Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn», Verbrecher Verlag

Grotesk sezierend könnte man die poetische Herangehensweise der Berliner Schriftstellerin Alexandra Riedel nennen. In ihrem Roman über Eltern-Kind-Beziehungen arbeitet sie sich an großen Themen wie Liebe und Grausamkeit ab. Zuletzt gewann die Autorin mit einem Auszug ihres Romans den Bayern 2-Wortspiele-Preis.

von Karsten Redmann

Vom Ende her gedacht, vom Ende her geschrieben

Mit etwas mehr als hundert Seiten ist «Sonne, Mond, Zinn» ein recht schmaler Roman, der in seiner Kunstfertigkeit Grosses versucht, an vielen Stellen auch Grosses schafft, sich hin und wieder aber auch leicht verhebt.

Die in Berlin lebende Autorin Alexandra Riedel scheint sich bei ihrem Debüt im Verbrecher Verlag einiges vorgenommen zu haben, schreibt rhythmisch, fliessend, aber auch karg und hart. Ihre Sprache ist, von kleinen Ausnahmen abgesehen, sehr reduziert, direkt, ja lakonisch – und das im besten Sinne des Wortes:

«Herr Anton Hamann, dein Vater, mein Großvater: gestorben. Und woran? Ich hatte nicht gefragt.»

Die 40-jährige Riedel, Absolventin des Masterstudiums am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig (DLL), engt ihren Ich-Erzähler, dessen Worte der eigenen Mutter gelten – insofern ist der Roman ein Briefroman – in keiner Weise ein, so dass sich sein Berichten zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten bewegt. Das an die Mutter gerichtete Schreiben ist insofern ein Erzählen in Möglichkeiten, weil der Berichtende über das, was er weiss oder zu kennen glaubt, immer wieder hinausgeht, und damit fiktive Begebenheiten, im eigenen Kopf Phantasiertes, oft auch Surreales, an tatsächlich Geschehenes koppelt. Der Ich-Erzähler schafft sich somit innere und äussere Freiräume, die er gerne und oft nutzt. Diese Art des Erzählens hat etwas Weitendes, Ausgreifendes, die Sehnsüchte des Erzählers Ausweisendes. Und in diesem narrativen Spannungsverhältnis steckt eine der Stärken des Romans.

Hier ein Beispiel:

«Vierzig Minuten schwebt eine Mondsonde über euch. Um vier Uhr morgens verschickt sie schliesslich ihre Aufnahmen per Funk. Auf siebzehn von neunundzwanzig Bildern seid ihr zu sehen. Vater und Tochter auf der Rückseite des Mondes. Kurze Zeit später taucht ihr auf allen Titelseiten der Welt auf.»

In insgesamt dreizehn Kapiteln wird die Geschichte von Esther Zinn durch ihren Sohn erzählt, nicht aus einem Guss, sondern bruchstückhaft. Dabei wirkt dieses Erzählen hin und wieder wie ein Bedienen aus dem Baukasten. Mit sehr unterschiedlichen Versatzstücken.

Zusammengehalten wird der immer wieder ins Groteske gehende Roman durch eine Rahmenhandlung: Gustav Zinn, Fluglotse auf einer Insel, reist zum Begräbnis seines ihm bis dato unbekannten Grossvaters, und berichtet im weiteren Verlauf über die unangenehme Situation, sich fremd unter den eigenen Verwandten zu fühlen, schliesslich lebte der Grossvater bis zu seinem Tod getrennt von Gustavs Mutter, Esther Zinn, und damit auch getrennt von ihm.

Was den literarischen Gestaltungswillen dieses Romandebüts angeht, machen vor allem die ersten Seiten, sowie die Kapitel ab etwa der Mitte des Buches, Eindruck. Inhaltlich und von der Form her wirken sie sehr durchdacht, konzentriert und genau gearbeitet. Man könnte sie auch als schlackenlos bezeichnen. In diesen recht gelungenen Kapiteln findet sich beispielgebend folgender Textausschnitt:

«Dinge passieren. Menschen auch, sagtest du immer, wenn du von deinem Vater sprachst.»

Auf längere Sicht etwas gekünstelt und gestelzt wirken die Passagen die im Konjunktiv verfasst sind. Auch wenn es naheliegt, diese Erzählform zu wählen, nutzt sich ihre Frische und Kunstfertigkeit mit der Zeit leider ab:

«Ich erinnere mich, wie du mir davon erzähltest. Ganz jung hattest du mit einem Mal wieder ausgesehen. Du lächeltest, strahltest wie ein Kind, schliefst irgendwann ganz ruhig ein.»

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn» Verbrecher Verlag, 2020, 112 Seiten. Verbrecher Verlag, CHF 28.90, ISNB 978-3-95732-423-8

Eine grosse Stärke der Autorin, die in Süddeutschland geboren und in Norddeutschland aufgewachsen ist, sind die Dialoge zwischen den Figuren. Diese sind perfekt gearbeitet, glaubwürdig und in ihrer Machart geradezu aussergewöhnlich. Insbesondere, wenn – wie beiläufig – Stimmen von Vorbeigehenden festgehalten werden. Ein derart eindrucksvolles Einfangen von Sprache klingt so:

«Wirklich schönes Wetter. Wirklich gute Idee. Nochmal die Beine vertreten. Nochmal tief durchatmen. Man fange an zu schwitzen, so ganz in Schwarz. Der heisseste Tag des Jahres. In der Kirche bestimmt angenehm kühl. Bachs Toccata werde gespielt. Da vorne sei es schon. Was? Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche. Wessen Stücke? Bachs. Wie spät? Gleich elf. Unter all den vielen Menschen finde man sie doch niemals. Doch, doch. Da, da.»

Auf den letzten Seiten kippt Riedels Text leicht ins Surreale, Traumhafte, nimmt erneut an Fahrt auf, verändert die Grundspannung. Das ist durchaus herausfordernd. Alles in allem kann man der Autorin damit gegen Ende des Buches nun wirklich nicht vorwerfen, ängstlich vorzugehen, denn sie treibt den Text – auch was das Symbolische angeht – auf den letzten Metern voran, geht ein Risiko ein, irritiert an manchen Stellen, behält die Fäden aber allzeit in der Hand. Das Poetische ihrer Sprache leuchtet auch hier immer mal wieder auf – wobei die hier genannte Textstelle das Kristalline in Riedels Sprache besonders deutlich macht:

«Das Meer an windstillen Tagen so glatt wie ein Betttuch. Der Horizont ein gerader Strich. Ob du schon mal hinter dem Strich da gewesen seist?, fragte ich dich damals.»

Dem Berliner Verbrecher Verlag ist es zu verdanken, dass mit «Sonne, Mond, Zinn» ein höchst eigensinniger Roman das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. In seiner Machart sticht der Titel unter den vielen Büchern des Frühjahrs besonders ins Auge. Und das nicht nur aufgrund seiner Kürze. Gerade wegen des künstlerischen Anspruchs, den die Schriftstellerin Alexandra Riedel formuliert, ist dem Text eine grosse Leserschaft zu wünschen.

© Nane Dieh

Alexandra Riedel, geboren 1980 in Süddeutschland und aufgewachsen in Norddeutschland, studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin. Danach folgte ein Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 war sie unter den FinalistInnen beim 22. Open Mike. Veröffentlichungen in: «Object is Meditation and Poetry», Grassi Museum für Angewandte Kunst (2017) und «Tippgemeinschaft» (2016, 2015). Alexandra Riedel lebt in Berlin. Für ihren Debütroman «Sonne Mond Zinn» wurde Riedel mit dem Bayern2-Wortspiele-Preis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Nane Dieh

Ruth Werfel «Ausgeträumt», Bucher, Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

Die Kulturjournalistin und Lyrikerin, Ruth Werfel, legt ein Lyrikband vor, der eine breite Palette an Gefühlen auslöst oder bedient. Das Buch liegt angenehm und bibliophil schmuck gemacht in den Händen, das Lesen öffnet Tiefen. Dazu stellte der Journalist Urs Heinz Aerni der Autorin in paar Fragen.

«Die Zweifel sind das Gerüst.»

Urs Heinz Aerni: Der Titel Ihres Lyrikbandes heißt schlicht und einfach «Ausgeträumt». Zuerst las ich «Ausgeräumt». Was meinen Sie dazu?

Ruth Werfel: Hm… Ein freudscher Verleser? Oder doch eine engere Verwandtschaft? Cousins, vielleicht?

Aerni: Ihre Gedichte hinterlassen beim Lesenden allerhand Gefühle. Von witzig-fröhlichen wie zum Beispiel beim Gedicht «Spuk-Puck» über wütende auf die Welt wie auf den Seiten 74 und 75, bis hin auch zu zweifelnden und melancholischen wie beim Gedicht «Ohne Lösung». Ist das auch Ihr Weg beim Schreiben; vom Reflex der Emotion zum Griff in die Tastatur?

Werfel: Das ist ganz verschieden. Ein Gedicht meldet sich, wie Klingeln an der Haustür – siehe Seite 12 – es beruht auf Gedanken, einem Erlebnis, oder auf einer Fotografie in der Zeitung. Es gibt ganz verschiedene Auslöser, die zu einem kleinen Text führen.

Ruth Werfel «Ausgeträumt», Gedichte, Bucher Verlag, 2020, 100 Seiten, CHF 20.90, ISBN 978-3-99018-529-2

Aerni: Ihre Arbeit bewegte sich eine Lebenslänge zwischen Kulturjournalismus, Literatur und Poesie. Wie sehr kann ein Leben für die Kultur auch bewirken, dass die Kultur das Leben bereichert?

Werfel: Kultur – wie weit man diesen Begriff auch auslegt – ist eine einzige Bereicherung. Ein Leben ohne Kultur: Unvorstellbar.

Aerni: Zurück zur Ihrer Lyrik. Wie darf man sich die Arbeit daran vorstellen? Wann wissen Sie, dass es vollendet ist, das Gedicht?

Werfel: Nie. Die Suche nach dem einzig richtigen Wort, der stimmigen Sprachmelodie, sind treue Begleiter von der ersten Fassung bis zum gedruckten Text. Das Ändern, Feilen, Reduzieren ist einfach nie fertig. Zweifel sind das Gerüst, an dem entlang geschrieben wird.

Aerni: Im Feuilleton wird gespart, Kulturbudgets werden gestrichen, der Buchhandel steckt in der Krise und Sie schicken schöne Poesie in die Welt hinaus. Wie groß ist Ihr Glaube an die Zukunft?

Werfel: Ich habe keine seherischen Fähigkeiten. Zum Glück! Selbst Kassandra hat sie verloren: «nur Chaos träumt sie – nur Chaos total» (schlägt Seite 73 auf, dreht das Buch um und schiebt es dem Interviewer zu).

Kassandra

Hilfloser Versuch
die Zukunft zu stammeln Künftiges gespiesen
aus Vergangenheit
und Gegenwart Kassandra
schläft
verschwommen
die Träume
verhangen
der Seherblick
nur Chaos träumt sie nur Chaos total

Hurra!

In Gedanken zum Krieg Hurra!
Männer wollen Krieg Hurra!

Potentaten zahlen Krieg Hurra!
Industrien brauchen Krieg Hurra!

Krieg in den Köpfen Krieg in den Hoden Krieg in den Kassen Hurra!

Klon

Da sitzt diese Person
im Café
hallo, denke ich
Bekannte soundso
und grüsse freundlich Erstaunen beim Gegenüber Pech gehabt

war nur ein Klon
selbe Szene anderer Tag hallo, denke ich
das ist der Klon
verzichte auf den Gruss Befremden beim Gegenüber Pech: es war das Original

(Gedichte veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

Ruth Werfel ist mit tschechisch-polnisch-jüdische Wurzeln; geboren, auf- gewachsen, Schulen und Studium in Zürich; freie Kulturjournalistin; Kuratorin der Ausstellung «Gehetzt». Südfrankreich 1940 – deutschsprachige Literaten im Exil; Herausgeberin der gleichnamigen Publikation im NZZ- Verlag; Lesungen, Lyrik, Bühnentexte. 2015 erschien ihr Lyrikband «Mit anderen Worten geht die Zeit» in der Edition Isele.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine. Aber weil die Taiwanesische Post wegen der Pandemie keine Post nach Europa ausliefert, geschieht das für einmal ohne Stempel.

LINIEN ziehen durch meine Gedanken, Linien auch beim Blick aus dem Fenster, Gitterlinien zwar, nicht einmal zwanghaft strukturierend oder einengend, eher ein Zurückgeworfensein auf sich selbst, damit die Gedanken nicht davonflattern.

ALS (Flug-)Linien gekappt wurden, ging ich eines Morgens hinunter zum Fluss und zog mit meinen Armen Linien durch die Luft, ließ die letzte Brokatübung ausklingen, als von weither Schlagermusik nahte. Eine Frau mit Sonnenbrille trotz bewölktem Himmel, gelber Nylonjacke, geblümtem Rock hängte eine Plastiktüte an den Baum, darin schepperte die Musik weiter. Sie bückte sich, zog ihre Jacke aus, schwang ihre Arme und klatschte in die Hände, nestelte an der Tüte herum, doch ich hoffte vergebens, dass sie die Musik abstellen würde. Mit hoch erhobenem Kopf zog ich – wie lächerlich! – davon.

UND meinte doch kurz zuvor, im glücklichen Nichts-mehr-Wollen angekommen zu sein.

Blick aus dem Fenster © Alice Grünfelder

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I

Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Dorthe Nors «Die Sonne hat Gesellschaft», Kein & Aber

Nicht immer hat man Zeit und Lust auf einen seitenstarken Roman. Nicht immer muss es eine verschlungene, sich windende Familiensaga sein, die irgendwo kurz vor dem Ersten Weltkrieg unter sich am Himmel aufbauender Wolken beginnt und sich hochschraubt bis in unsere Gegenwart plus einen Ausblick auf die Zukunft, bevölkert von einem hundertköpfigem Helden-Ensemble, mindestens. Manchmal soll es nur eine kleine Geschichte sein.

«Geschichten wie Blitzeinschläge»
Gastbeitrag von Frank Keil

Zwei Personen treten an und auf, nicht mehr. Na gut – drei. Vielleicht noch hält sich die eine oder andere Figur im Hintergrund, die sich vage einmischt, sozusagen mit Hörensagen. Aber nicht mehr!
Hineingeworfen werden möchte man in eine Szenerie, in der es gleich im ersten Satz um aber auch alles geht. Der den Takt angibt, der erste Satz, der die Richtung zeigt, in die es nun geht, bergab, bergauf, aber meistens bergab, mit Tempo, getragen von einer gewissen Gnadenlosigkeit. Und dann ist alles schon wieder vorbei und fängt doch im eigenen Kopf erst an. Wer das mag, wer das schätzt, wer da aufschreckt im positiven Sinne auf den letzten Satz starrt, ist bei der dänischen Erzählerin Dorthe Nors genau richtig.

Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“, aus dem Dänischen von Frank Zuber Kein&Aber, 2020; 142 Seiten, 26 CHF, ISBN: 978-3-0369-5823-1.

Ein vor sechs Jahren erschienener Erzählband trägt den Titel „Handkantenschlag“; ein darauffolgender Roman hört auf den Titel „Rechts blinken, links abbiegen“, da weiß man gleich Bescheid. Nun ist just ein nächster Erzählband erschienen: „Die Sonne hat Gesellschaft“. Auch nicht schlecht.
Also: Ein Mann hat es satt, dass er jede, aber auch jede Auseinandersetzung mit seiner Frau verliert, und er flieht in den Wald; fürchterlich gefroren hat er in der Nacht, Tiere brachen durchs Unterholz. Zwei junge Frauen sammeln in einem heruntergekommenen Wohnviertel Spenden für die Krebshilfe, sie haben eine Büchse, mit der man gut rasseln kann, wenn ein wenig Geld sich darinnen versammelt hat, aber dann fragen sie sich plötzlich: Was machen wir hier eigentlich, in einer Gegend, in die wir nicht hineingehören, dabei läuft es nicht schlecht, also mit dem Sammeln läuft es eigentlich ganz gut, nur die Liebe – puh: die Liebe! Ein Mann besucht eine Frau, die vielleicht seine neue Freundin ist oder die es werden wird, wenn es gut wird, mal schauen, eine Nacht haben sie miteinander verbracht, und nun nimmt sie ihn mit zu einem Familienfest, in einem Gasthaus in der Nähe, ein Mittagessen, aber da duldet man ihn gerade mal so. Noch ein anderer Mann steht am Sarkophag von Lord Nelson, dem Einarmigen, der zuletzt auch einäugig war, in der Mitte der Krypta steht der Sarkophag, Erinnerungen an seine abenteuersehnsüchtige Kindheit überschwemmen unseren Mann, an Modellbauschiffe, an ruppige Eishockeyspiele denkt er, seine Frau sitzt draußen auf den Stufen, mit Sonnencreme im Gesicht und schaut gelangweilt in ihr Handy, sie spielt ein Spiel, bei dem man bunte Ballons zerplatzen lassen kann.

14 hochkonzentrierte Geschichten sind so versammelt, 14 Geschichten wie Blitzeinschläge, 14 mal Grundmomente wie Verzweiflung, Einsamkeit, aber auch des Aufbegehrens werden uns auf jeweils wenigen Seiten erzählt, das kann Literatur, das kann sie wirklich, auch das denkt man und denkt an all die Leute, die da sagen: „Bücher? Ich lese keine Bücher mehr, vielleicht mal ein Fachbuch.“. Während man durchaus angestrengt überlegt, ob man jetzt gleich die nächste Geschichte hinterherlesen will, sofort, ohne Pause, oder ob man sie sich aufsparen will, auch weil man ein wenig Angst hat, dass der Zauber und mehr noch die Macht des eben Gelesenen in die Kniee gehen könnte, wenn jetzt gleich wieder der Anfangssatz der nächsten Geschichte zündet und diese die eben Gelesene überlagert.

Dabei hat Dorthe Nors mit Romanen angefangen. Hat zugleich immer in die USA geschielt, sich ausgedacht, dass sie das nicht könne, Kurzgeschichten schreiben, aber dann setzte sie sich in eine Schulklasse von jungen Leuten, die dabei waren noch den letzten Halt zu verlieren und denen man noch eine Chance geben will, eine letzte, eine allerletzte; saß da unter ihnen, schaute hin, hörte zu, schrieb darüber einen kurzen, knappen Text, las ihn den Schülern vor und die waren begeistert, sie fühlten sich gesehen, weil sie sie gesehen hatte.
Und Dorthe Nors schrieb weiter, schrieb weitere Kurzgeschichten, eine Gattung, die es in der klassischen dänischen Literatur eher nicht gibt, sie in einem Rutsch, in einem dieser typischen Ferienhäuser an der jütländischen Westküste, das einst dem dänischen Dichter Knut Sørensen gehört und das nun für Stipendienaufenthalte zur Verfügung steht; zwei Wochen nahm sie sich Zeit, schrieb und schrieb und schrieb, was auch gut war und half: Sie war in dieser Zeit verliebt, schwer verliebt, wie man so sagt, war sich sicher, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben.

„Handkantenschlag“ oder übersetzt: „Karate Chop“ wurde ein Erfolg in den USA, eine Erzählung aus dieser Sammlung druckte der The New Yorker ab, so wurde sie die erste Dänin, von der ein literarischer Text im The New Yorker abgedruckt ist.
Und so ist sie – sozusagen unterbrochen von weiteren Romanen, wobei „Rechts blinken, links abbiegen“ für den Man Booker International Prize nominiert war – beim Sujet der Kurzgeschichte geblieben, was man nur begrüßen kann, und in ihrem eben neuen Erzählband gibt es neben den Geschichten über den Lord-Nelson-Fan und dem Mann im nächtlichen Wald, auch eine Geschichte über eine Schriftstellerin: Eine Schriftstellerin zieht sich zum Schreiben in das ehemalige Sommerhaus eines norwegischen Schriftstellers zurück, mitten im Wald liegt es, aber sie findet keine Ruhe zum Schreiben, eine Liebe ist zerbrochen, unweigerlich, wie soll man da schreiben, aber dann fügen sich die Dinge neu zusammen, Pferde spielen eine Rolle, das Foto von einer nackten Frau an einer Wand, eine Mutter und ihr Sohn und sie kommt ins Schreiben und der erste Satz geht so: „Es ist lange her, aber einmal wohnte ich in einem kleinen Haus in Norwegen.“

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Åarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Bei Kein & Aber erschien 2016 ihr Roman «Rechts blinken, links abbiegen», der für den Man Booker International Prize nominiert wurde. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

Frank Keil, Journalist, lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland. Studium der Diplom-Pädagogik. Seit 1995 unterwegs als freier Journalist, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales. Aktuell regelmässige Beiträge für die Taz Nord, Hinz&Kunzt, Nordis, Mare, Jüdische Allgemeine, die Evangelische Wochenzeitung und andere Medien. 1990 Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg, 2009 Essaypreis der Akademie für Publizistik.

Webseite Frank Keil

Beitragsbild © Petra Kleis

Urs Mannhaft «Der Leserbrief», Plattform Gegenzauber

Sicher hat vieles damit zu tun, dass ich nun schon eine Weile arbeitslos bin. Dass niemand einen Ingenieur brauchen kann, schon gar nicht einen, der spezialisiert ist auf Anlagen für Wärmerückgewinnung im Niedrig-Temperatur-Bereich. So dass ich ein bisschen viel Zeit habe, um Zeitung zu lesen, aus dem Fenster zu schauen und kleine Runden zu drehen auf meinem schönen alten Rennrad.
Während einer Ausfahrt in die Hügel zwischen Bern und Burgdorf fahre ich, in einem Wald hinter Bäriswil, eine Weile entlang von Tüten, Servietten, Bechern und anderem Unrat, der da, hingeschmissen von einem McDonald’s-Kunden, den Weg säumt. Als mir zwei, drei Kilometer später eine ähnliche Szene begegnet, werde ich hineingezogen in eine sonst Pubertierenden vorbehaltene Stimmung, in welcher man alle wachrütteln, zur Besinnung rufen und die Welt retten möchte.
Egal, mit welch grossen Gängen ich die folgenden Steigungen, insbesondere den ruppigen Aufstieg nach Dieterswald auch bewältige, mein Ärger über die Ignoranz gewisser Menschen und der Wunsch, mich für mehr Ökologie einzusetzen, bleiben an mir haften.
So stelle ich mich nach dieser Radtour nicht wie gewöhnlich unter die Dusche, sondern hocke mich an den Laptop und schreibe einen Leserbrief. Ich beginne mit dem Elektro-Velo, das mich in der letzten Steigung überholt hat und erwähne, dass auch ich, wäre mein Velo derart schwer, eine Batterie nötig hätte. Und dass es unverantwortlich sei, statt Körperfett zu verbrennen, mit einem unsäglichen Aufwand in China und Afrika seltene Metalle aus dem Boden zu holen, sie nochmals mit einem unsäglichen Aufwand in eine Batterie zu drücken und dann so zu tun, als wäre das Umweltschutz.
Nach ein paar Zeilen, in welchen ich hervorhebe, wie idiotisch es ist, vom Zahnbürstchen über den Rasenmäher bis zum Auto alles mit einer Batterie auszurüsten, komme ich auf den Klimawandel zu sprechen und auf die Verträge von Paris. Kaum habe ich beim Thema Massentierhaltung und Abholzung der Regenwälder argumentativ ein bisschen an Fahrt gewonnen, klingelt das Telefon; von meiner Mutter aber lasse ich mich gerne unterbrechen. Sie ist 71, hat eine schwierige Knieoperation hinter sich, wäre fast begraben worden unter einer Lawine von Medikamenten; erleichtert vernehme ich, dass es ihr deutlich besser geht. So gut geht es ihr, dass sie nun zusammen mit Vater die Sommerferien gebucht hat. Jetzt freue sie sich riesig auf Ägypten.
Ehe ich reflektiere, höre ich mich fragen, ob sie noch nie etwas von Ökologie gehört habe und ob so ein Flug wirklich nötig sei.
Meine Mutter kennt meine etwas direkte Art; dennoch scheint sie frappiert. Ihre zögerliche Erklärung, man könne ja doch nichts gegen den Klimawandel machen, erzürnt mich so sehr, dass ich auflegen muss.
Mit umso grösserem Furor führe ich meinen Leserbrief fort. Schon möglich, dass Wut in der Regel kein guter Antrieb ist, um etwas zu Papier zu bringen. Aber für mich ist dieser Zustand genau der richtige; es fühlt sich gut an, loswerden zu können, wie ignorant meine Eltern sind. Dann resümiere ich, dass viele Pensionierte zum Glück alt genug seien, um ungestraft glauben zu dürfen, der Klimawandel sei wie einst das Waldsterben nichts weiter als eine medial inszenierte Aufregung. Anderseits seien die Pubertierenden jung genug, um glauben zu dürfen, es ließe sich mit Protesten etwas bewegen, sei es auch nur das Gefühl, einer Protestbewegung anzugehören. Folglich sei es an den Mittelalterlichen, an den Praktizierenden, wie ich sie nenne, die Welt als Lebensraum zu retten: Wir dürfen nicht dumm genug sein zu glauben, wie bisher leben zu können. Wir müssen unser Leben in der Schweiz wandeln hin zu einem Stil, der einem rumänischen Provinzdorf bei Stromausfall ähnelt.
Diese Formulierung gefällt mir. Gerade weil das Wort Rumänien bei den meisten Schweizern negative Gefühle auslöst, will ich es drinhaben. Die Leute sollen endlich begreifen, dass die Zukunft unbequem wird, dass es mit der Faulheit, mit dem Fleischessen ein Ende haben wird, dass fertig ist mit warm duschen.
«Die Schweiz ist gut aufgestellt, um das Übereinkommen von Paris umzusetzen», lese ich dann auf der Website des Bundesamtes für Umwelt. Und erleide beinahe einen hysterischen Lachanfall. Die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen natürlich, dass wir überhaupt nicht gut aufgestellt sind. Dass der Mensch nicht gut aufgestellt ist, bescheidener zu leben. Der schweizerische Mensch sowieso nicht. Denn welcher Schweizer, welche Schweizerin möchte weniger Kaffee? Weniger Wohnfläche? Weniger Apfelkuchen? Weniger Liebe? Wer möchte in alten Kleidern rumlaufen? Keine Butter aufs Brot? Ein lahmes Auto fahren? Zu Fuss in die Ferien? Nicht in den Mangoschnitz beissen?
Ja, die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen das alles, sie dürfen es aber nicht hinschreiben. Also schreibe ich es in meinen Leserbrief hinein.
Und versuche schließlich, diesen abzurunden mit einer klaren, auf ihre Art vielleicht auch radikalen Forderung: Nicht Fridays for Future sei das Programm der Stunde, sondern Mondays for now. Mit den Protesten der Jugendlichen sei nichts falsch, im Gegenteil. Aber die Erwachsenen müssten eben antworten. Und ich schlage vor, sie sollen das tun mit einem arbeits-, auto- und flugzeugfreien Montag. In den 70er-Jahren hat doch der Bund aufgrund der damaligen Erdölkrise unserer Schweiz einige autofreie Sonntage anbefohlen. Abgesehen von ein paar Besitzern abgelegener Ausflugsrestaurants war das damals für alle eine grossartige und höchst erholsame Sache. Also empfehle ich dem Parlament, das Verbrennen treibhausgasemittierender Stoffe und das Benutzen der ökologisch ebenso bedenklichen Elektrofahrzeuge an Montagen generell zu verbieten. Rasch rechne ich vor, dass dies — mit all den leeren Autobahnen, mit Flughäfen, die für Spaziergänger und Rollschuhfahrer geöffnet sind — die CO2-Emission der Schweiz sofort runterbringt auf einen Wert, von dem aus sich die in Paris vereinbarten Klimaziele mit einigen zusätzlichen Massnahmen erreichen lassen.
Ich setze einen Punkt, notiere meinen Namen, meinen Wohnort, speichere zufrieden meine Zeilen und schicke sie, weil mir scheint, es sei trotz allem die einzige halbwegs anständige Zeitung, an die NZZ.
Drei Tage später, ich denke schon nicht mehr an diese Sache, erreicht mich eine Mail von einem mir unbekannten Mann aus Oberburg bei Burgdorf, der erklärt, er habe seinen Müll im Wald hinter Bäriswil eingesammelt; er entschuldigt sich und wünscht mir weiterhin gute Fahrten mit dem Rennrad.
Da sehe ich, dass die NZZ meine Zeilen tatsächlich abgedruckt hat. Nicht hinten, nicht versteckt bei den Leserbriefen. Sondern ungekürzt und ziemlich prominent im Wirtschaftsteil als Gastkommentar; hinter meinem Namen steht das Wort Ingenieur. In einer Mail aus dem NZZ-Sekretariat werde ich nach meinen Kontoangaben und meiner Pensionskasse gefragt. In einer anderen Mail der NZZ ist entschuldigend von einem Missverständnis die Rede; ein Redakteur drückt gewunden seine Hoffnung aus, es sei mir die Sache nicht zu unangenehm. Im Ressort Wirtschaft habe man verzweifelt auf einen längst vorbesprochenen Gastkommentar gewartet, und ein offenbar übermüdeter Blattmacher habe schliesslich geglaubt, ich sei jener Ingenieur, dessen Text man herbeigesehnt hatte. Aber ja, vielleicht sei es auch gar nicht so schlimm, meine Ausführungen seien jedenfalls erfrischend und überraschend bunt.
Ich will mich gerade fragen, ob die Worte erfrischend und überraschend bunt unter Journalisten vielleicht gemeinhin nicht als Kompliment gelten, als meine Mutter anruft und ganz aufgeregt erzählt, es seien verschiedene Mails bei ihr eingegangen, alle mit wüsten Beschimpfungen, eine sogar mit einer Drohung: Wenn sie die Flugreise nach Ägypten nicht annulliere, werde man ihr co2-neutral das Haus abfackeln.
So gut es geht, versuche ich, meine Mutter zu beruhigen. Die Vorstellung, dass das Haus, das ich in wenigen Jahren erben werde, ein Raub der Flammen werden könnte, alarmiert mich. Also empfehle ich meiner Mutter, auf Facebook zu posten, dass sie die Reise nach Ägypten abgesagt habe. Dann muss ich auflegen, denn jetzt prasseln die Nachrichten nur so auf mein Telefon nieder. Ich kann mich nicht erinnern, je derart viel Lob, Zuspruch und Ermutigungen erhalten zu haben. Endlich jemand, der nicht davor zurückschrecke, vollkommen moralisch an die Sache heranzugehen, lese ich.
Mir war nicht bewusst, dass meine Zeilen moralisch sind, ich habe bloss getippt, was mir durch den Kopf ging.
Eine unbekannte Frau erzählt mir in einer Mail, wie sie aufgrund meiner Ausführungen zur Massentierhaltung entschieden habe, nur noch Fleisch zu essen von Tieren, die sie kennen gelernt hat. Also habe sie einen Bauernhof am Stadtrand aufgesucht und nach einem Tier gefragt, das demnächst geschlachtet werden soll. Der Landwirt habe sie im Stall zu einem rabenschwarzen jungen Stier geführt, der auf den Namen Sultan höre. Kaum sei sie vor dem kräftigen Tier gestanden, sei es zu einem Blickkontakt gekommen, dessen Intensität zu beschreiben ihr schwer falle. Jedenfalls könne sie sich nicht erinnern, je zuvor in einem Auge derart deutlich gefühlt, nein: gesehen zu haben, was gemeinhin als Seele bezeichnet werde. Ergriffen habe sie sich gefragt, wie sie all die Jahre überhaupt habe leben können, ohne regelmässig einem derartigen Tier in die Augen zu blicken.
Kurz danach habe sie am Hals des schönen jungen Stiers eine Beule entdeckt. Danach gefragt, habe der Landwirt gelacht und erklärt, das sei vielleicht ein bisschen gross, allerdings nichts anderes als ein Pickel. Der junge Kerl befinde sich halt in der Pubertät.
Das habe sie nur zusätzlich berührt. Und sie habe den Stall nicht verlassen können, ohne das Versprechen des Landwirts mitzunehmen, diesen jungen, bildhübschen Stier am Leben zu lassen. Bald schon werde also sie sich um das Tier kümmern — und vielleicht könnte ich ihr behilflich sein auf der Suche nach einem guten Platz für Sultan.
Noch während ich überlege, wie viel Gras wohl ein junger Stier frisst und wie gross seine Weide sein muss, erreicht mich eine Mail aus dem Bundeshaus. Zwar stehe noch eine ausserordentliche Sitzung an mit den Dachverbänden von Wirtschaft und Zivilluftfahrt, aber eigentlich sei klar, dass Mondays for now die einzige Chance sei, um die hochgesteckten, in Paris beschlossenen Klimaziele zu erreichen. Man möchte gerne wissen, ob ich kommende Woche für ein Podiumsgespräch sowie assistierend, mit meiner Erfahrung als Ingenieur, bei der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlagen zur Verfügung stehen könne — natürlich gegen Honorar.
Die Anfragen nehmen gar kein Ende; bald schon werde ich als Star der Schweizer Klimaszene bezeichnet. Journalisten melden sich, begeisterte Bürger, ein jungen Mann, der sich dabei gefilmt hat, wie er seinen Führerschein in einen Schredder wirft, eine fremde Frau, die mir tausend Herzen aufs Papier gemalt hat, ein nervöses Fernsehteam, ein feister Wirtschaftsboss aus Deutschland.
Und drei Tage später, kurz nachdem ich den Flug nach Brüssel gebucht habe, kaufe ich mir einen schicken Anzug, schicke Lederschuhe einen dieser schlanken Laptops und ein neues Telefon, damit ich an der Konferenz, zu der ich eingeladen bin, auch seriös und glaubhaft auftreten kann.
Seltsam, aber heute kann ich kaum mehr verstehen, wie ich es geschafft habe, diese unendlich langweiligen, des fehlenden Einkommens wegen auch brutal bescheidenen Monate der Arbeitslosigkeit durchzustehen, ohne psychisch krank zu werden. Ja, es tut mir gut, ich fühle mich wertvoll, mich in einer ganz neuen Position für den Kampf gegen den Klimawandel einsetzen zu können.

Urs Mannhart hat als Velokurier, Nachtwächter, Journalist und in der Landwirtschaft gearbeitet. 2004 erschien sein Erstling «Luchs», 2006 dann «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Als Reporter berichtet Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weissrussland und der Ukraine. «Bergsteigen im Flachland» ist sein dritter Roman, für den er 2016 mit dem Conrad Ferdinand Meyer-Preis ausgezeichnet wurde.

Alice Grünfelder «Der Unwetterer – Biji* über den Maler Adolf Stäbli»

Wolken, Unwetter, dunkle Welten – Drohungen oder Visionen? Die Wege sind verschattet. Umrisse scharf in dieser Millisekunde, bevor das Gewitter sich entlädt. An den Bildern des Unwettermalers Adolf Stäbli riss sich jedenfalls mein Auge auf, als ich sie das erste Mal sah.

Ihretwegen fahre ich Monate später wieder zurück, dieses Mal ist Brugg durch das Stadtfest wie verwandelt, ich finde mich nicht mehr zurecht vor lauter Schildern, die hinführen zur Kletterwand, Swingroom, zu Barbecue, thailändischen Nudeln und tibetischen Momos … Zwar sehe ich schon die Gemäuer der Altstadt, finde jedoch keinen Zugang. Eine Frau nimmt mich mit, wir gehen hinter einem Kinderkarussell unter einem steinernen Bogen hindurch. Die Gassen winden und krümmen sich, dass ich bald die Orientierung verliere, und nein, ins Legionärsmuseum Vindonissa möchte ich nicht, sondern eben ins Stadtmuseum, das aber kennt sie nicht. Ob Brugg überhaupt ein solches hätte? Sie wohne auf der anderen Seite der Aare, woher ich denn käme? Ein paar Schilder und Häuserecken weiter stehen wir vor dem Museum.
Wegen Adolf Stäbli sei ich hier, sage ich.
Sie wohne am Stäbli-Platz, welch ein Zufall, aber nein, das Museum, der Maler interessieren sie nicht, antwortet sie, als ich sie frage, ob sie nicht mit hineinkommen möchte.

Still ist es im Stäbli-Saal. An blauen Wänden hängen 33 Bilder. Wie zufällig trete ich vor die drei Porträts: der junge Adolf Stäbli mit rötlichem Haar, das Gesicht frei; später im Alter sind die Wangen gefleckt, der Bart schimmert rötlich. Der Blick des Mannes auf dem dritten Gemälde aus dem Jahr 1893 ist einer, der vom Leben nicht mehr allzu viel erwartet, die Augen haben schon zu viel gesehen.
Und mit diesen Augen im Kopf gehe ich an den Bildern entlang und versuche zu sehen, was Adolf Stäbli gesehen hat, versuche zu verstehen, warum das Unwetter ihn anzog, die düsteren, flachen Landschaften, über denen sich Wolken aufbäumen und am Bildrand entladen, die Welt auf jedem Bild unterzugehen droht.

Neben den Porträts hängt ein „Kruzifix am Weg“. Efeu rankt daran empor, der helle Himmel darüber, so scheint mir, wurde mit einem Spachtel glattgestrichen, nur oben am rechten Bildrand düstert es noch dunkler. Dagegen können auch die weißen Punkte – sind es Margeriten? – und die blauen – Enziane? – nicht ankommen, sie verschwinden fast in dem dunklen Gras.
Weite Steppe und davor eine Birke, die seit Jahren vergebens dem Wind trotzt, nun gebeugt von diesem Kampf; der Blick geht hinaus in ein weites Land, folgt dem Weg durch die Felder, die sich bis zu einem See erstrecken – oder ist’s ein Meer? Und dahinter, darüber wieder diese Wolken, die sich stauen, jagen oder als wachten sie darüber, dass unter ihnen alles so weit und flach bleiben möge, wo sie selbst oben schon den nächsten Windstoß erwarten. Kein Mensch, nirgends, auch kein Tier, nicht einmal Vögel, die doch sonst den Himmel bevölkern und zirpen und kreiseln, wenn ein Unwetter aufzieht. Das Bild „Weites Land“ erzählt nicht viel von dem, was fehlt.
Auf einem der nächsten Bilder grellt der Schnee in den Bergflanken, so dunkel ist der Grat, der Wald, und unten fettes, grünes Land, Wald und Blumen und Gräser, vom Wind aufgefächelt. So als bräuchte auch das Unwetter in Stäblis Welt einmal eine Pause, vielleicht hat er sie in der „Gebirgslandschaft bei Patenkirchen“ gefunden?

Immer wieder öffnet sich Tür, quietscht in ihren Angeln, ein Kommen und Gehen von Stadtfestgängern, niemand verweilt länger als fünf Minuten, es quirrt der ganze Raum, wenn oben die Menschen zwischen den Vitrinen umhergehen, fast unheimlich ist dann der Blick in den Saal, der nun leer ist, wo unter der Woche und an Samstagen gern geheiratet wird. Leise und beständig surrt nur die Klimaanlage. Ich schaue hinaus zu den Geranien, wie sie prall vor den Fenstern hängen, zu den Fensterläden, die schräg gestellt sind, um die Hitze auszusperren, und ich stehe wieder vor den Bildern und suche nach etwas, das ich nicht finde.
Eine Zeichnung sieht aus wie der flüchtige Versuch, den Wald, die Büsche, das Gewaltvolle zu fassen. Mich erinnert sie an die Baumtempel des Angkor Wat, wo Tempelruinen, Wurzeln, Steinblöcke in einer Weise ineinander übergehen, dass einem das Auge überfließt und der Verstand erst recht. Man bewegt sich dort wie in einem Fluidum, und wären der Saal und das Stöhnen des ganzen Hauses unter den Schritten der Menschen nicht, könnte es hier in der Welt des Adolf Stäbli ähnlich sein.
In der „Flachlandschaft“ steht eine Rinderherde am Himmel, wirft sich übereinander, drängt sich wie auf einem Schlachtfeld.

Vorwärtsdrängende
Rinderherde am Himmel
den Süden im Aug

Und immer wieder weites flaches Land, über das der Wind hinwegfegt und das Gebüsch, auch Häuser sich ducken, Felsen gar. Ich habe das Lied von Jacques Brel im Ohr: „Le plat pays“, suche dort nach den Worten, die mir hier fehlen. Auch bei ihm kämpft das flache Land gegen Wasser und Wind, der Mensch schüttet Dämme auf und kann doch nichts ausrichten. Und die Weite wird zur Wüste, wo der Teufel seine Krallen nach den Wolken streckt, während er sich im geborstenen Gemäuer versteckt.

„Überschwemmung“ heißt ein Gemälde, Baumstämme umwirbelt vom panzergrünen Strom, die Welt kämpft hier gegen den Untergang, ragt entkräftet empor, Weiden, Grasinseln, wie lange noch? Regenfäden am Horizont, die Welt regnet sich ein, hell ist’s über der Baumgruppe, vielleicht doch ein Streifen Zuversicht inmitten der Trostlosigkeit?
Sandkuhlen, Heidekraut und Felsen in der „Regenlandschaft im Harz“. Würde die Sonne scheinen, ein angenehmer Ort, der einen weiten Blick erlaubt, so aber unter wüstgrauen Wolken? Die Platane beugt sich im Wind, der von Osten weht – wenn der rechte Bildrand denn Osten ist? Wie verhält es sich überhaupt mit Windrichtungen auf Gemälden? Wo zieht das Gewitter auf? Woher kommen die Wolken, wohin ziehen sie?
Viel Unruhe ist in den Gemälden, aber sie sind auch still, totenstill, trotz der Lichtstreifen, auch sie fast auf jedem Bild, hängt der Himmel durch, die Natur ist verloren, der Mensch ohnehin?
Ich denke an chinesische Landschaftsmalereien, wo alles in sich zu ruhen scheint, jedes Element an seinem Platz und somit Harmonie gewährt ist. Das Wetter bei Stäbli hat nichts Erhabenes, er verschmäht alles Liebliche, Ordnungen werden bedroht durch Wolkenexzesse, ein Aufruhr, ein innerer oder auch ein Weltenaufruhr, ein Wüten gegen die Welt – als wollte er sich durch das Malen von der Weltendüsternis befreien. Gleichzeitig spricht eine unsägliche Traurigkeit aus den Bildern, Trauer über eine untergehende Welt? Ist Stäbli also nicht nur ein Wettermaler, sondern auch Prophet, spürt er, welche Unwetter über Europa aufziehen? Und zerbricht darüber.
Der Mensch hat in solchen Welten jedenfalls nichts zu gewinnen. Ein Wettersturz enthebt den Menschen all seiner Funktion und seiner Überlegenheit. Es ist die durchkomponierte und variierte Aussichtlosigkeit, die mich Schritt um Schritt überwältigt, herumwirbelt in diesem aufkochenden Gewölk. Vielleicht ist es doch an der Zeit, wie Kant einst im „Streit der Fakultäten“ schrieb, dass die Menschen von der Bühne treten müssen? Was, wenn die Natur von der Menschheit verlange, ihren exklusiven Platz aufzugeben und an andere Lebewesen abzutreten?

Biji = Pinselnotiz, chinesische literarische Gattung, essayistische Miniaturen, verdichten Erlebnisse, Beobachtungen, Reflexionen assoziativ.

Alice Grünfelder «Die Wüstengängerin», Edition 8: Die Sinologiestudentin Roxana reist Anfang der 1990er Jahre die Seidenstrasse entlang, um noch unbekannte buddhistische Höhlenmalereien in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas zu erforschen. Sie will zeigen, dass die Region nicht immer islamisch war, sondern buddhistische Wurzeln hat. Roxanas jahrelange Recherchen führen nicht zum erhofften Erfolg, doch mit leeren Händen will sie nicht nach Europa zurück, zumal es nichts gibt, wofür es sich lohnen würde heimzukehren. Ihr Aufbruch in die Fremde verliert sich im Sand der Wüste Taklamakan, der ›Wüste ohne Rückkehr‹.

20 Jahre später reist die schwerkranke Linda für ihr letztes Entwicklungsprojekt nach Xinjiang. Doch die Behörden verweigern die zugesicherte Zusammenarbeit. Im Gästehaus zur Untätigkeit verdammt, stösst Linda auf die Aufzeichnungen, welche die verschollene Roxana zurückgelassen hat, und sie folgt deren Spuren.

Vor dem Hintergrund des Widerstands der UigurInnen gegen die chinesische Regierung in Xinjiang, der spätestens seit 2009 auch im deutschsprachigen Raum Schlagzeilen macht, verstrickt sich das Schicksal der zwei eigenwilligen Frauen. Erstmals wird aus europäischer Perspektive von der Geschichte und Gegenwart einer wenig beachteten Region erzählt. Feinfühlig und kenntnisreich zeichnet die Autorin ein Panorama der Schicksale von Menschen, die in China an den Rand gedrängt werden.

Ziviler Ungehorsam für den Frieden.
Ein Essay von Alice Grünfelder.

Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Mutlangen, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China). Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute u.a. die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, führte eine eigene Agentur für Literaturen aus Asien, übersetzte aus dem Chinesischen und gab mehrere Erzählbände heraus. 2018 ist ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» erschienen, der in Xinjiang spielt. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019. Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Webseite der Autorin

Fabian Schaefer «Argovia», Kameru

In seinem ersten Roman schickt der Schweizer Autor Fabian Schaefer drei Kantone in einen Bürgerkrieg und entfaltet darin Geschichten, die in ein buntes Kaleidoskop mit allzu menschlichen Facetten mündet. 

„Ein Plädoyer für Teilhabe“

Urs Heinz Aerni stellte ihm zu diesem Buch Fragen.

Urs Heinz Aerni: Mit Ihrem schwer in den Händen liegenden Roman «Artovia» schicken Sie die Lesenden durch eine Riesengeschichte, die den aktuellen Zeitgeist mit in die Zukunft nimmt und einen Schweizerischen Bürgerkrieg auslösen lässt. Erinnern Sie sich, durch was Sie auf diese Idee gekommen sind? Etwa bei der Lektüre von «Vom Winde verweht» oder durch den Film «Die Klapperschlange» von John Carpenter?

Fabian Schaefer: (lacht) Im Zug von Zürich nach Brugg. Die Leere um den Güterbahnhof vor Spreitenbach mitten in der Zugfahrt hat mich immer fasziniert. Ich habe mich eines Tages unvermittelt gefragt: Was wäre, wenn hier ein Wall stehen würde, ein wirklicher, nicht nur irgendein «geistiger». Und dann kam natürlich die Frage, warum könnte der da stehen? Auf der anderen Seite stand der Wunsch, was alles in einer mir derart vertrauten Geographie entstehen könnte, wenn die Fantasie einmal frei ist. Ein Thriller, wie eine Fernsehserie vielleicht, ja, aber nicht schon wieder in «New York», sondern hier, bei uns.

Aerni: Dieser Impuls mutierte sich nun zu diesem Roman…

Schaefer: Ja, aus den spontanen Gedanken hat sich Argovia entwickelt, eine nahe Zukunft, und darin verwoben meine eigenen Erfahrungen und Bilder zwischen Basel, Brugg, Aarau und Zürich, erlebte Anekdoten und erinnerte Gespräche und Personen. In diesem Sinne ist das alles auch autobiographisch. Und davor laufen dann Formen und Muster ab, die mir aus Romanen, TV-Serien, Filmen, Graphic Novels geblieben sind. 

Aerni: Eine Art das Zusammenführen von Puzzle-Teilen?

Schaefer: Alles Erzählungen, aber auch zeitlose Gleichnisse irgendwie, die Haltungen aufbauen und zusammengesetzte, wichtige Bruchstücke sind, um ein Ganzes zu beleuchten. Das ist vermutlich einerseits vielleicht Zeitgeist, aber es geht hoffentlich sogar tiefer.

Aerni: Ihr Roman bespielt diverse Ebenen. Eine davon ist auch die exakte Konstruktion von politischen und militärischen Ereignissen, die jedoch im Kontext stehen mit Heute oder sich daraus entwickeln. Wer von den gesellschaftlichen Verantwortungstragenden müsste dieses Buch unbedingt lesen?

Schaefer: Ich stimme zu – die meisten Themen von Argovia sind heute schon da, und können vielleicht Beteiligten in der politischen Debatte helfen, es sich bei wichtigen Themen wie Migration, Stadt-Land-Gefälle oder auch Künstliche Intelligenz mit schnell geäußerten Standpunkten doch etwas schwerer zu machen. Das betrifft dann aktive Politiker, aber etwa auch uns alle vor Abstimmungen. Diese Ableitung aus dem Heute ist sicherlich ein wichtiger Reiz von Argovia: bestehende Themen zu benennen, und sie weiterzudenken, auch kontrovers, um Nachdenken auszulösen.

Aerni: Also schon gewisse Appellationen an die aktuelle Generation?

Schaefer: Ich glaube, dieses Aufrütteln ist mir gelungen. Ich habe Bemerkungen erhalten wie: «Unsere Schweizer Armee würde so etwas niemals tun“ oder „Wir sind nicht so hier in der Schweiz». Vielleicht nicht. Es ist ja ein Roman, keine detailversessene Militär- oder Nationalgeschichte. Aber diese Aussagen zeigen doch, dass man sich angesprochen fühlt. Sie bestärken mich, dass der Roman etwas auslöst. Und das möchte ich auch erreichen. Er ist klar ein Plädoyer für mehr Offenheit und Teilhabe. Dazu braucht es eine bewusste Sicht auf das, was heute ist. 

Aerni: Der Verlierer eines Bürgerkrieges zwischen den verdichteten Agglomerationen von Basel und Zürich, ist der Aargau. Eine literarische Lektion für falsche Tendenzen in diesem Kanton?

Schaefer: Vordergründig brauchte es zuerst einmal Spannung und einen Konflikt. Ich wollte ja einen Thriller schreiben, ich wollte die Guten und die Bösen. Da ist eine lebensweltliche Grenze um das Gebiet des Aargaus einfach vermittelbar, und ein gerade zu Ende gegangener Krieg bietet ebenfalls vielfältige Ansätze.

Aerni: Die Geographie des Kantons spielte eine Rolle?

Schaefer: (nachdenklich) Das Geographische ist nur eine Art, wie wir Gegensätze wie den von «Heimatidentität» und dem «Fremden» verstehen und entschärfen müssen. Ich glaube, unsere Debatten und Abstimmungen in der Schweiz zeigen immer wieder, dass sich durch die Gesellschaft vielfältige Grenzen ziehen.

Aerni: Die Siegermächte…

Schaefer: …im Roman ist die Bilanz ja durchaus gemischter: Die Menschen in Turikum und Basilea nehmen etwa die Droge Tyla, nicht unproblematisch! Und angedeutet werden auch die Gefahren von Datenmissbrauch und Künstlicher Intelligenz. Eine gestiegene Bedeutung des Ständischen und der «Alten Familien», und eine hohe Militarisierung, bestehen auch in Basilea und Turikum, nicht nur in Argovia – überall gibt es weniger Demokratie als nach unserem heutigen Selbstverständnis. Auch Verrat gibt es zudem diesseits und jenseits der Wälle…

Aerni: Der ziemlich allgemein reich befrachtete Begriff «Heimat» scheint Sie auch umzutreiben?

Schaefer: Man muss das Thema «Heimat» schon genau lesen, sonst tappt man in die aufgestellte Falle: fast alle Hauptpersonen, die «Guten» wie die «Schlechten», sind ja Argovier, also, «Aargauer». Auch diejenigen mit vormals ausländischem Hintergrund sind alle dort aufgewachsen, etwa Enn oder Ibraïm! Und die wenigsten, ob gut oder böse, haben umgekehrt keine ausländischen Wurzeln. Es geht mir um die Frage, was ist überhaupt Heimat, was ist «das Fremde». Heimat als Idee wird dabei überhaupt nicht abgewertet.

Aerni: Sie benutzen Ortsbezeichnungen wie Basilea, Argovia und Turikum. Warum?

Schaefer: Das ist zunächst einmal eher lustvoll, es geht um Sprachklang und ein Spiel mit Referenzen. Aber dennoch: Diese Distanzierung, Verfremdung der bekannten, möglichst genau eingehaltenen Geographie schafft etwas Entfernung, die man nutzen kann, um sich nur noch deutlicher zu fragen, was ist wirklich, oder wird bald wirklich, und was ist Fiktion.
Dies betrifft etwa auch die Namensgebung für Personen. Man hat mich gefragt, warum keine der HeldInnen «Regula» oder «Felix» heißen, etwa, um den «Lokalkolorit» zu verstärken. Wobei übrigens hier hinzukommt, dass derartige Namen ohnehin heute in der Schweiz vor lauter Ann-Sophies, Chayennes, Tabeas, Leahs oder Kevins, Noahs, Lucas, Léons und Finns kaum noch zu finden sind.

Aerni: Die Lektüre lenkt uns nicht nur durch Konflikte, zerstörte Infrastrukturen – wir denken mal hier gar nicht an die AKWs, sondern auch durch durch Ängste und Hoffnungen von Menschen, wie beispielsweise des Biochemikers Chan Effas. Er scheint Ihnen nahe zu stehen, oder?

Schaefer: Ja, Chan ist ja in gewisser Weise eine Linse des Romans, ein Beobachter wie ich es als Autor bin. Das bringt uns schon Nähe. Es ist spannend, durch ihn alles aufbauen und erleben zu können. Er beobachtet sein Zuhause, Turikum, und das von Xhyna, Basilea, ganz genau. Etwa am Akademieball. Und dann folgt er mitten durch Argovia allen Seiten und Fraktionen. Argovia entfaltet sich vor Chan gewissermaßen, zusammen mit dem Lesenden. Ich will hier natürlich gar nicht alles erzählen, aber wie es das Cover des Romans ja schon zeigt, stehen dabei auch starke, prägnante Frauenfiguren im Vordergrund der Handlung. Auch wenn ich das alles natürlich nicht selbst erlebt habe, ist von mir hier auch manches autobiografisch gefärbte eingeflossen. In den Gedanken und Szenarien, aber auch in vielen Einzelheiten der Beschreibungen.

Aerni: Dystopie ist momentan in der Literaturszene in aller Munde, so als Kontrastprogramm zur Utopie. Wie groß ist Ihr Vertrauen nach dem Verfassen dieses Romans in die internationale Politik, Wirtschaft und Technik?

Schaefer: Mein Roman ist zu technisch-gesellschaftlichen Fragen bewusst ambivalent ausgelegt, vielleicht auf eine Art ausgewogen zu Chancen und den Gefahren. Ein Sinnbild hierfür sind etwa die Wälle, die trennen, aber auch transparent sein können und so verbinden, Tiere auf deren Weg nicht behindern und die selbst bewusst sind und irgendwie zu uns sprechen. Ich halte den Roman nicht für eine Dystopie – Eher möchte er zeigen, dass es zu allem ein Für und Wider gibt, das ist heute wohl nicht anders als zu früheren Zeiten. – Argovia ist ja Teil einer Triologie, ich arbeite jetzt an Turikum, mal sehen, wohin es sich in dieser Hinsicht entwickeln wird.

Aerni: Hat die Arbeit an diesem Buch auch gewisse Meinungen verändern lassen?

Schaefer: (überlegt) Durch die Recherche bin ich zu den einen oder anderen neuen Informationen gekommen, z.B. zu Diskussionen um ein «Hyperloop»-Projekt für die SBB oder zur Künstlichen Intelligenz im militärischen Bereich. Aber ich denke, der Hauptpunkt ist, dass ich mich selbst überrascht habe, wie wichtig mir Integration und auch der Glaube an das Richtige und Gute im Grunde sind. Wenn man in aller Ruhe nachdenkt, sich die Zeit nehmen darf, sein eigenes «Science Fiction» – Buch im Hier und Jetzt zu schreiben (lächelt), kommen die wesentlichen menschlichen Fragen und Erkenntnisse vielleicht immer irgendwie hervor. Werden fast zwingend.

Aerni: Das Wechselspiel zwischen dem Erzählen von großen Prozessen und den Dialogen und Gedanken der Protagonistinnen und Protagonisten währt bis Seite 458, dann folgt eine sachlich gehaltene Chronologie des Schweizerischen Bürgerkrieges. Wo lagen für Sie die größten Herausforderungen beim Verfassen?

Schaefer: Ich wusste zuallererst, ich will Wälle aufstellen, und ich wusste, wo. Dann wurde mir die allerletzte Szene im Roman, auf die alles, wirklich alles hinausläuft, klar. Aber ich wollte die Handlung in diesem Jahr 2031 aus dem Heute heraus glaubhaft entwickeln. Daher entstand, noch vor den ersten Skizzen zum Hauptteil des Romans, die Chronologie. Sie musste Heutiges in einer möglichen Weise weiterentwickeln. Sie gibt den Boden ab, auf dem sich dann die Handlungen und Nebenhandlungen, Personen und Dialoge wie auf Bahnen auf den Schluss hin entwickeln. Eine wichtige Herausforderung war, dass alles zueinander passen musste. Da habe ich oft und viel hin und her abgestimmt. 

Aerni: Mit welcher geistigen Verfassung, sollte die Leserin und der Leser Ihren Roman aufschlagen?

Schaefer: Neugierig, offen, auch kritisch. Aber vor allem darf man sich einfach genussvoll auf eine spannende Reise voller Wendungen begeben, den bekannten aber verfremdeten Orten wie auch den Wendungen der Geschichte folgen. Man hat hier wahlweise zum Beispiel einen Politthriller, einen Zukunftsroman, eine Liebesgeschichte und einen Heimatroman vor sich. Ich glaube, es ist mir gelungen, das Spielerische dabei nicht zu kurz kommen zu lassen. 

Fabian Schaefer, 1973, studierte Kulturmanagement an der Universität Basel. 2015 erschien im selben Verlag seine Kurzgeschichtensammlung «Aus der Erstarrung». Beruflich ist Fabian u.a. im Kulturbereich in der Umsetzung betrieblicher Strategien, der Organisationsgestaltung und als Unternehmensberater tätig. Zu seinen Interessen zählen klassische und moderne Literatur, Sprach- und Theaterwissenschaft, Anthropologie und Kulturwissenschaft und zeitgenössische bildende Kunst.

«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch

Das Spielen mit Bombensplittern gehörte für den 1935 in München geborenen Jungen zu den Illuminationen im tristen Kriegsalltag. «Ich habe nie unter der Bettdecke Bücher verschlungen. Nach dem Krieg war keine Zeit fürs Lesen.» Es folgt ein Schnitt: Der Adoleszente verbringt ein Jahr in den USA und kehrt mit einem glühenden Interesse an der transatlantischen Subkultur nach Deutschland zurück. Er bricht ein Studium der Gebrauchsgrafik ab, heuert bei der Deutschen Lufthansa an, absolviert die Pilotenausbildung und fliegt schliesslich 33 Jahre lang in deren Langstreckendienst. Das sichert Jürgen Ploogs bürgerliche Existenz, neben der es aber diejenige des Autors gibt: «Ich bin doppelt belastbar.»

Ploogs erste literarische Versuche erscheinen in Zeitschriften, wobei sich rasch die Montage, dann das Schneiden als bevorzugte Schreibmethode abzeichnen. Der Schnitt entspricht dem unsteten, diskontinuierlichen Pilotenleben: 10 Tage zu Hause in Frankfurt, dann New York, dann Buenos Aires, dann Sydney, Kalkutta, Port Said… Jürgen Ploog wendet seit den frühen 1960er Jahren – im direkten Anschluss an ihre Erfindung in Paris durch Brion Gysin im September 1959 – die Cut-up-Methode an:

«Nehmt ein buch irgendein buch
zerschneidet es
zerschneidet
prosa
gedichte
zeitungen
zeitschriften
die bibel
den koran
das buch von moroni
lao-tse
konfuzius
das bhagawadgita
irgendwas
briefe
geschäftskorrespondenz
werbung
alle wörter

schlitzt es der mitte nach auf würfelt
die abschnitte zusammen
wie es euerm geschmack entspricht
schneidet ein wenig bibel hinein
streut ein wenig werbeprosa
darüber
mischt es wie karten werfts
wie konfetti herum
schmeckt es ab wie kochendheisse
buchstabensuppe

gebt die briefe eurer freunde
euer durchschlagspapier
durch irgendein sieb das ihr findet
oder erfindet

ihr werdet bald sehen
was sie in wirklichkeit sind
und sagen dies ist die ultimative methode
der wahrheitsfindung

reimt ein meisterwerk zusammen
pro woche
verwertet bessere materialien
hochexplosivere wörter

es ist nicht länger nötig eine zeit
der genies
anzubahnen seid euer eigener agent»

Mit diesen Worten rief Brion Gysin 1960 in Minutes To Go zur allgemeinen Anwendung der Cut-up-Methode auf. Und einer seiner Komplizen wurde der junge Ploog, der sich zum konsequentesten deutschsprachigen Cut-up-Autor mausern sollte – um nicht mit Carl Weissner zu sagen: zum «besten deutschen Cut-up-Autor». Wie William S. Burroughs, zu dessen persönlichen Kollaborateuren Ploog seit 1969 zählte, entwickelte er Gysins Erfindung zu einem eigenen Stil weiter.

Cut-up oder die Durchkreuzung des Nullpunkts der Literatur. Was erscheint auf der anderen Seite? Was passiert nach dem Durchbruch in den Grauen Raum? Welche Gestalten und Prozesse treten jenseits des Flusses in Erscheinung? Ploogs Schriften stellen zweifellos eine Antwort auf diese Fragen dar.

Einen politischen Spiegel fand die anarchische Schnittmethode in den linkstheoretischen Pamphleten von Kropotkin oder Herbert Marcuse, die Ploog als schmale Hefte in der Nova Press abdruckte. Doch seine eigenen frühen Experimente mündeten in ein Buch, das 1969 im Melzer Verlag erschien, ins Cola-Hinterland, das nur deshalb nicht «Coca-Cola Hinterland» heisst, weil Ploog den Darmstädter Kleinverleger Joseph Melzer von allem Anfang an vor einer millionenschweren Klage des Riesenkonzerns bewahren wollte. Cola-Hinterland wird – wie die späteren Bücher von Ploog – vom offiziellen Feuilleton weitgehend ignoriert, ver- oder geschmäht, erlangt aber in subliterarisch orientierten Kreisen Kultstatus.

Ploogs frühe Prosa zeichnet sich durch harte, rasche Schnitte aus, durch Atemlosigkeit und hohe Pressur, durch einen dissoziativen Bewusstseinsstrom, durch ständiges Auf-Zack-Sein gleichsam: «Ich versuche zu schlafen/Durcheinander aus Nerven Kreislaufschwächen & Sex-Gerüchen nach einem türkischen Bad/ die Kabine erinnerte mich immer stärker an eine Zelle/ ‹versuche dir den Orgasmus bewusst zu machen› sagte Suzie Geruch kirgisischer Haut zurücklassend – (…) gerade noch trinkbares Wasser wird von Syros gebracht… waschen ist unmöglich… es wären mindestens 5 Dimensionen nötig um eine solche Reise zu beschreiben… um der erdrückenden Gewissheit zu entgehen dass 20 000 Jahre Geschichte verspielt sind… es wurde spät, der Wind rappelte – Nordwind – das Postboot werde nicht kommen. Sagte der Kapitän… keine Spur von Kalypso… wenigstens heissen Kaffee zum Frühstück?»

Jürgen Ploog: Collage

Ploog ist kein Einzelkämpfer. In seiner Frankfurter Wohnung trifft sich, von der lokalen Szene bizarr und dandyhaft umschwirrt, die Underground-Avantgarde, darunter Jörg Fauser, Carl Weissner, Wolf Wondratschek und Udo Breger. Fauser setzt in seinem dieser Zeit gewidmeten autobiografischen Roman Rohstoff (1984) Jürgen Ploog unter dem Pseudonym Anatol Stern ein Denkmal: «Manchmal ging ich nach Feierabend zu Anatol Stern. Er lebte mit Frau und Tochter im Westend. Stern war im Hauptberuf Pilot, das Schreiben erledigte er nebenher, meistens in den Hotels, in denen die Crews abstiegen, in Karachi, Bombay, Bangkok, New York, Los Angeles, Rio. Seine Frau war außerordentlich attraktiv und gastfreundlich. Es schienen eine Menge Hippies und Junkies in der Wohnung zu verkehren, aber nach und nach bekam ich mit, dass es Literaturstudenten waren, Models, Boutiquenbesitzerinnen, Künstler, Autoren. Alle trugen lange, fließende Gewänder und lange, wehende Haare und waren mit Ketten, Ringen, Tüchern, Zöpfen, Glasperlen behängt. Unentwegt kreisten die Joints und die Teekannen.»

Ploog veröffentlicht nicht nur weitere Bücher, sondern gibt auch die Zeitschrift Gasolin 23 und, zusammen mit Walter Hartmann und Pociao, 1980 den Reader Amok/Koma – Ein Bericht zur Lage (Expanded Media Editions, Bonn) heraus. Das little mag Gasolin 23 erscheint mit einer fingierten ersten Nummer in acht Ausgaben von 1972 bis 1986. Es verdankt seinen Namen der Zusammenführung der Schicksalsziffer 23 mit dem ins Deutsche transponierten Titel des Gedichtbands Gasoline von Gregory Corso (City Lights, San Francisco 1958). Ploog sagt dazu: «Der Aufbruch im Kulturellen übers rein Rhetorische hinaus zeigte sich uns in der Entwicklung von Beat-Literatur & weiterführenden experimentellen Techniken wie Cut-up, wo sich zeitgemäßes Bewusstsein am direktesten & unverfälschtesten niederschlug. Deswegen sahen wir in Arbeiten von Burroughs, Kerouac, Ginsberg, Pélieu & Norse eine Art Leitmotiv. Entwicklungen auf besonderen Gebieten wie etwa dem Trivialen (Raymond Chandler) oder der Story (Charles Bukowski) zeichneten sich ab. Wir behandelten das nicht theoretisch, sondern belegten Einflüsse & Auseinandersetzungen durch eigene ästhetische Versuche, Übersetzungen oder auch Counterscripte. Wir erfanden die Zeitschrift also, ‹um unabhängiges, nicht zensiertes Schreiben am Leben zu erhalten›. Damit ist nicht etwa eine institutionelle Zensur gemeint (die es hier nicht gibt, sonst könnten wir zweifellos nicht veröffentlichen), sondern die Zensur, die der etablierte Begriff von tradierter ‹Kultur› immanent ausübt.»

Aber Ploogs Schreibe unterwandert nicht nur aufgrund expliziter politischer Äusserungen, randständiger Publikationsstrategien oder der anarchischen Schnittmethode die Konventionen. Es sind auch seine Motive, die mit allen moralischen Standards der konventionellen Literatur brechen. Durch das Universum der Ploog-Texte treiben massenhaft politisch inkorrekte Elemente: Pornografisches, Sodomie, Sexismen, Betrug, Diebstahl, Terror und Gewaltverherrlichungen… Doch keines dieser Elemente bleibt ungebrochen. Die Messermethode dekodiert sie, macht ihre Abgründe transparent, konterkariert sie mit wesensfremdem Material oder führt sie in gewitzten variativen Durchläufen, sogenannten Routines, ad absurdum. Schnitt und Falz deterritorialisieren Machtansprüche, Engführungen und Schrecknisse, kappen Erwartungshaltungen. Deshalb sei vor oberflächlichen Lesarten dieser Prosa gewarnt, auch wenn es klar ist, dass wir mit Ploogs Werken eine rotledern eingefasste dunkle Phiole aus dem Giftschrank für die Menschheit in Händen halten, ein wortalchemistisches Abenteuer eines Zöglings aus der Schule des Marquis de Sade, eine schwarzromantische Ausschweifung eines «Weltraumjunkies», eine Zumutung, ein Wagnis, aber auch ein besonderes Album der deutschen Subliteratur, die im Schatten der Gruppe 47 in den Sixties und Seventies zählebig und innovativ Wurzeln schlug – neben Hubert Fichte, Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann auch hier, mitten im Kreis der Gasolin 23.

«Ein alter blaustichiger Porno, der an jeder Stelle reissen kann»… Ploog und seine Komplizen leisteten einen namhaften Beitrag zur Verbreitung «kosmo-orgasmonautischer Produkte», zum Sexualisierungsprozess ihrer Epoche, den Klaus Theweleit in seinen Ghosts-Vorträgen (Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/M 1998) treffend als «Salzen» im Widerspiel von «Salzen & Entsalzen», von Enthemmung und Hemmung, bezeichnet hat. Stimuliert u.a. von Wilhelm Reichs Orgon-Schriften, startete in den 1960er Jahren, feministisch oft unterbelichtet, der Prozess einer selbstbestimmten Befreiungssexualität, der, um an Äusserungen von Peter Sloterdijk anzuknüpfen, den «Orgasmus links» definierte.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf: Gibt es einen anderen deutschsprachigen Autor, der so intensiv wie Jürgen Ploog an den Grenz- und Zentralgebieten des Sexus, an den Perversionen, Fantasien und Gelüsten der Wunschmaschine Mann gearbeitet hat? Einen «Beitrag zur kybernetischen Erotik» nannte Ploog im Untertitel seine lange Erzählung Die Fickmaschine (Expanded Media Editions, Göttingen 1970), und zwei seiner jüngeren Titel lauten ebenso signifikant: Lustspuren oder Die Exekution der Sinne bzw. Kleine Pornografie des Reisens (Moloko Print, Pretzien 2012 bzw. 2017). Ploogs Arbeiten stellen, wie etwa die Bücher der von ihm hoch geschätzten Punk-Ikone Kathy Acker, eine Literatur des Begehrens dar.

In seiner Prosa verfolgt er seit den 1980er Jahren vermehrt Ansätze zu Geschichten – die Schnitte werden weniger hart, dafür geschmeidiger und konziser. Zugleich beginnt er grössere theoretische Essays zu verfassen; deren bekanntester sind die Strassen des Zufalls / Über Burroughs (Lichtspuren, Bern 1988, zweite Auflage Galrev, Berlin 1998); eine Fortsetzung von Ploogs Auseinandersetzung mit Burroughs‘ Arbeiten erschien 2014 in dem kurzlebigen, aber innovativen Luzerner Verlag Der Kollaboratör unter dem Titel Word is Virus / 100 Jahre WSB. Anderseits markiert die selbstreferentielle Schrift Rückkehr ins Coca & Cola-Hinterland (Engstler, Ostheim 1995) einen Höhepunkt in Ploogs theoretischen Arbeiten.

Damit ist der weitere Weg vorgezeichnet. Jürgen Ploogs späte Texte weisen einen Zustand sprachlicher Glätte und Präzision auf, den die früheren Texte selten erreichen (und natürlich auch nicht erreichen wollen). Gesteigert haben sich die passagenweise Schlüssigkeit der Narration sowie Dichte und Stimmigkeit der Atmosphären. «Auf seine Weise ist Ploog ein grosser Stilist», meinte Wolf Wondratschek einmal, und dies tritt wohl selten so klar zutage wie in den Geschichten aus den letzten Jahren, darunter Santa Muerte (Engstler, Ostheim 2011) und Ferne Routen (Moloko Print, Pretzien 2016). Dank der «verlegerischen Grosstat» (Joachim Sartorius) von Moloko Print sind wichtige frühere Werke Ploogs in neuen durchgesehenen und z.T. mit Hör- und Bildmaterial angereicherten Ausgaben wieder erhältlich, bislang Nächte in Amnesien, RadarOrient und Dillinger in Dahlem. Deshalb lässt sich Ploog als Autor heute (wieder) neu entdecken – diese einflussreiche Gegenfigur zum etablierten Betrieb, ohne welche es die deutschsprachige Pop- und Beat-Literatur so nicht gäbe!

Florian Vetsch

Diese Würdigung erschien in der Fabrikzeitung Nr. 354, Zürich, Dezember 2019; Teile daraus erschienen, ediert von Katja Kullmann, in Der Freitag, Berlin, Ausgabe vom 8. Januar 2015.

Die Fabrikzeitung mit weiteren Texten zu Jürgen Ploog von Udo Breger, Katharina Franck, Pablo Haller, Jan Herman, Boris Kerenski, Claire Plassard, Miriam Spies, Michelle Steinbeck und Wolf Wondratschek.

Webseite von Jürgen Ploog

Foto: Ira Cohen (Copyright: Ira Cohen Archives LLC)

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine.

Collage von A. Grünfelder

Glück ist…

… wenn die sichelförmigen Holzplättchen im Tempel richtig fallen
und eine Frage mit Ja oder Nein beantwortet wird.

… wenn zum Ausfüllen eines Formulars die Behörde drei Lesebrillen
mit drei verschiedenen Dioptrien zur Verfügung stellt.

…. wenn einer sein Schwein mit einem Glücksbringer am Halsband
im Park spazieren führt.

… wenn die Erde einmal nicht bebt.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» I

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» II

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung

Die Versuchsanordnung: Tim Krohn trägt ein Parfüm auf den Duftträger auf und riecht ihn viermal: sofort, nach einer Stunde, nach drei und acht Stunden (durchgeführt an den Solothurner Literaturtagen 2019). Jedesmal notiert er ganz ungefiltert, welche Bilder der Duft bei ihm auslösen. Daraus komponiert er anschliessend die “Geschichte des Parfüms”. (Stand 2. Juni 2019)

Die Düfte der DuftBar

© Julia Schöni

Azur
(Andreas Wilhelm)

Morgens um acht aus dem Haus auf die Veranda zu treten und barfuss durch den Garten zu gehen, der mehr Wiese als Garten war, entzückte Monica Settembrini jedesmal von neuem. Sie fühlte das noch taufeuchte Gras, stützte sie sich kurz auf den von Wind und Wetter ausgewaschenen Gartenzaun und genoss den melancholischen Anblick der Weisswäsche. Ihr Nachbar, ein pensionierter höherer Beamter namens Hämmerli, hatte sie tags zuvor wieder einmal auf der Leine vergessen, so dass der Nachtwind sie in komplizierten Mustern zusammengepappt, gefaltet, in sich verklebt hatte. Ihr Bonbon lutschend – seit sie das Rauchen aufgegeben hatte, begann sie den Tag stets mit einem Bonbon –, schlenderte sie weiter in die Garage, nur um sich kurz in die roten Polster eines fahruntauglichen Lamborghini Cabrio zu setzen, den sie zusammen mit dem Haus übernommen hatte. Wenn das Bonbon sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte, lutschte sie an ihrer Perlenkette.
Ihre nächste Etappe war das kleine tropische Gewächshaus, das sie nur betrat, um die Tonanlage einzustellen, die Affengeschrei hören liess und die Pflanzen zu Wachstum animieren sollte.
Manchmal begegnete sie auf dem Weg zurück ins Haus dem alten Gärtner, der ihr die Bäume schnitt, und fast immer hatte er beide Arme voll, entweder mit Werkzeug oder mit Zweigen. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, ihm jemals die Hand geschüttelt zu haben, sondern immer nur das Handgelenk, und jedesmal überraschte sie, wie kühl es war und wie zart seine Haut: Sie erinnerte an Birkenrinde, und einmal konnte Monica nicht widerstehen, sich kurz an ihn zu lehnen, wie man sich an einen Baumstamm lehnt, ganz voller Vertrauen in seine Stärke. Der Gärtner stolperte und fiel hin, mit all seinen Werkzeugen im Arm, und blieb benommen liegen. Monica hatte schon ihren chinesischen Fächer gezückt, um ihm Sauerstoff zuzufächeln – wie unsinnig, draussen in der klaren Morgenluft! –, als er zu lachen begann und etwas zu ihr sagte, das durchaus bedeutungsvoll klang. In der Aufregung hatte nicht zugehört, trotzdem, irgendwie mechanisch, lächelnd genickt, und deshalb getraute sie sich danach nicht nachzufragen. Das Bedauern darüber beschattete seither ihre Begegnungen.

Blask

© Matthias Holm

(Christophe Laudamiel)

Ben hatte zu schnell „nein“ gesagt (er war sechzehn, ein wandelndes Bündel Unsicherheiten und sagte vorsichtshalber immer erst mal „nein“). Nun bereute er es bitter, denn alle fünf Frauen und Mädchen der Gutsfamilie waren mit geschürzten Röcken oder hochgekrempelten Jeans – die mollige Doris sogar nur im Slip – damit beschäftigt, in einem grossen Zuber Trauben zu stampfen, und er war nicht dabei.
Ben Peter Harris (in anderem Zusammenhängen Benjamin P. Harris Junior) kam aus den vereinigten Staaten, aus Macon, Arkansas, um genau zu sein, einem Städtchen in den Südstaaten also, dass von der nahen Luftwaffenbasis Little Rock lebte. Er hatte die Reise nach Europa an einem Schulwettbewerb gewonnen, für vier Monate durfte er als Austauschschüler ins burgundische Mâcon reisen. „Was für ein Kaff“, hatte er gedacht, als er feststellte, dass in Mâcon noch weniger Menschen lebten als in seinem erzlangweiligen Städtchen. Zu allem Überdruss sollte er auf einen Bauernhof ziehen – er, der in einem viktorianischen Holzhaus mit Säulen und einem englischem Rasen gross geworden war, der fast so kurz geschnitten war wie Bens Haar (denn Benjamin P. Harris Senior war Kommandant des Stützpunkts und legte Wert darauf, die Haarlänge seiner Söhne wöchentlich mit einem dafür entwickelten Massstab zu kontrollieren). Doch die Auszeichnung war eine Ehre und musste angenommen werden. Nun war er seit vier Tagen da und mit der französischen Lebensart, wie er sich eingestehen musste, gänzlich überfordert.
„Ben, komm runter“, hatte Silvie an diesem erstaunlich schwülen Septembermorgen vom Vorplatz her gerufen, „heute ist Erntefest!“
Er hatte an Thanksgiving gedacht, an seine Mutter, die den ganzen Tag in der Schürze zwischen Küche und Esszimmer hin und her rannte, an den zähen Truthahn, die Dekoration aus Kürbis, Strohgebinden und buntem Laub aus Plastik, an die geladenen Gäste in Uniform und Zweireiher und die unvermeidliche Rede seines Vaters, die jedes Jahr, seit die Demokraten an der Macht waren, gehässiger wurde. „Nein, danke“, rief er, „da lerne ich lieber.“ Denn er hatte feststellen müssen, dass er in jedem Fach hinterherhinkte.
Silvie hatte leider nicht insistiert, denn eben kamen ihre beiden Tanten an. Charlotte war eher unscheinbar, doch auch nicht übel, grosse Brüste, Anfang zwanzig. Die andere aber, Marie, eine Französischlehrerin, wie er später erfuhr, war in Worten nicht mehr zu beschreiben, lang, schlank, dunkelhaarig, klar, entschieden, keinerlei Getue, wie er es von den amerikanischen Frauen kannte, auch kein Gequäke. Im Gegenteil, sie hatte eine tiefe, warme Stimme, die alles in ihm aufrüttelte, einen – wie er später feststellen sollte – wunderbar lakonischen Humor (den er leider oft nicht begriff) und über all dem eine Wesensart, die jede ihrer Bewegungen zu einem Ereignis machte.

© Lea Frei

Ben beobachtete vom Fenster seines kleinen Mansardenzimmer aus, wie die Frauen sich begrüssten, scherzten und darauf warteten, dass die Männer die ersten Trauben in den Bottich leerten. Der stand in der Scheune, die Scheune wiederum war ans Wohnhaus angebaut. Also schlich Ben sich, sobald sie hineingegangen waren, auf den Estrich – es war ein schlimmes Gefühl, in Socken (denn trotz der Hitze weigerte er sich, barfuss zu gehen) über das unbehandelte Holz zu gehen, das tausend kleine Splisse und Risse hatte, an denen er mit jedem Schritt wie kleben blieb. Den Estrich hatte Silvie ihm am ersten Tag gezeigt, er roch nach jahrhundertealtem Staub und war praktisch leergeräumt, neben einigen hölzernen Gerätschaften, deren Zweck er nicht kannte, sah er nur eine Bananenschachtel mit Fotoalben, ein Goldfischglas mit einem aufgerissenen Tütchen Enzianbonbons darin und ein besticktes Geschirrtuch, auf dem stand: Beurre et pain font joli teint. Durch die Lücken im Riemenboden beobachtete er die Frauen und wunderte sich über so viel Unbefangenheit.
Erst zum Abendessen – und nachdem er sich zweimal von Silvie hatte rufen lassen) – wagte er sich unter die Menschen und murmelte etwas von „schrecklich viel zu büffeln.“ Doch Marie (er hatte nur Augen für Marie) sah keinen Augenblick lang aus, als kaufe sie ihm das ab. Stattdessen lag, wann immer sie ihn ansah (und das tat sie öfters, während sie jemand anderem lauschte), etwas Amüsiertes in ihrem Blick, das Ben unmöglich deuten konnte. Auf seiner Stirn wiederum stand den ganzen Abend über nur der eine Satz geschrieben: „Bitte berühren Sie mich!“ (Denn tatsächlich siezte er Marie, was sie zusätzlich amüsierte.)
Auch wenn Ben nicht begriff, wie er sich in dieser Runde zu benehmen hatte, fühlte er sich – wie er irgendwann erkannte, in einer der Phasen, in denen sich alles um Themen drehte, für die ihm das Vokabular fehlte, und niemand sich mehr die Mühe nahm, ihm zu übersetzen – hier doch weniger einsam als in seinem Elternhaus, in dem vor lauter Prinzipientreue (oder Prinzipienreiterei – wo, fragte er sich, war da die Grenze?) das Flüchtige, Flapsige, Freche und Freie des Menschen verloren ging. So dachte er tatsächlich, denn er war in jenem Alter, in dem man grosse Gedanken liebt. Und er ging noch weiter: Er beschloss, seine Erkenntnis zum Ausgangspunkt des Berichts zu machen, den zu verfassen und bei seiner Heimkehr der Schulleitung vorzulegen er sich verpflichtet hatte.
Gern hätte er Marie von seinen Gedanken erzählt, doch sie sprach ihn lange Zeit nicht an, und als sie es ganz überraschend tat, hatte er sich gerade an einen Film im Internet erinnert, in dem auch eine Französischlehrerin vorkam, dargestellt von einer gewissen Trudy Bitch, die für eine Wohltätigkeitsorganisation von Haus zu Haus ging und Tombolalose verkaufte; zog jemand das richtige Los, durfte er sie auf der Stelle vögeln (und es gab erstaunlich viele solcher Lose). So konnte er nur stottern und hatte Marie so gar nichts Substantielles zu entgegnen.
„Sixteen, what a shitty age, istn’t it?“, sagte sie darauf (vermutlich wollte sie ihn trösten, doch ihm war, als habe sie ihm die Brust durchbohrt), und bald darauf stand sie schon auf. In ihrem kleinen Renault fuhr sie durch die sternenklare Nacht heim in ein Dörfchen namens Digoin, in dem sie, wie er hörte, mit Mann und Kindern lebte. Zum Abschied gab sie allen Küsschen, nur Ben drückte sie kameradschaftlich die Hand (vermutlich hatte sie auch hier nur Rücksicht zeigen wollen).
Der Polstersessel aus abgewetztem Cordsamt, in dem sie vor dem Abendbrot gessessen und ihren Kir getrunken hatte, roch aber noch einige Tage nach ihr, und Ben sass oft darin, wenn ihm – in Socken und mit langen Jeans – zu heiss war, um sich zu seiner Gastfamilie nach draussen zu setzen.

© Eva Meister

Eau radieuse
(Christophe Laudamiel)

Sein erstes erotisches Erlebnis hatte Samuel Ox – den seine Kameraden „Muh“ nannten – mit dreizehn Jahren im Garten seiner Tante Gudrun. Sie hatte sich auf dem letzten Glatteis des Winters den Fuss gebrochen und lag seither im Krankenhaus, denn der Bruch war komplizierter. Damit das Grundstück „im Schuss blieb“, zahlte sie für gewisse Dienste fünf Mark die Stunde. Der Frühling war in diesem Jahr schnell und heftig ausgebrochen, schon Anfang April stand das Gras knöchelhoch. Das sollte Samuel schneiden.
Am Ostermontagmorgen fuhr er mit dem Bähnchen hin, das die Dörfer des Tals verband, und lief vom Bahnhof den Kanal hoch bis zu Tante Gudruns Haus. Dort war schon ein Mädchen an der Arbeit, das er nicht kannte. Es hiess Helga oder Hella, er hatte nicht genau verstanden, denn das Mädchen sprach schneller als die Leute im Tal, und er getraute sich nicht nachzufragen. Jedenfalls war Hella oder Helga – er entschied sich irgendwann für „Helga“, hütete sich aber den ganzen Tag über, sie mit Namen anzusprechen – zu Besuch bei Verwandten, die wiederum Tante Gundruns Nachbarn waren und im Haus nach dem Rechten sahen, und so war sie beauftragt worden, den Gartenzaun zu streichen. Helga war blond, sie hatte einen verstrubbelten Pagenkopf, der aussah, als hätte sie die Haare selbst geschnitten, trug Latzhosen und schob sich alle paar Minuten einen neuen Kaugummi in den Mund, Wrigleys Spearmint, ohne die alten auszuspucken – das machte das Verständnis nicht leichter. Sie war dreizehn wie er. So hatte sie das Gespräch am Gartenzaun eröffnet: „Ich bin dreizehn“, sagte sie, noch ehe sie sich vorstellte, „und du?“ Und wie die meisten gleichaltrigen Mädchen schüchterte sie Samuel ein.
Tante Gudrun hatte noch einen dieser altmodischen Rasenmäher, die mit Muskelkraft betrieben wurden, das Messer war durch eine Übersetzung mit den Rädern verbunden, und am besten liess sich damit mähen, wenn man mit Schwung über den Rasen rannte. Samuel machte gehörigen Krach, das geschnittene Gras flog hoch. „Kleb mir bitte das Gras nicht in die Farbe“, rief Helga, als er beim Wenden kurz den Griff losliess und sich den Schweiss abwischte. Er murmelte etwas Unbestimmtes, das ebenso als Entschuldigung wie als Verteidigung herhalten konnte, dann pulte er ein paar Grasschnipsel von einer frisch gestrichenen Latte und fragte: „Was ist denn das für eine Farbe?“
„Ölfarbe“, antwortete Helga.
Samuel schüttelte den Kopf. „Ich meine, das ist doch kein Weiss. Oder Grün, oder Braun. Das ist doch keine Farbe für einen Zaun.“
„Das ist Milchblau“, sagte Helga. „Gefällt es dir nicht?“
Samuel zuckte mit den Achseln, obwohl ihm die Farbe sogar sehr gefiel. „Milch ist doch nicht blau“, sagte er. „Milch ist weiss.“
„Dünne Milch schon“, antwortete sie. „Jedenfalls heisst diese Farbe hier Milchblau.“
„Du hast dich beschmiert“, stellte er fest, als ihm keine Antwort einfiel.
„Und wenn schon“, sagte sie leichthin, „das ist normal, wenn man einen Zaun streicht.“ Zum Beweis drückte sie den Arm gegen die Latten und zeigte ihm den Abdruck auf der nackten Haut, dann beugte sie sich vor und pinselte die Stelle am Holz wieder über, denn wo sie es berührt hatte, war es matt geworden. „Du hast noch eine ganze Menge zu mähen“, bemerkte sie.
„Wetten, ich bin eher fertig als du?“, rief er, doch Helga hob nur die Schultern und meinte: „Ist mir wurscht, Samuel. Ich will dreissig Mark verdienen, also male ich bis vier Uhr. Bis viertel nach, eine Viertelstunde lang mache ich Pause.“
Samuel schämte sich etwas, dass er nicht so vernünftig gedacht hatte. Nachdem er sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, schob er den Rasenmäher etwas gemächlicher, so flogen auch die Grasschnipsel weniger weit. Aber der feuchte Abschnitt verklebte die Sohlen seiner Turnschuhe, und als er eine Bahn gerecht hatte und den vollen Korb zum Kompost tragen wollte, glitt er auf den Stufen zum Gemüsegarten aus und schlug hin. Er fluchte und verbiss sich knapp die Tränen.
„Weh getan?“, rief Helga vom Zaun her.
„I wo, aber es blutet“, sagte er. „Das Knie.“
„Kleb ein Sauerampferblatt mit Spucke drauf, das hilft“, riet sie ihm.
Samuel wusste nicht, wie Sauerampfer aussah und ob im Garten welcher wuchs, und Helga dachte nicht daran, ihm zu helfen. Also humpelte er in die Küche, tupfte die Wunde mit Küchenkrepp ab (er hatte nur die Haut leicht aufgeschürft), in Tante Gudruns Bad durchsuchte er die Schränke, bis er ein Pflaster fand, dann sammelte er notdürftig den Grasmatsch, den er eingeschleppt hatte, von den Teppichen.
Inzwischen war auch Helga ins Haus gekommen. „Ich mache mir ein Rundstück“, rief sie aus der Küche, „isst du mit?“ Was sie „Rundstück“ nannte, war eine Käsestulle, die assen sie mit Joghurt, sie sass auf dem Küchentisch und liess die Beine baumeln. Er lehnte an der Anrichte und untersuchte mehrmals sein Pflaster, um zu sehen, ob es durchblutete. Sie sprachen nicht viel, denn Samuel war noch nie mit einem Mädchen seines Alters allein gewesen und konnte nur immer denken, dass er sie jetzt eigentlich küssen müsste – ganz besonders, nachdem er zugesehen hatte, wie sie den Joghurtlöffel ableckte. Sie ihrerseits beachtete ihn nicht gross, lieber studierte sie den Abdruck ihrer Zähne in der Stulle und im Joghurt die Aprikosenfasern, und manchmal fuhr sie sich durchs Haar, das so wirr war – oder so verklebt von Farbe, oder beides –, dass sie kaum mit den Fingern durchkam und immer wieder richtig reissen musste. „Aua“, sagte sie dann jeweils, kniff die Augen und rümpfte die Nase, aber sie lachte dazu. Sie war bestimmt überhaupt tapferer als er.
Nach einer Viertelstunde sah sie auf die Uhr, schrieb auf einen Zettel, den sie ihr „Logbuch“ nannte, von wann bis wann sie Pause gemacht hatte, beschwerte den Zettel mit einem Aschbecher und machte sich wieder an die Arbeit. Samuel musste erst noch aufessen, er beroch den Zettel und küsste ihn (danach klebte etwas Joghurt daran), dann ging auch er zurück in den Garten, er humpelte kaum noch.

© Mirta Lepori

Die Sonne berührte die Spitzen der Haselhecke entlang dem Kanal, als er rings ums Haus gemäht hatte, alles Gras gerecht und die Geräte versorgt. Helga entdeckte er schliesslich hinter dem Haus auf dem Treppchen, das zur Küchenlaube führte. Dort wärmte die Sonne noch. Sie roch an einer Orange, dann klebte sie den Kaugummi hinters Ohr, biss die Schale auf und schälte sie. „Der Samuel“, sagte sie, als sie ihn sah, in sonderbar verträumtem Tonfall, „auch schon fertig?“ Er schob die Hände in die hinteren Hosentaschen und stellte sich vor sie, um sich irgendwie zu verabschieden oder sie doch noch zu küssen oder – idealerweise – sich von ihr sagen zu lassen, wie toll er sei und wie sie ihr Leben lang auf ihn gewartet habe und wie unbedingt sie ihn heiraten wolle, so wie er sich das den ganzen Nachmittag über ausgemalt hatte. Stattdessen bot sie ihm von ihrer Orange an, aus lauter Verlegenheit lehnte er ab und bereute es, als er sah, wie sie herzhaft in eine der Hälften biss und der Saft ihr über Kinn und Hände rann. „Im April so saftige Apfelsinen“, sagte sie. „das gibt’s nur in Sizilien. Ich kenne sogar den Baum, auf dem sie gewachsen ist, jedenfalls gibt es Fotos von mir und dem Baum. Mein Papa arbeitet mit einem Sizilianer, und wir waren mal dort. Magst du echt nicht?“
Samuel schüttelte den Kopf, obwohl er natürlich wollte, und plötzlich dachte er, dass er womöglich unhöflich war, daher kramte er ein paar Ostereier hervor, die er am Morgen in die Hosentasche gesteckt hatte. Sie waren inzwischen nicht mehr wirklich Eier. „Willst du?“, fragte er trotzdem.
„Danke, ich mag Schokolade nicht besonders“, sagte sie und schob den Kaugummi wieder in den Mund. Samuel war noch damit beschäftigt, die Alufolie aufzupulen und mit den Zähnen die Pampe abzuschaben, als Helga aufstand, die Hände am Hosenlatz abwischte und ihm die rechte hinhielt. Hastig leckte er die Finger ab und rieb sie am Hemdsaum trocken, dann schlug er möglichst männlich ein.
„Es war nett, dich kennenzulernen“, sagte sie und klang plötzlich sehr erwachsen. „Und grüss deine Tante, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt. Ich bin dann schon wieder in Hamburg.“ Er hatte die Schokolade noch nicht von den Zähnen gelutscht, um den Mund aufzumachen, da war sie schon über den Zaun gestiegen – es gelang ihr tatsächlich, ohne ihn zu berühren – und hinter dem leuchtend gelben, wild wuchernden Forsythiendickicht verschwunden, das das Nachbarshaus verdeckte.
Samuel Ox träumte über ein Jahr lang jede Nacht von ihr, im Schlafen und im Wachen. Er wagte nie, nach ihr zu fragen, doch selbst als Erwachsener wurde er noch rot, wenn er den Namen Hella oder Helga hörte.

© Julia Trachsel

«Wenn Düfte erzählen: Geschichten gehen durch die Nase» (When Fragrances Tell: Olfactory Storytelling) is part of the project «Smelling more, smelling differently: Scent as Cultural Practice» conducted by Bern University of Applied Sciences and funded by the Swiss National Science Foundatio

Dazu gibt es auch ein Filmchen: https://www.youtube.com/watch?v=xCfrInadAW4

© Susanne Schleyer

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er der Schriftstellerin Micha Friemel und seinen Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Zuletzt erschienen die Alpensage „Der See der Seelen“ und der Krimi „Endstation Engadin“ (beide im Kampa Verlag). Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Maj Doerig, Lea Frei, Matthias Holm, Mirta Lepori, Eva Meister, Julia Schoeni und Julia Trachsel sind StudentInnen Illustration Fiction an der Hochschule Luzern.

Beitragsbild © Maj Doerig und Lea Frei