und das Gebüsch, auch Häuser sich ducken, Felsen gar. Ich habe das Lied von Jacques Brel im Ohr: „Le plat pays“, suche dort nach den Worten, die mir hier fehlen. Auch bei ihm kämpft das flache Land gegen Wasser und Wind, der Mensch schüttet Dämme auf und kann doch nichts ausrichten. Und die Weite wird zur Wüste, wo der Teufel seine Krallen nach den Wolken streckt, während er sich im geborstenen Gemäuer versteckt.

„Überschwemmung“ heißt ein Gemälde, Baumstämme umwirbelt vom panzergrünen Strom, die Welt kämpft hier gegen den Untergang, ragt entkräftet empor, Weiden, Grasinseln, wie lange noch? Regenfäden am Horizont, die Welt regnet sich ein, hell ist’s über der Baumgruppe, vielleicht doch ein Streifen Zuversicht inmitten der Trostlosigkeit?
Sandkuhlen, Heidekraut und Felsen in der „Regenlandschaft im Harz“. Würde die Sonne scheinen, ein angenehmer Ort, der einen weiten Blick erlaubt, so aber unter wüstgrauen Wolken? Die Platane beugt sich im Wind, der von Osten weht – wenn der rechte Bildrand denn Osten ist? Wie verhält es sich überhaupt mit Windrichtungen auf Gemälden? Wo zieht das Gewitter auf? Woher kommen die Wolken, wohin ziehen sie?
Viel Unruhe ist in den Gemälden, aber sie sind auch still, totenstill, trotz der Lichtstreifen, auch sie fast auf jedem Bild, hängt der Himmel durch, die Natur ist verloren, der Mensch ohnehin?
Ich denke an chinesische Landschaftsmalereien, wo alles in sich zu ruhen scheint, jedes Element an seinem Platz und somit Harmonie gewährt ist. Das Wetter bei Stäbli hat nichts Erhabenes, er verschmäht alles Liebliche, Ordnungen werden bedroht durch Wolkenexzesse, ein Aufruhr, ein innerer oder auch ein Weltenaufruhr, ein Wüten gegen die Welt – als wollte er sich durch das Malen von der Weltendüsternis befreien. Gleichzeitig spricht eine unsägliche Traurigkeit aus den Bildern, Trauer über eine untergehende Welt? Ist Stäbli also nicht nur ein Wettermaler, sondern auch Prophet, spürt er, welche Unwetter über Europa aufziehen? Und zerbricht darüber.
Der Mensch hat in solchen Welten jedenfalls nichts zu gewinnen. Ein Wettersturz enthebt den Menschen all seiner Funktion und seiner Überlegenheit. Es ist die durchkomponierte und variierte Aussichtlosigkeit, die mich Schritt um Schritt überwältigt, herumwirbelt in diesem aufkochenden Gewölk. Vielleicht ist es doch an der Zeit, wie Kant einst im „Streit der Fakultäten“ schrieb, dass die Menschen von der Bühne treten müssen? Was, wenn die Natur von der Menschheit verlange, ihren exklusiven Platz aufzugeben und an andere Lebewesen abzutreten?

Biji = Pinselnotiz, chinesische literarische Gattung, essayistische Miniaturen, verdichten Erlebnisse, Beobachtungen, Reflexionen assoziativ.

Alice Grünfelder «Die Wüstengängerin», Edition 8: Die Sinologiestudentin Roxana reist Anfang der 1990er Jahre die Seidenstrasse entlang, um noch unbekannte buddhistische Höhlenmalereien in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas zu erforschen. Sie will zeigen, dass die Region nicht immer islamisch war, sondern buddhistische Wurzeln hat. Roxanas jahrelange Recherchen führen nicht zum erhofften Erfolg, doch mit leeren Händen will sie nicht nach Europa zurück, zumal es nichts gibt, wofür es sich lohnen würde heimzukehren. Ihr Aufbruch in die Fremde verliert sich im Sand der Wüste Taklamakan, der ›Wüste ohne Rückkehr‹.

20 Jahre später reist die schwerkranke Linda für ihr letztes Entwicklungsprojekt nach Xinjiang. Doch die Behörden verweigern die zugesicherte Zusammenarbeit. Im Gästehaus zur Untätigkeit verdammt, stösst Linda auf die Aufzeichnungen, welche die verschollene Roxana zurückgelassen hat, und sie folgt deren Spuren.

Vor dem Hintergrund des Widerstands der UigurInnen gegen die chinesische Regierung in Xinjiang, der spätestens seit 2009 auch im deutschsprachigen Raum Schlagzeilen macht, verstrickt sich das Schicksal der zwei eigenwilligen Frauen. Erstmals wird aus europäischer Perspektive von der Geschichte und Gegenwart einer wenig beachteten Region erzählt. Feinfühlig und kenntnisreich zeichnet die Autorin ein Panorama der Schicksale von Menschen, die in China an den Rand gedrängt werden.

Ziviler Ungehorsam für den Frieden.
Ein Essay von Alice Grünfelder.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Mutlangen, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China). Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute u.a. die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, führte eine eigene Agentur für Literaturen aus Asien, übersetzte aus dem Chinesischen und gab mehrere Erzählbände heraus. 2018 ist ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» erschienen, der in Xinjiang spielt. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019. Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

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