Margaret Atwood «Die steinerne Matratze», berlin Verlag

Die grosse kanadische Schriftstellerin legt mit «Die steinerne Matratze» einen Erzählband vor, der unter ihrem Namen nicht überrascht. In gekonnt starker Manier, mit dem sicheren Gefühl für die Abgründe des menschlichen Seins und der Weisheit einer Grossen, die weiss, dass alle Erkenntnis auf Missverständnissen beruht, zeigt Margaret Atwood in neun starken Erzählungen, warum ihr ein wichtiger Platz unter den Grossen der Literatur gebührt.

Als ich vor fast 30 Jahren mit «Report der Magd» zum ersten Mal einen Roman der Kanadierin las, war ich tief beeindruckt. In ihrem düsteren Roman, der die Geschichte einer Gebärmagd erzählt, malt die Autorin eine dunkle Vision einer Zukunft, die wie in der Gegenwart mit der aufgeblähten Angst des neuen us-amerikanischen Präsidenten fast klaustrophobische Gefühle erzeugt. Eine Frau, die einem Kommandanten zugewiesen, seine Kinder austragen soll, erinnert sich an eine Welt, in der das Lesen noch nicht verboten war, in der Alte und Ungehorsame noch nicht in radioaktiv verseuchte Kolonien abgeschoben wurden, in der eine Frau noch nicht Besitz einer Nation werden konnte.

In ihren neuen Erzählungen schmeichelt Margaret Atwood den Menschen nicht. Die ersten drei Erzählungen bilden eine Einheit, bilden abgesetzt ein Ganzes. Sie erzählen aus drei verschiedenen Perspektiven drei verschiedene Leben, die einst, Jahrzehnte zuvor in einem Lokal in Toronto zur schreibenden Zunft gehörten. Der eine ernsthaft mit Gedichten, die andere belächelt mit ihren Fantasy-Geschichten, einem selbst erfundenen Universum, in dem sich Jahrzehnte später ganze Generationen tummeln. Drei Leben, die aus unterschiedlichen Gründen auseinanderdrifteten, drei verschiedene Wahrheiten. Drei Erzählungen darüber, wie unterschiedlich ganz bestimmte Schnitt- und Wendepunkte aus der Sicht verschiedener Existenzen gewichtet werden können, dass Wahrnehmungen nach Innen weit weg von Objektivität sein können, wie schlecht scheinbar verheilte Verletzungen vernarben und alte Wunden wieder aufgerissen werden können.

Margaret Atwood öffnet das Verborgene, Eingeschlossene.

Ist man die oder der, der oder die, die man von Aussen zu sein scheint? In einer Familie wächst ein Mädchen auf, eine lusus naturae, eine Laune der Natur. Aber ausgerechnet für eine Laune findet sich in der Welt der Menschen kein Platz. Was sich wie ein behaartes Monster immer in den Schatten zurückzieht, wird schlussendlich mit Gewalt hervorgerissen, um zu lodern wie ein Leuchtfeuer. Von einem «Antiquitätenhändler», der Möbel zweifelhafter Herkunft zusammen mit einem Partner auf Alt aufmotzt, um sie Nichtsahnenden zu verkaufen. Der Nachlässe aufkauft und eines Tages mit einem Schlüssel eine Lagereinheit öffnet, um ein ungebrauchtes, jungfräuliches Brautkleid zu finden, Kisten ungeöffneter Champagnerflaschen, eine noch nicht angeschnittene, riesige Torte und unter Frischhaltfolien, ganz hinten in der Lagereinheit der mumifizierte Bräutigam. Eine Geschichte um Abgründe der menschlichen Seele, der Gier nach mehr, wo selbst Gauner zu Opfern werden, bis zuletzt im Glauben, sie seien Herr und Meister der Situation. Und nicht zuletzt die titelgebende Erzählung «Die steinerne Matratze», eine Erzählung, die die Autorin auf einer Schiffsreise in die Arktis begonnen und den Mitreisenden zur Unterhaltung vorgelesen hatte, eine «Rachegeschichte» um den perfekten Mord. Von einer Frau, die eigentlich den Alltag zurücklassen will, auf einer Schiffsreise in die Kälte aber einen Mann aus ihrer Vergangenheit trifft, jenen Bob, der sie als junges Mädchen schwängerte und ebenso schnell und gedankenlos fallenliess.

Foto: Jean Malek

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr «Report der Magd» wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Pen-Pinter-Preis. Margaret Atwood lebt in Toronto.

Monika Baark lebt seit 1998 als freie Übersetzerin für englischsprachige Literatur und Kinderbücher in Berlin. Bis 2013 veröffentlichte sie unter dem Namen Monika Schmalz. Geboren 1968 in Tel Aviv. Aufgewachsen in Toronto, New York, Moskau, Bonn, Antwerpen. Studium der Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Gastsemester an der Wesleyan University. 1995 Abschluss mit M.A. Monika Baark übersetzte viele Roman von Margart Atwood.

Mitte April erscheint bei Random House Margaret Atwoods neuster Roman «Hexensaat».

Titelbild: Sandra Kottonau

Véronique Olmi «Der Mann in der fünften Reihe», Kunstmann

Als Véronique Olmi 2002 beim Kunstmann Verlag mit «Meeresrand» ihren ersten Roman auf Deutsch veröffentlichte, hinterliess die Geschichte abgrundtiefer Verzweiflung zumindest bei mir einen unauslöschlichen Eindruck. So tief, dass auch alle ihre folgenden Romane, die sich alle um das Thema «Verzweiflung in der Liebe» drehen, zu meinen Begleitern wurden.

«Meeresrand» erzählte die Geschichte einer jungen, verzweifelten Mutter, die mit ihren beiden Kindern ans Meer fährt, um ihnen wenigstens einmal das Erlebnis zu gönnen, einmal eine Reise, einmal die Kirmes besuchen, einmal, um dann ihrem und dem Leben der Kinder, ihrer unsäglichen Verzweiflung ein Ende zu setzen. Für manche, denen ich das Buch empfahl, war die Lektüre damals unerträglich. Es gibt Themen, die so sehr an der Seele rühren, die so schmerzhaft auf den Nerv drücken, dass das Lesen schwer wird. Véronique Olmi will aber genau das; der Sentimentalität entgegnen, ohne die Liebe zu verleugnen. Es gibt sie, die Liebe. Nur erzählt Véronique Olmi nicht von der verklärten Liebe. Sie erzählt, was Verzweiflung und Schmerz, die untrennbar zu Liebe gehören, mit jenen, die sich ihr ergeben, anrichten können. Sie erkundet die Schmerzpunkte. Ganz anders als all jene, die mit rührseeligem Blick Liebesgeschichten erzählen, um einer dumpfen, unstillbaren Sehnsucht zu genügen. Véronique Olmi erzählt ohne jede Distanz, im Gefühlswirrwarr dieser Frau, unmittelbar, als wäre man Zeuge dieses inneren Desasters. Ein literarisches Abenteuer, das nur einer Könnerin gelingen kann. Ein verstörend packender Roman!

Auch in ihrem neusten Roman «Der Mann in der fünften Reihe» schreibt Véronique Olmi über die Verzweiflung. Eine Schauspielerin sitzt nachts einsam auf einer Bank im Gare de l’Est, hinauskatapultiert aus ihrem Leben, das sich hinundherquälte vom Leben zur Bühne und wieder zurück. Véronique Olmi schreibt nicht nur so, als wäre sie die Frau in ihrer Verzweiflung. Véronique Olmi schafft es, dass ich mit ihr, der Verzweifelten, mit Nelly auf die Bühne trete, zu spielen beginne und mit dem Blick auf diesen einen Mann in der fünften Reihe genau spüre, wie die Situation abzurutschen beginnt, wie der Mann «die Vorstellung verrät». Ich nehme mit eigenem Schrecken am inneren Zerfall dieser Frau teil, an deren Implosion. Nelly hatte sich vor einem halben Jahr von diesem Mann getrennt. Seinen Namen über Monate verleugnet, ohne ihn je zu vergessen. Nelly erzählt, zuerst von ihrem Schmerz, dem «Sterben» auf der Bühne. Dann zögerlich von diesem Mann, von Paul, den sie bei Freunden kennen gelernt hatte, dem verheirateten Mann. Und alles zu vergessen, was ich wusste. Alles, was wir beide wussten, in unserem Alter. Was wir an Ernüchterung, Ängsten und Scheitern angesammelt hatten. Wie sie sich in ihrer Liebe zerstörten, vorsätzlich, ohne je an ein «gutes Ende» zu glauben. Véronique Olmi schildert nicht die Liebesgeschichte, sondern, die Verheerungen, die diese Liebe anrichtet, die Leidenschaft, der Zwang, sich vereinen zu müssen.

Véronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt in Paris. In Frankreich wurde sie, als eine der bekanntesten Dramatikerinnen des Landes, für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt und werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt. Ihre Romane stehen seit Jahren auf den Bestsellerlisten. In Deutschland erschien von ihr zuletzt «Nacht der Wahrheit» (Kunstmann 2015).

Bild: Sandra Kottonau

Grossen Namen, z. B. Judith Hermann an den 1. Weinfelder Buchtagen 2017

Zuerst war da die Zusage der Schriftstellerin Judith Hermann. Diese machte Mut und es wurden daraus die 1. Weinfelder Buchtage 2017. Katharina Alder, Organisatorin und leidenschaftliche Buchhändlerin in Weinfelden, machte das eine schon klar: «Die 1. Weinfelder Buchtage werden nicht die letzten sein!»

Für Katharina Alder sind Bücher mehr als eine Verpflichtung. Erst recht in einer Welt, die sich immer mehr vom Fremden distanzieren, am liebsten mit hohen Mauern abschotten will. Wer liest, muss neugierig sein, auch auf das Fremde. Für Katharina Alder sind Bücher ein Teil ihrer grossen Leidenschaft, die sich nicht nur in ihrer Buchhandlung Klappentext mitten in Weinfelden zeigt. Sie will sie hinaustragen, zusammen mit einem Team, zusammen mit Autorinnen und Autoren wie dem Urweinfelder Peter Stamm und den weit gereisten Judith Hermann, Takis Würger, Lukas Hartmann, Christoph Poschenrieder, Tim Krohn und anderen.

Judith Hermann reiste mit dem Zug von Berlin nach Weinfelden, weil auf dem Berliner Flughafen das Bodenpersonal streikte. Damit wurde die Reise länger als geplant, beinahe episch. Aber sie war da, hinter einem kleinen Tisch im Rampenlicht, im edlen Rathaussaal zu Weinfelden und machte schon einmal klar, nur lesen wolle sie nicht, es müsse ein Gespräch sein. Nur schon weil es Geschichten sind, die man nicht einfach hintereinander vorlesen kann. Zu allem entschlossen, selbst in der tiefsten Provinz, die sich dann aber erstaunlich aufmerksam, engagiert und präzise gab, als Judith Hermann nach der ersten Geschichte den Blick ins Publikum richtete und auf Fragen wartete.

Judith Hermann erzählte vom Schreiben, wie das Private ins Schreiben versenkt wird. Wie sie beim Schreiben von Erzählungen oft nicht weiss, wo genau ihr Schreiben hinführt. Und selbst wenn die Geschichten geschrieben und veröffentlicht sind, bleibt ein Rest Geheimnis, die Unsicherheit selbst bei ihr, wo genau der Kern einer Erzählung ist. Geschichten führen die Autorin. Die Figuren selbst sind es, die die Geschichten zum Leben bringen und damit viel Geheimnis zurücklassen. Sie bereite sich auf das Schreiben vor wie auf eine Expedition. Der schönste Moment des Schreibens aber sei der Schwebezustand, während dem man als Schreibende ganz allein mit dem dem Text ist, der Geschichte und den Personen ganz nah. Erzählungen wissen nichts mehr als ihre Leser, würden dem Leser viel mehr überlassen als ein Roman, der in der Regel abgeschlossen ist. Judith Hermann lässt den Leser gerne allein, weil sie weiss, dass nur ein übrig gebliebenes Rätsel den Leser zum Mitdenken zwingen kann.

Schriftsteller sind beneidenswert. Wer sonst kann alte Bekannte einfach so zu sich zurückholen? Wer kann Menschen, seien sie nun real oder fiktiv, so nah wie ein Schriftsteller kommen? Wer kann Erinnerungen so lustvoll erfinden? Wer kann wie ein Schriftsteller ungelöst Heikles, Rätselhaftes mit Schreiben bannen, ohne verstehen zu müssen, was genau passiert?

Judith Hermann zwang zum Nachdenken. Und das verdanke ich den mutigen Organisatoren der 1. Weinfelder Buchtage!

Webseite der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden

Katja Lange-Müller «Drehtür», Kiwi

Eigentlich hatte ein japanisches Sprichwort als Motto dem neuen Roman «Drehtür» von Katja Lange-Müller vorausstehen sollen: «Lass dir aus dem Wasser helfen oder du wirst ertrinken», sagte der freundliche Affe und setzte den Fisch in einen Baum.

Asta Arnold strandet auf dem Münchner Flughafen Franz Josef Strauss vor einer Drehtür, nach Jahrzehnten Pflegearbeit weggemobbt von ihren «Kollegen» an der letzten Stelle in einem Krankenhaus in Managua. Zum Warten gezwungen, weil ihr Koffer nicht mit ihr den Zielflughafen erreichte. Sie steht da, raucht eine Zigarette nach der anderen aus der Duty-free-Zigarettenstange, betrachtet die Gesichter der Wartenden und Reisenden und lässt sich wegtragen von Geschichten aus ihrem Leben als Krankenschwester.

Katja Lange-Müller verriet in einem Interview mit dem ungekrönten Literaturkritiker-König des Deutschen Fernsehens Denis Scheck, dass noch vor dem Beginn des Schreibens ein immer wiederkehrender Traum stand. Sie, die selbst lange Jahre Krankenschwester war, sei spät nachts in der Psychiatrischen Klinik an der Arbeit und wisse nicht mehr, ob sie bereits gekündigt oder einen noch gültigen Arbeitsvertrag habe. Glücklicherweise sei sie jedes Mal schweissgebadet aufgewacht, aber immer mit der Frage, was aus ihr geworden wäre, wäre sie Krankenschwester geblieben und nicht in die Schriftstellerei geflohen.

Asta, die gestrandete Krankenschwester, eigentlich schon im Pensionsalter, erinnert sich. Zum Beispiel an die ehemalige Kollegin im rumänischen Temeswar, die nebenbei leidlich schrieb und mit einer Geschichte über eine Nähmaschinistin an der Frankfurter Buchmesse einer indischen Autorin auffiel. Tamara reiste eingeladen nach Kalkutta, wo ihre Geschichte aber nicht in einer Botschaft oder vor einer schicken Zuhörerschaft Gefallen fand, sondern in einem riesigen Wellblechverhau einer Menge von Kochbenzin verunstalteter Frauen vorgetragen wurde. Zurück in Deutschland sollte sie eine Schiffsladung Nähmaschinen organisieren. Man missbrauchte sie für Missbrauchte. Sie hat helfen müssen. Aber wem? Den versehrten Frauen dort oder sich selbst? Asta erinnert sich an den koreanischen Koch, dem sie von seinen Zahnschmerzen zerfressen mit Alkohol mehr als bloss helfen wollte und am Morgen danach von einer mehrköpfigen offiziellen Delegation des grossen Führers Kim Il-sung und der gesamten Koreanischen Demokratischen Volksrepublik einen Blumenstrauss überreicht bekam. Sie wollte helfen. Aber wem?

Katja Lange-Müller erzählt vom Dilemma des Helfens. Wir wollen helfen und erwarten Dankbarkeit. Den Geholfenen erscheint das Helfen aber meist als Ausgeliefert-sein, eine Machtdemonstration, eine Abhängigkeit, aus der man sich möglichst schnell herausschälen will. Niemand begibt sich freiwillig in absolutes Ausgeliefert-sein. Warum jemand hilft, ob aus omnipotentem Grössenwahn oder atheistisch-humanitärer Gesinnung oder aufs Paradies spekulierender, also nicht ganz so selbstloser christlicher Nächstenliebe, ist unwichtig; dass er nicht wegschaut, sondern die Ärmel hochkrempelt, reicht fürs erste, lässt sie Mutter Teresa sagen, die sich im Flugzeug zum nächsten starken Auftritt tragen lässt.

Katja Lange-Müller erzählt gekonnt Geschichten. Aber was sie erzählt, lässt nachdenken, lässt nicht locker. Genauso die Geschichte, als Asta einst mit einem Mann ins Kino ging und dort einen Film über den Prozess von vier KZ-Ärzten schaute. Ärzte, die grauenhafte Versuche an Häftlingen unternahmen. Drei wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet und einer kam wider Willen mit dem Freispruch davon, weil er trotz mehrmaliger Versuche nicht fähig war, eine todbringende Injektion zu spritzen.

Wo entfernt sich Hilfe von ehrlicher Nächstenliebe? Wo beginnt sie sich zu prostituieren? Katja Lange-Müller zwingt zur Auseinandersetzung. Und das fantastisch geschrieben!

Katja Lange-Müller, geboren 1951 in Berlin-Lichtenberg. Neun Jahre Schule an der 19. Oberschule Berlin-Friedrichshain. Relegation wegen »unsozialistischen Verhaltens«. 1986 erste Veröffentlichung eines eigenen Buches: «Wehleid – wie im Leben.» bei S. Fischer Verlag”. 1986 Ingeborg Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt. Im Juni 2001 erhält Katja Lange-Müller für ihren Roman «Die Letzten» Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei den Preis der SWR-Bestenliste. Das Werk steht von Oktober bis Dezember 2000 auf der Bestenliste des Südwestrundfunks. Im Jahr 2012/2013 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, erhielt den Kleist-Preis und war 2013/2014 Stipendiatin der Kulturakademie Tarabaya Istanbul. Im Sommersemester 2016 bekam sie die Gastdozentur für Poetik an der Frankfurter Goethe-Universität.

Zora del Buono in Amriswil, «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt»

Zora del Buono beehrte Amriswil, las an der St. Gallerstrasse aus ihrem neusten Roman «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» und ihrem Baumgigantenbuch «Das Leben der Mächtigen» vor. Eine Matinee vor ausgesuchtem Publikum, an einem wunderschönen Sonntag. Genuss pur!

«Einen besseren Start in den Frühling könnte man sich gar nicht wünschen: Eine bezaubernde Fahrt durch den Thurgau, eine handschriftlich verzierte Mauer, ein Haus, dekoriert wie eine Wundertüte, gefüllt mit netten Leuten, die zu aufmerksamen Zuhörern werden. Dazu noch Traubensaft, Wein und Käse. Und als Krönung jede Menge gute Gespräche. Das war ein wirklich schöner Anlass. Vielen Dank.» Zora del Buono

mit der Schriftstellerin Marianne Künzle

«Manchmal, je nach Tagesverfassung, befällt einen die Schüchternheit, in sehr kleinem Rahmen unter Menschen die man nicht kennt. Nicht bei Irmgard und Gallus, wo Gespräche entstehen, Begegnungen – einfach so!» Marianne Künzle

mit dem Musiker und Komponisten Daniel Schneider

Nico Bleutge «verdecktes gelände» Gedichte, C. H. Beck

Nico Bleutge, 1972 in München geboren, liest aus seinem neusten, vierten Gedichtband «nachts leuchten die schiffe» an den 9. St. Galler Literaturtagen WORTLAUT –  am Samstag, den 1. April, um 15 Uhr im «Raum für Literatur» in der Hauptpost St. Gallen.

Nico Bleutge verdichtet Aussichten und Einsichten, Landschaften, Blicke nach Aussen und nach Innen, zeichnet und malt mit Worten, was der eilige Betrachter übersieht, gibt dem Gesehenen Gestalt, Gehalt. Wenn ich seine Gedichte lese (Leider erscheint der neuste Band erst kurz vor den Literaturtagen in St. Gallen.), die so schöne Titel tragen wie «klare konturen», «fallstreifen» und «verdecktes gelände», entsteht in meinem Innern Textur, Struktur, wird Sehen und Wahrnehmung mehr als nur optisches Schauen. Es ist, als würde ich mit allen Sinnen «schauen». In Nico Bleutges Gedichten begegne ich den Eindrücken eines Dichters, der anders sieht, so als ob er versonnen in der Gegend stehen und mich mit seinem Blick in eine Richtung zu sehen zwingen würde. Dafür braucht Nico Bleutge nichts Spektakuläres.  Er setzt nicht einmal Filter ein, sieht einfach und mehrfach, eben mit dem besonderen Blick. Seine Art des Sehens ist weit mehr als Beobachten, Protokollieren oder Festhalten. Er berührt. Nicht nur das Gesehene, sondern mich als Leser. «Platte auf Platte fülle ich für die Zukunft.», als hätte er Angst, dass sich eines Tages niemand mehr die Zeit nehmen würde wie er zu sehen. Nico Bleutge als Archivar? Auch das trifft bei Weitem nicht. In verschiedensten Brennweiten, aber immer mit möglichst grosser Nähe, schenkt der Dichter mir seine Sicht auf die Dinge, jenes Sehen, das ich so leicht vergesse.

2 Beispiele:

hafenansichten. das licht zieht sich abends
in die boote zurück, in die schmalen beleuchtungsköpfe

der einfahrtsbojen. mücken schlagen ans glas
eine bewegung nach innen, die schwächer wird

die angeln lehnen am fenster

(aus «klare konturen»)

 

mischt sich

es ist ein anderes licht, ein anderes schauen
ein rest von helligkeit, der manchmal abends
spät durch die scheiben fällt oder beim aufwachen
mit einer wimper kurz das auge trifft. ein
ziehen in den gliedern, frösteln fast, woher
es kommt –  wir wissens nicht
, doch manche
bilder geben nach und haben weite: luft
und sicht. so dass ich tief in mit die augen
dunkeln sehe
klar noch im vergehn
das schaben, eine kinderhand, die farbe
nah am ohr, das weicht, verlässt
die frühen tage, schiebt sich weiter
vor. das glühen in den achseln, fieber-
gefühl, die wechselnden schatten der haut
das mischt sich, manchmal, noch ins schauen
während die bilder, nachtschicht im genick,
nur langsam ineinanderfliessen
und von den fenstern kommt das licht
verändert in den raum, und sinkt schon, sinkt
zurück.

(aus «fallstreifen»)

Nico Bleutge lebt in Berlin. Für sein Schreiben wurde er vielfach ausgezeich­net, u. a. mit dem Erich-Fried-Preis 2012, dem Christian Wagner-Preis 2014, dem Eichendorff- Literaturpreis (2015), dem Alfred-Kerr-Preis (2016) Casa Baldi-Stipendium der Deutschen Akademie Rom (2015) und dem Stipendium der Kulturakademie Tarabya, Istanbul.

literaturblatt.ch dankt dem Verlag C.H. Beck für die ausdrückliche Genehmigung zur Veröffentlichung der beiden Gedichte aus den Werken von Nico Bleutge.

Konrad Pauli «Ein Romantiker in nüchterner Zeit», Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele

10 Erzählungen.
Von einem Maler, einsam mit seiner Staffelei, seinen Leinwänden wie starrenden Vorwürfen. Er ins Alter gekommen, wissend, dass nicht Genie den Pinsel führte, mit der Angst, im Alter gar das Talent von einst zu verlieren. Vom Schmerz darüber, feststellen zu müssen, dass nichts bleibt, am wenigsten der Erfolg und das Zuhause in erfüllter Zufriedenheit.
Vom Siebenundsiebzigjährigen im falschen Tram, der lieber hätte, alles um ihn herum hätte sich geirrt und würde ihm in seinem Durcheinander recht geben.
Vom jungen Geologen, der, angestachelt von seinem unbändigen Tatendrang und der Lust sich seine momentane Freiheit vor Beginn einer Festanstellung nicht nehmen zu lassen, den beschilderten Pfad im Wald über dem Hölloch verlässt und ob seiner Gedankenlosigkeit und Naivität in Panik gerät.
Vom alten, schon lange verheirateten Paar, das völlig in ihrer wattierten Zweisamkeit eingerichtet, Winterwochen in Seefeld verbringt. Mit einem Mal dämmert ihm, dass es das gewesen sein könnte, nichts mehr ist, wie es einmal war, alles Knistern, jedes Abenteuer vergessen, der Ofen aus.
Von der Frau, die alles hat, von scheinbarer Sicherheit am meisten, der mit einem Mal alles fehlt, selbst die Möglichkeit an einer Aufgabe zu scheitern, etwas zu lernen. Aber nur einen kurzen Moment, ein paar Tage  Unsicherheit, denn sie kehrt zurück in den Schoss des trägen Sattseins.
Von Menschen, die an Ränder oder darüber hinaus geraten.

Konrad Pauli erzählt aus der Nähe. Ich spüre den Schmerz über eine Welt, die für vieles keinen Platz, keinen Raum mehr zu haben scheint. Konrad Paulis Blick ist zurückgewandt, genauso seine Sprache; melodiös, aber irgendwie nicht mehr von dieser Welt, vielleicht sogar antiquiert. Aber der Ton passt zu seinen Erzählungen, denen alles Reisserische fehlt. Kontad Pauli schildert Porträts in Sepia, ausgeschnitten in die Gegenwart, irgendwie abgehoben vom fremd gewordenen Hintergrund. Kondrad Pauli sammelt und schildert Menschen und ihr aus den Fugen geratenes Dasein, fein beobachtet, mit viel Empathie. Erzählungen, die sich deutlichvon dem unterscheiden, was sonst in grossen Verlagsprogrammen Platz findet, wo Experimentelles, Schräges, Wildes, manchmal kaum Fassbares einen Verlag findet.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen «Ein Heldenleben», «Seit jeher unterwegs», «Marcos Blicke in Seeland» und «Weitergehen».

Das 35. Literaturblatt ist fertig gezeichnet und geschrieben!

Ein Interview mit mir selbst:

Seit ein paar Jahren gibt es diese Literaturblätter. Was bewegt dich dazu, mit so viel Aufwand ein Blatt für das gute Buch zu gestalten? Am Anfang war immer wieder die Frage nach einem guten Buch, einem Lesetipp, Lesefutter für Ferien. Zudem gab es einen Kurs, bei dem ich am Schluss schriftlich Empfehlungen abgab, auch damals schon vier Bücher. Aber man nahm meine Empfehlungen bloss zur Kenntnis, selbst die Tatsache, dass ich die Rezensionen nicht bloss aus dem Netz kopierte. Altpapier. Dann zeichnte und schrieb ich mein erstes Literaturblatt und die Reaktionen waren umwerfend.

Wie gestaltest du diese Blätter? Sind sie verkleinert? Die Blätter sind im Format A4 und Originalgrösse. Ich zeichne und schreibe immer mit schwarzem Kugelschreiber, kann mir Fehler und Korrekturen nur ganz begrenzt leisten. Es kam auch schon vor, dass ich ziemlich weit gereifte Blätter noch einmal beginnen musste. Ich zeichne und schreibe gerne. Und ich bin ein haptischer Mensch. So wie elektronische Bücher für mein Genussverständnis undenkbar sind, bleibt ein Schriftstück und eine Zeichnung das ganz Spezielle.

Wie lange arbeitest du an einem solchen Blatt? Immerhin sind es mittlerweile 35 an der Zahl. Die Arbeit beginnt mit der Auswahl der vier Bücher, den Rezensionen. Auf meinen Blog schaffen es Bücher, die mir in irgendeiner Weise gefallen, die ich nicht einfach weglege. Bücher auf meine Literaturblätter schaffen es nur, wenn sie mir ganz besonders ans Herz wachsen, wenn ich glaube, dass sie beinahe jede und jeder gelesen haben muss. Dann brutzelt in meinem Kopf, was und wie ich gestalte, welche Zeichnung aufs neue Literaturblatt gesetzt werden soll. Dann die Suche nach dem Sujet – und dann in meiner Bibliothek am Schreibtisch das konzentrierte Arbeiten mit dem Kugelschreiber. Fertig ist die Arbeit noch lange nicht. Aber es vergehen viele glückliche, intensive Stunden, manchmal über Wochen.

Warum Kugelschreiber? Warum muss die Schrift so klein sein. Unbedingt lesefreundlich erscheint mir ein solches Blatt nicht. Es gab einen schweizer Schriftsteller, Redaktor und Zeichner, der fast alle seine Skizzen und Zeichnungen mit Kugelschreiber fertigte. Vor Jahrzehnten entdeckte ich ihn für mich, begann ihn zu lieben und zu verehren. Arnold Kübler war auch jahrelang Redaktor der Kulturzeitschrift DU, die einst eine ganz andere Bedeutung hatte, als sie es heute neben all den digitalen Medien hat. Arnold Kübler machte Reisen, besuchte Ausstellungen. Er fotografierte kaum, zeichnete stets. Zeichnen als eine Art des Schauens. Und die Schrift ist meine Schrift. Zugegeben ein bisschen angelehnt an die Mikrogramme von Robert Walser. So wie Arnold Kübler war und ist Robert Walser einer der Grossen in meiner Bibliothek, auch im unendlich grossen Regal in meinem Herzen.

35 Literaturblätter. Wie lange soll die Reihe werden? Was bewegt dich jedes Mal, mit einem neuen Blatt zu beginnen? Alle, die einmal mit einer Reihe begonnen haben, wissen, wie schwierig es ist aufzuhören. Das wissen SammlerInnen aller Couleur. Die Literaturblätter sind zu einem «Konzeptkunstwerk» geworden. Sie haben längst eine Eigendynamik bekommen, sind zu etwas geworden, was es sonst kaum mehr gibt. Allein die Tatsache, dass ich sie alle per Post mit ein paar persönlichen Worten auf der Rückseite verschicke, gibt den Blättern den Wert eines Briefes. Und wer bekommt heute noch einen Brief? Ich bekomme Fotos von Menschen, die die Literaturblätter in ihrer Wohnung aufhängen, sogar eingerahmt. Vielleicht sind sie etwas von einer Welt, die unterzugehen droht. Alles bunt, digital, perfekt, billig, schnell… vielleicht ein notwendiger Kontrapunkt zu meinen Rezensionen im Netz. Die analogen Literaturblätter und die digitale Form unter literaturblatt.ch erreichen ganz verschiedene Lesegruppen, geben meiner Arbeit etwas Spezielles.

Wer sie abonnieren will; Mehr Informationen unter «Freude der Literaturblätter»!

 

 

St. Galler Literaturtage WORTLAUT, 30.3 bis 2.4.2017

Es ist angerichtet! Frédéric Zwicker liest am Donnerstag, den 30. März mit seinem Roman «Hier können sie im Kreis gehen» um 19.30 Uhr als Prologlesung im Kulturforum Amriswil. Am Freitag die offizielle «Eröffnung» in der Hauptpost St. Gallen, im Raum für Literatur, mit Max Küng und seinem ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochenen Roman «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» – und Samstag/Sonntag mit vielen weiteren literarischen und künstlerischen Höhepunkten.

6 1/2 Jahre dauerte die Entstehungsgeschichte des Erstlings von Frédéric Zwicker «Hier können sie im Kreis gehen». Bis sich mit dem Verlag «Nagel & Kimche» ein renommierter Verlag fand, der das Abenteuer zusammen mit dem Autor einging. Frédéric Zwicker erzählt die Geschichte vom 91jährigen Johannes Kehr, einem Misanthrop, der sich im Pflegeheim hinter einer vorgetäuschten Demenz versteckt. Kehr hat genug von all den Oberflächlichkeiten, ist eigentlich bloss zu feige, seinem Leben ein abruptes Ende zu setzen. So ist das Ende ein langes Ende, ein letztes unbestimmtes Kapitel hinter einem Vorhang, in einem Versteck. Frédéric Zwicker zeigt sich erstaunt darüber, wie gut sich das Buch vermarkten lässt. Mag sein, dass sie humorvoll ist. Aber die Geschichte ist Frédéric Zwickers ganzer Ernst. 2004 absolvierte er einen mehrmonatigen Zivildienst in einem Pflegeheim. Nachdem er aber immer ganuer wusste wovon er schreiben wollte, schnupperte er noch einmal undercover in einer Demenzabteilung. Johannes Kehrs Biografie ist eine tragische; eine schwierige Kindheit, gross geworden mit vielen Enttäuschungen. Demenz vorspielend erinnert er sich an seine Geschichte durch ein ganzes Jahrhundert, geboren am Tag, als in der Schweiz der letzte Bär erschossen wurde, verbittert und geschlagen vom Schicksal. Schonungslos und doch respektvoll geschrieben bestätigt von Reaktionen von Fachleuten und überzeugt davon, ein wichtiges Thema angesprochen zu haben. Jeder Dritte muss im Alter mit einer Demenz rechnen. Folglich müsste das Thema genug Relevanz für jeden besitzen. Eigentlich unmöglich, sich diesem Thema zu verschliessen.

Kommen sie zur Lesung im Kulturforum Amriswil! Ein gutes Buch, ein interessanter Autor, der etwas zu erzählen hat und ein Gespräch über ein Thema, dass sie bewegen wird. Moderation: Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch!

Neben grossen Namen wie Jonas Lüscher, Sabine Gruber, Jaroslav Rudiš, Nora Gomringer und den Heimspielen vom Slamer Renato Kaiser und Salzburger-Stier-Preisträger Manuel Stahlberger lassen sich auch Entdeckungen machen. Zum Beispiel der Lyriker Nico Bleutge mit seinem bei C. H. Beck frisch erschienenen Gedichtband «nacht leuchten die schiffe» und die junge Österreicherin Anna Widenholzer mit ihrem zweiten Roman «Weshalb die Herren Seesterne tragen», der der Frage nachgeht, was richtig und was falsch ist. Ein Roman, der von der Presse und Kritik begeistert aufgenommen wurde.

Neben traditionellen Lesungen, Büchertischen, Gesprächen über die Grenzen des Schreibens, Poetry Slam, Spoken-Word-Lyrik zeigen auch Zeichnerinnen und Zeichner ihre Werke; Kati Rickenbach ich und Daniel Bosshart, Flurin Von Salis, Anna Haifisch und Nicolas Mahler.

Seien sie dabei! «Die Stadt feiert Wortlaut. Ein literarisches Fest, das seinesgleichen sucht und mit der neunten Austragung bereits weit über die Region hinausstrahlt.»

China Miéville «Dieser Volkszähler», Liebeskind

Irgendwo in den Bergen liegt ein Dorf an einem Fluss, ein Brückendorf. Irgendwann in der Zukunft spielt die Geschichte eines Schlüsselmachers und seines Sohnes, nicht die Geschichte einer Liebe, sondern des gegenseitigen Misstrauens. China Miéville, ein Engländer aus Norwich, schrieb einen Roman zwischen Traum und Wirklichkeit, eine Geschichte aus einer anderen, fremden Zeit. Eine Geschichte in starken, dunklen, ungeheuren Bildern.

Ich lese kaum Fantasy Romane, mag das Abgewandte von der Realität nicht. Vor einigen Jahren waren es höchstens die Romane von Patrick Rothfuss, die mir ein Freund zu lesen empfahl. Aber auch jene entführten mich in eine mir fremde Unwirklichkeit. China Miéville schreibt aber nicht die Sorte Romane. Sie spielen nicht in weltfremden Ländern, vergessenen Zeiten. Es gibt keine Zwerge, Zauberer, Orks und Elfen. «Dieser Volkszähler» erzählt eine Geschichte in unbestimmter Zukunft, in einer Zeit, in der sich vieles von der Gegenwart unterscheidet, unsere Gegenwart kaum noch eine Erinnerung ist, vieles vergessen scheint. Ein Mann, von Beruf Schlüsselmacher, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn hoch über dem Brückendorf weit ab in einem Haus am Hang. Man sucht den Schlüsselmacher auf, bittet um ganz spezielle Schlüssel, die der Handwerker in seiner Werkstatt im Erdgeschoss seines Hauses fertigt. Schlüssel, die nicht unbedingt Türen öffnen sollen. «Seine Kunden kamen aus dem Dorf zu ihm hinauf und baten um Dinge, um die Menschen üblicherweise bitten; um Liebe, Geld, darum, etwas zu öffnen, die Zukunft zu erfahren, Tiere zu heilen, Sachen zu reparieren, stärker zu werden, jemanden zu verletzen oder zu retten, zu fliegen -, und er machte ihnen einen Schlüssel dafür.»

Die Mutter ist still, der Vater noch mehr, das Dorf weit weg, Besucher selten, Besuch in der Stadt um Fluss auch. Bis der Sohn eines Tages in einem Alp aus Angst und Schrecken hinunter ins Dorf flüchtet und schluchzt, sein Vater habe seine Mutter im Streit erschlagen. Für eine Weile bleibt der Junge im Ort, bei den Kindern ohne Eltern, geführt vom grossen Mädchen Somma, den Kindern, die in Ruinen hausen, den Brückenkindern, die Fledermäuse fangen und essen.

Die Geschichte spitzt sich zu, ungemein atmosphärisch erzählt, bis dieser Volkszähler zu klären versucht, was dem Jungen unerklärbar bleiben wird. Der Junge muss zurück zu seinem Vater, einem Mann, dem er zu tiefst misstraut, der seine Einsamkeit noch viel grösser werden lässt. Ein Roman wie ein Traum, schlafwandlerisch erzählt. Während ich las, stiegen Bilder auf, die sich wie düstere, in dunkles Licht getauchte Theaterkulissen in meine Erinnerung brannten.

China Miéville schreibt Fantasy anders. Auch viel konzentrierter, denn seine Novelle hat gerade einmal 172 Seiten. Im Gegensatz zu den meist episch angelegten Fantasy-Wälzern, die einem am liebsten nie mehr entlassen würden.

China Miéville, 1972 in Norwich geboren, gilt als einer der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen Fantastik. Er studierte Sozialanthropologie in Cambridge und Politikwissenschaft an der London School of Economics. Sein Debütroman «König Ratte» erschien 1998. Für seinen Roman «Perdido Street Station» erhielt er 2001 den Arthur C. Clarke Award sowie den British Fantasy Award. Mit seinem Roman «Die Stadt & Die Stadt» gewann er 2010 neben dem Arthur C. Clarke Award auch den Hugo Award und den World Fantasy Award. In Deutschland wurde er drei Mal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. China Miéville kandidierte 2001 für die Internationale Sozialistische Allianz bei den britischen Unterhauswahlen, bis 2013 war er aktives Mitglied der Socialist Workers Party. Er lebt und arbeitet in London.

Bild: Sandra Kottonau