Das 36. Literaturblatt entsteht.

Lesen Sie Bücher?

Stehen Sie manchmal in einer Buchhandlung vor den Tischen und Regalen und wissen nicht, für welches Buch Sie sich entscheiden sollen?

Haben Sie Lust, sich auf ein Abenteuer, ein literarisches Abenteuer einzulassen?

Möchten Sie wirklich gute Bücher lesen? Bücher, die sie bewegen? Bücher, die bleiben? Bücher, die nachhallen?

Freuen Sie sich über handgeschriebene Post mit einer Briefmarke? Für einmal kein Prospekt, keine Werbung und schon gar keine Rechnung?

Immer vier überzeugende Bücher, literarische Leckerbissen, unabhängig ausgesucht, pointiert beschrieben.

Die Literaturblätter werden auch nach Deutschland, Österreich und Frankreich versandt!

Neugierig? Auf dieser Webseite finden Sie eine Übersicht über alle bisher erschienen Literaturblätter.

Dann fassen Sie Mut und bestellen das 36. Literaturblatt. Sie erhalten es in einem A5 Couvert per Post zugestellt, vorerst kostenlos. Wenn Ihnen das Literaturblatt gefällt, freut mich ein Abonnement.

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Gallus Frei-Tomic

Lukas Bärfuss «Hagard», Wallstein

Lukas Bärfuss wäre nicht Lukas Bärfuss, wenn sein Roman «Hagard» einfach nur gefallen würde. Er lässt mich verunsichert, leicht verstört zurück. Er besticht durch Schärfe und Brisanz, durch Sprache und Vielschichtigkeit. Lukas Bärfuss ist mit «Hagard» ganz Lukas Bärfuss!

«Ich weiss alles, und begreife nichts.»

Ein Mann sieht im Gewimmel der Menschen am Ausgang eines Kaufhauses am Bellevue ein Paar pflaumenblaue Ballerinas, nicht mehr, aber genug, um aus einer Laune heraus dieser einen Frau mit diesen Schuhen an den Füssen zu folgen. Er ein Mann, eingespannt in Verpflichtungen. Sie eine Frau, wahrscheinlich Mitte zwanzig, ohne dass er ihr Gesicht hätte erkennen können. Er sieht sie als Zeichen, folgt ihr zu Fuss und im Zug durch die ganze Stadt, weg von seinem Leben, weggerissen aus seiner Normalität, aus einer Laune heraus, dem Reflex folgend, sich sicher, für einmal das Richtige zu tun. Im Wissen darum, dass alles, jede wirkliche Begegnung die Missachtung einer Grenze verlangt, eine Grenze, die es zu übertreten gilt. Nie sonst käme es zum ersten Kuss, zu einer Berührung. Nie gingen Türen auf, keine Lebensgeschichte fände ihren Anfang. Eigentlich war da ein Geschäft um ein Stück Land, ein Treffen mit einem ihm unbekannten Mann. Aber auf die paar Zehntausend ist er nicht angewiesen. Wohl aber auf dieses Zeichen, dieses Ziehen, das von der Unbekannten ausgeht. Sogar seine teure Armbanduhr fällt aus dem Takt. Er verliert nicht nur die Zeit, lässt sich einnehmen von seinem Wahn, dem reissenden Sog der Sehnsucht, der Lust sich entziehen zu lassen, weg von seinen Pflichten, dem Geschäft, dem Trott, den Gewohnheiten, den Resten seiner Familie. Plötzlich scheint sich seine Gegenwart zu klären, alles eine Folge unmissverständlicher Zeichen, eine Folge von Botschaften, deren Spur er um keinen Preis verlieren will. Während sie, die Verfolgte, die Erahnte, immer mehr Form annimmt, verliert er die seine, löst er sich langsam auf, wird zu seiner Umgebung, von der er sich ein Leben lang mit Bedacht abzugrenzen versuchte. So wie sich der Wissenschaftler auf seiner Reise ins Ungewisse darum bemüht, den Verstand nicht zu verlieren auf der Suche nach den bisher verborgenen Wundern.

Zugegeben, Lukas Bärfuss dritter Roman «Hagard» ist ein seltsamer Roman. Keine Geschichte, die das Leben zu erklären versucht, nicht einmal das Chaos, in dem sich der Mensch in der Gegenwart suhlt. Während lange Strecken des Romans den Weg und den Wahn des Mannes beschreiben, sind die ersten Seiten genau das, was man von Lukas Bärfuss erwartet: ein zuweilen beissender, aber stets erfrischender Blick auf die Gegenwart, die Dekadenz der Gleichgültigkeit und Ignoranz, ein scharfsinniger Kommentar auf das, was für Lukas Bärfuss «den Untergang der Welt» bedeutet.

Lukas Bärfuss liest am 26. Mai an den Solothurner Literaturtagen und beteiligt sich am Samstag, den 27. Mai an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Demokratie in der Krise?» mit Ruth Dällenbach (Denknetz) und dem belgischen Schriftsteller, Historiker und Archäologen David an Reybrouck .

Foto: Frederic Meyer

Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun/Schweiz ist Dramatiker, Romancier und Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in etwa zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich.

Titelbild: Sandra Kottonau

Olga Grjasnowa «Gott ist nicht schüchtern», Aufbau

Ich las Olga Grjasnowas neuen Roman «Gott ist nicht schüchtern» mit heissem Kopf, einem fiebrigen Gefühl, als täte ich etwas Unrechtes. Was Olga Grjasnowa beschreibt, tut weh. Dieses Buch im Garten auf einer Liege zu lesen, ist beinahe unerträglich. Aber Olga Grjasnowa klagt nicht an, sondern beschreibt mit messerschafem Blick.

Soll Literatur bloss unterhalten? Hat Literatur eine Aufgabe? Muss sie wirken? Wer mit einem Buch ausspannen will, wer die harte Wirklichkeit vergessen will, wer austreten, ausschwärmen, abdriften will, der darf den Roman der jungen Olga Grjasnowa nicht lesen. «Gott ist nicht schüchtern» fährt ein, lässt nicht locker, nistet sich mit seinen intensiven Bildern in meinem Bewusstsein ein.

Olga Grjasnowa beschreibt eine Flucht, die Not, eine Heimat, ein Zuhause, ein Land, ein Leben, Menschen verlassen zu müssen, um in der Fremde neu beginnen zu können, immer in der Hoffnung, dereinst zurückkehren zu können. Olga Grjasnowa floh als Jugendliche selbst 1996 zusammen mit ihren Eltern aus Aserbaidschan und lebt heute mit ihrem Mann in Berlin. Ihr Mann floh aus Syrien und leitet das Exil-Ensemble des Gorki-Theaters in Berlin. Als in Damaskus der Arabische Frühling durchzubrechen schien, floh ihr Mann aus Syrien. Aus vielen Gesprächen mit ihrem Mann, mit Freunden und direkt Betroffenen baute sie ihre Geschichte, die Leben von Vertriebenen und einem Land, das zerrissen ist, in dem kaum jemand den immer brutaler werdenden Konflikt, den Krieg gegen ein willkürlich agierendes Regime kommen sah, über Menschen, die einst ein ganz normales Leben führten und sich mit einem Mal verloren sehen. Olga Grjasnowa recherchierte vor Ort, an unerträglichen Orten wie der türkischen Küstenstadt Izmir, in der das ganze Elend auf eine Reise weg aus dem Trauma hofft.

Olga Grjasnowa verwebt die Geschichten von Amal und Hammoudi. Amal wächst in Damaskus als Tochter eines reichen Vaters auf, Hammoudi in der Provinz. Amal wird Schauspielerin und träumt von der grossen Karriere, Hammoudi steht nach einem äusserst erfolgfreichen Studium der Medizin in Paris zusammen mit seiner Verlobten kurz davor. Bis in den Wirren des Arabischen Frühlings nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Olga Grjasnowa schildert eindringlich, nie voyeuristisch. Ich spüre ihre Betroffenheit ebenso wie ihre Hilflosigkeit. Olga Grjasnowa gibt den Abertausenden, die sich nach Europa retten, ein Gesicht, ohne zu beschönigen, nie mit dem Mahnfinger. Ein wichtiges Stück Literatur!

Foto: René Fietzek

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman «Der Russe ist einer, der Birken liebt» wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2014 „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. Beide Romane erschienen beim Hanser Verlag und wurden für die Bühne dramatisiert. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Olga Grjasnowa liest an den Solothurner Literaturtagen vom 26. bis 28. Mai 2017 aus ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern». Am Freitag, den 26. Mai beteiligt sich Olga Grjasnowa zusammen dem Schriftsteller Jonas Lüscher («Kraft», C.H. Beck) und dem SRF-Korrespondent Peter Voegeli an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Macht der Geschichten». Moderiert wird die Diskussion von Hans Ulrich Probst, SRF-Literaturredaktor.

Urs Faes «Halt auf Verlangen», Suhrkamp

«Er fürchtete nicht das Leiden, den Tod, er war nicht einmal verliebt in das Leben, aber er hatte ein tiefes Begehren gespürt» steht als Zitat des amerikanisch-britischen Schriftstellers Henry James dem neuen Buch von Urs Faes vorangestellt. Kein Roman, ein Fahrtenbuch, ein Logbuch, eine literarische Auseinandersetzung mit einer Diagnose, die den Tod bedeuten kann. Ein intimer Blick, der nur deshalb gelingt, weil nichts an dem sehr persönlichen Buch rührselig, mitleiderregend oder exhibitionistisch ist, nichts.

Urs Faes ist einer der Grossen der Schweizer Literatur, kein Szenenautor und seit Jahrzehnten Hausautor bei Suhrkamp. Schon in seinen frühesten Werken erzählte Urs Faes von Lebens- und Beziehungskrisen. Einmal zeitlich ganz nah wie im grossen Roman «Paarbildung», ein ander Mal in zeitlicher Entfernung wie im letzten Roman «Sommer in Brandenburg» auf einem brandenburgischen Landgut während des Nationalsozialismus, wo junge Juden aud das Leben im Kibbuz vorbereitet wurden. Eine zarte Liebesgeschichte unter unsäglicher Bedrohung. Kein Wunder, wenn sich Urs Faes nach der Diagnose Krebs mit der eigenen, gesundheitlichen Krise auseinandersetzt.

Urs Faes «Fahrtenbuch» «Halt auf Verlangen» beschreibt Fahrten mit der Strassenbahn, mit Zürichs Tram von seinem Zuhause in die Klinik zur Bestrahlung, manchmal aber auch eine Station weiter bis zu den Friedhöfen. Er beginnt zu schreiben wie damals als 12jähriger in ein Heft, nicht grösser als ein Schulheft. Anfangs wohl noch ohne Ziel, ohne Absicht, dann immer mehr als Auseinandersetzung mit sich, der Krankheit, der Menschen aus der Vergangenheit, dem, was im Angesicht des möglichen Sterbens übrig bleibt. Mit dem, was aus der eigenen Geschichte hervorbricht. Wonach man sich sehnt, wenn man aus der Selbstverständlichkeit hinausrutscht. Urs Faes schrieb schon als Knabe, als sein Vater für lange Zeit verschwand und als gebrochener, kranker Mann zurückkehrte. Er schrieb vom kleinen Bruder, der anders war als alle andern, im Heim war und immer nach dem Vater fragte. Er schrieb von der Mutter, die in Arbeit und Sorge zu ertrinken drohte. Urs Faes schrieb damals als Zurückgelassener. Schreiben war Notwendigkeit, die einzige Möglichkeit, den Halt nicht zu verlieren. Genau wie jetzt mit seiner Krankheit, dem Krebs, als ihn ein Freund ermuntert: Schreib auf. Urs Faes schreibt von den behutsamen, heimlichen Anfängen des Schreibens, als es nach dem Tod seines kleinen Bruders und der langen Krankheit seines Vaters Trost und Flucht war. Er schrieb, «weil nichts in dieser Stille war». Wie die Not des Schreibens zum Zwang wurde und verstehen lässt, dass Urs Faes mit der Krankheit, die den Tod bedeuten kann, das Schreiben unmöglich sein lassen kann.

Warum ein solches Buch lesen? Warum sich dem aussetzen? Es geht kaum um die Krankheit, nie um das ausgesteckte Feld auf dem Unterbauch, das bestrahlt werden soll. Es geht darum, was mit einem Menschen geschieht, der wohl mit den Augen sieht, aber mit dem Schreiben wahrnimmt. Urs Faes, seiner Endlichkeit vorgeführt, sieht sich mit Erinnerungen konfrontiert, die wie Zeigefinger aus dem Meer von Unverdautem und Verdrängtem auftauchen. Bis zum Friedhof, wo unter Steinen Geschichten begraben liegen, dem Vergessen übergeben. Etwas, dem Urs Faes mit seinem Fahrtenbuch entgegenschreibt.

Urs Faes Sprache schmeichelt nicht, umgarnt einem aber doch. Sie ist Farbe, Geruch und Stimmung. Ohne Pathos, nicht einmal in den Schmerz der Krankheit getaucht. Sie ist ehrlich, unmittelbar. Gefühle werden über Sprache zelebriert, etwas, was der Autor in seinen Romanen seit je beweist; ein untrügliches Gespür für Klang und Musik. Urs Faes spielt mehrstimmig, ein ganzes Orchester an Klangfarben anstimmend. Grosses Können,

Urs Faes liest aus seinem Fahrtenbuch «Halt auf Verlangen» an den Solothurner Literaturtagen 2017, vom 25. bis 28. Mai. Ich freue mich!

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.

Webseite des Autors

Titelfoto: «Inhalation» ©️ Philipp Frei

Pascale Kramer: Schweizer Grand Prix Literatur


Das Bundesamt für Kultur verleiht im Bereich Literatur jährlich einen Schweizer Grand Prix Literatur, um in der Schweiz und im Ausland auf das Werk einer bestimmten Autorin aufmerksam zu machen. Die Jury zeichnete Pascale Kramer für ihr Schaffen aus, eine Autorin, die sich als scharfe
Beobachterin mit grosser Sensibilität beweist. An den Solothurner Literaturtagen wird Pascale Kramer an einer Hommage ganz besonders gefeiert – mit Recht!

Pascale Kramer schreibt mit analytischem Blick, beschreibt die Einsamkeit derer, die jeden Halt, jede Sicherheit verlieren. Nicht nur die Perspektive, aus der die Autorin schreibt, auch die Sprache machen die Romane zu erschütternden Enthüllungen, was Verlorenheit und Verzweiflung anrichten können. Ihr letzter auf Deutsch erschienener Roman «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» erlangte viel Aufmerksamkeit und wurde vielfach ausgezeichnet. Trotzdem gilt die Autorin im deutschsprachigen Raum noch immer als Geheimtipp.

Alissa, eben Mutter geworden, eingezogen mit ihrem Mann in eine Wohnung mit Pool, findet den Tritt im neuen Leben nicht. Obwohl sie mit dem Mann verheiratet ist, der ihr Traummann gewesen war. Schachteln und Kisten bleiben unausgepackt, kein Tag ohne Kampf mit sich selbst und der Welt. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr entglitten – und auch das Mutterglück scheint abhanden gekommen zu sein. Und als ihr Mann nach der Rückkehr eines Freundes aus dem Irakkrieg, der ihn als Versehrten ausspuckt, den Stand verliert und sich ihre Mutter von ihrem Vater scheiden lässt, beginnt sich die Spirale von Dramatik und Tempo zu drehen. Die Katastrophe scheint unausweichlich.

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman «Die Lebenden» (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Eben neu erschienen ist im Rotpunktverlag in der Edition Blau Pascale Kramers «Die Lebenden». neu erscheint im Juli ihr Roman «Autopsie des Vaters».

Titelbild: Sandra Kottonau

Christoph Hein «Trutz», Suhrkamp

Christoph Heins neuer Roman „Trutz“ ist auf dem Schutzumschlag als „Jahrhundertroman“ angepriesen. Ist er das? Gemessen an der Zeitspanne, die der Roman beschreibt, mit Sicherheit. Aber auch sprachlich und in seiner Erzählweise? Christoph Hein, der seine ersten Werke noch in der DDR veröffentlichte, schrieb die Geschichte von Menschen, die der Sturm der Geschichte durch ein Jahrhundert peitscht. Er zeichnet ein Stück Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts von Norddeutschland über Berlin und Moskau bis ins tiefste Sibirien, das mir bewusst macht, wie sehr Wohlstand und politische Stabilität zur Selbstverständlichkeit wird. Geschichte rutscht aus dem Bewusstsein weg, erst recht heute, wo Ausblenden und Verleugnen zum politischen Programm werden kann.

Christoph Hein erzählt die Geschichte von Rainer Trutz und seinem Sohn Maykl, von Waldemar Gejm und dessen Sohn Rem, von Deutschland und Russland, in denen durch die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts kein Stein auf dem andern bleibt. Und von der Mnemotik, einer vergessenen Wissenschaft gegen das Vergessen.
Rainer Trutz entflieht der elterlichen Engstirnigkeit auf dem norddeutsche Hof ins von der Wirtschaftskrise gebeutelte Berlin, einer Stadt zwischen den Weltkriegen. Seine Hoffnungen, dort schnell eine Arbeit und einen Platz zu finden, verflüchtigen sich angesichts der grassiereden Armut und Arbeitslosigkeit. Erst durch einen Unfall, den „Zusammenstoss“ mit dem Auto einer jungen Frau, findet er einen Job als freier Mitarbeiter in Zeitungen und Zeitschriften, auch einen Platz im „Schwimmerbassin“ des „Romantischen Cafés“, wo sich die früheren Stammgäste des „Café Grössenwahn“ treffen; Schriftsteller, Maler, Journalisten, Schauspieler, Kreti und Pleti, Männlein und Weiblein der Berliner Szene. Und als dann auch noch sein erster Roman erscheint und er gemeinsam mit Gudrun eine kleine Wohnung bezieht, scheint er wider Erwarten schnell dem Ziel seiner Träume näher gekommen zu sein.
Aber Rainer stolpert. Ein erstes Mal mit seinem Roman, der seiner Frivolität wegen den moralischen Vorstellungen der aufstrebenden braunen Bewegung missfällt. Und sein zweiter Stolperer ist sein zweiter Roman, der in der Presse als „Wühlarbeit einer roten Ratte“ diffamiert wird. Rainer gerät unversehens zwischen die Fronten, muss fliehen, zuerst aus seiner Wohnung, später ganz aus Deutschland, mangels Alternativen ins sowjetische Moskau. Gudrun arbeitet nicht mehr als Gewerkschaftssekretärin, sondern an den Maschinen einer Schokoladenfabrik. Rainer mit seinen zwei linken Händen in der „Brigade Karl Marx“, die mit andern das Vorzeigeprojekt Metro in der sowjetischen Hauptstadt zu Ehren Stalins vorantreiben soll. Rainer überlebt die moskauer Jahre nur, weil er Wladimir Gejm kennenlernt, einen hochdekorierten Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft an der Lomonosow-Universität. Ein Gelehrter, der mit seiner Wissenschaft der Mnemotik, der Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung (Keine Erfindung des Autors!) Neuland betritt und darin Rainers Sohn Maykl und seinen eigenen Sohn Rem zu Probanden dieser neuen Technik macht. Zwei Familien wachsen zusammen. Für wenige Jahre bedeutet es das grosse Glück der beiden Kinder Maykl und Rem, die wie Brüder zueinander aufwachsen.
Aber die Mühlen der Geschichte drehen unberechenbar weiter. Manchmal ändert die Drehrichtung vollkommen. In den Wirren der verschiedenen russischen Säuberungsaktionen, in denen sich nicht nur Stalin, Generalsekretär und Diktator der Sowjetunion von scheinbaren Konkurrenten befreit und damit Tausende der Willkür und Denunziation zum Opfer fallen, wird auch Rainer Trutz wegen einer Buchbesprechung in seiner Berliner Zeit zu fünf Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Lager verurteilt. Ebenso Professor Gejm, dessen Lehrstuhl aufgelöst, alle Manuskripte und Unterlagen vernichtet werden, um ihn zuerst in die Garderobe eines Moskauer Theaters und später in eine Besserungsanstalt, wo er Bäume fällen soll.
Familien werden auseinandergerissen, Leben zerbrochen. Christoph Hein erzählt das Panorama zweier Familien über fast hundert Jahre. Eine Geschichte, von der Christoph Hein vor dem ersten Kapitel erklärt: „In diesen Roman geriet ich aus Versehen, oder viel mehr durch Bequemlichkeit.“ Eine Geschichte, die erzählt werden musste!
Ein Buch, das ich atemlos bis zur letzten Seite las. Ein Buch, das mich bewegt, wie alle Bücher des grossen Autors, der erst im Jahr 2016 mit „Glückskind mit Vater“ (ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen) bei Suhrkamp einen tief beeindruckenden Roman veröffentlichte. Christoph Hein fesselt jene genauso, die nach historischen Stoffen dürsten, wie jene, die sich gerne über grosse Erzählbögen von Geschichten mitreissen lassen. Ich spüre Christoph Heins Pflicht, sich mit den Wirrungen der unmittelbaren Geschichte auseinanderzusetzen, mit Verantwortung für die Gegenwart, ohne dass er mit einem Mahnfinger drohen muss.
„Trutz“ ist grosse deutsche Literatur!

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Jens Eisel «Bevor es hell wird», Piper


Nach dem Buch «Hafenlichter», Jens Eisels Erstling mit Erzählungen, legt der Autor bei Piper mit seinem ersten Roman «Bevor es hell wird» nach. Und nachdem ich den Autor anfragte, ob er für ein paar Fragen bereit wäre, hier das Interview:

Lieber Herr Eisel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Roman! Ein Roman, der mich zuerst kritisch stimmte, dem ich mich auf den ersten Seiten zuerst annähern musste, dessen Themen ich zu Beginn als allzu emotional aufgeladen empfand. Alex kommt aus dem Knast zurück in sein altes Leben, zurück zu einer Vergangenheit, die er mit all seinen Veränderungen zuerst zurückgewinnen muss. Alex kannte seinen Vater nicht, verlor seine Mutter durch Krankheit, als er noch zur Schule ging und zuletzt auch noch seinen einzigen Bruder Dennis. Ihr Roman hätte genügend Potenzial, um mich nach der Lektüre mit Zweifel zurückzulassen. Hat da ein Autor nicht allzu deftig in der Schicksalsschüssel den Stoff schaumig gerührt, das Unglück kulminieren lassen, um mich an der Stange zu halten? Wurde da nicht zwischendurch der Gang an der Grenze zum Kitsch allzu sehr ausgereizt, um meine Empathie anzuheizen? Ihr Roman tat es nicht! Ihr Roman «Bevor es hell wird» machte mich glücklich. Glücklich, weil er mir ehrlich gegenübertritt, weil seine Figuren authentisch sind, weil ich sie erkenne und weil die gewählte Sprache mit Alex› Welt übereinstimmt. Herr Eisel, da gab es die Idee zur Geschichte. Gab es auch den Typus einer Sprache, die sein musste, um Ihre Geschichte zu erzählen? Schon während des Schreibens war mir bewusst, dass der Kitsch-Vorwurf sicher kommen würde. Ein Grund, warum ich amerikanische Erzähler schätze, ist, dass sie keine Angst vor großen Gefühlen haben. Seltsamerweise wird einem Denis Johnson oder einem Richard Ford das in Besprechungen im deutschen Feuilleton nicht vorgeworfen. Sobald sich allerdings ein deutscher Autor einem Stoff emotionaler nähert, läuten sofort überall die Alarmglocken. Und dennoch, ich wollte diese Geschichte so erzählen – und ich werde es auch weiterhin tun. Auch die Sprache ist bewusst gewählt. Ein überbordender Stil würde schlicht und einfach nicht zu dem Erzähler passen.

Nachdem Alex mit 14 zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Hamburg zog, waren es die wenigen Monate der Hoffnung. Endlich, nach einer langen Reihe von Umzügen, schien Familienglück auf ihrer Seite zu sein. Alex› Mutter fand einen Job und Dennis einen Ausbildungsplatz im «Krähennest», einem kleinen Restaurant. Und weil Sommerferien waren, streifte Alex in Hamburg herum, freundete sich mit Carmen, einer älteren Kinobetreiberin an, bei der er ebenso ein kleines Stück Zuhause fand wie bei Norman, seinem neu gewonnenen Freund und seines Vaters Autowerkstatt. Norman, ein von seiner Mutter Verlassener und Alex, ein von seinem Vater Verlassener. Alles schien damals zu stimmen. Und als sie dann auch noch zum ersten Mal Familienferien am Meer in einem Zirkuswagen in den Dünen antreten konnten, schien sich das Glück wirklich festzusetzen. Aber ausgerechnet bei dieser Reise kündigte sich an, was sich ein paar Monate später zur grossen Katastrophe auswachsen sollte. Alex› Mutter war krank. Misstrauen Sie dem Glück? Sie beschreiben das Leben einer Familie, die zuvor schon kaum die Nase aus den Schattenseiten des Lebens brachte. Sie als Autor konzentrieren derart viel Unglück, dass Alex später gar Angst davor bekommt, Menschen zu nahe zu kommen, Angst, sein Unglück könne überspringen. Suchen Sie in Ihrem Roman die Grenzen des Unglücks? Wie viel Unglück «braucht» der Mensch, um daran zu zerbrechen, so wie Alex Bruder Dennis? Suchen Sie nach Antworten darauf, warum es die einen schaffen, die andern nicht? Tut Ihnen das Unglück Ihres eigenen Personals während des Schreibens nicht weh? Bevor ich mich ganz dem Schreiben widmete, habe ich ein paar Jahre bei der Diakonie St. Pauli gearbeitet. Ich habe dort hauptsächlich Alkoholiker und Junkies betreut. Einige der Menschen, um die ich mich kümmerte, waren kaum älter als ich. Was all diese Menschen verband, war, dass es an irgendeiner Stelle in ihrem Leben Ereignisse gegeben hatte, die sie aus der Bahn geworfen haben – der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod des Partners. Einige dieser Menschen wurden von mehreren Schicksalsschlägen hintereinander ereilt, waren immer wieder auf die Beine gekommen, bis sie – eine vergleichsweise harmlose Begebenheit – völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Es ist nicht unbedingt das Unglück, was mich beschäftigt. Vielmehr ist es die Frage, was uns zu dem macht, was wir sind. Ich fühle mich meinen Figuren sehr verbunden, und sicher, ich leide auch mit ihnen.

Auch wenn ihr Roman in einem Prolog im Jahr 2004 beginnt und keinen Zweifel darüber lässt, dass da einer tief gefallen ist, spielt ihr Roman grösstenteils auf zwei Zeitebenen. 1996/97, als Alex 14 ist und sein Leben, das zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter noch nie auf der Siegerstrasse spielte, im Moment scheinbarer Entspannung endgültig zu schlingern beginnt. Und 2006, zehn Jahre später, nach zwei Jahren im Knast, von Alex, der sein Leben zu verstehen versucht. Zwei Ereignisse, zwei Geheimnisse sind es, die mich als Leser bis zum Schluss durch ihren Roman peitschen, die die Spannung fast unerträglich werden lassen: Warum musste Alex in den Knast? Und warum gibt es nicht nur ein Grab seiner Mutter, sondern auch eines seines grossen Bruders?
Ich hatte einmal einen Nachbar, der, reich und eitel geworden durch seine Geschäfte, allen Ernstes behauptete, jeder müsse sich nur ordentlich anstrengen, dann würde sich Glück und Erfolg automatisch einstellen. Was würden Sie meinem Nachbarn entgegnen? Es wäre schön, wenn Ihr Nachbar recht hätte. Leider habe ich schon allzu oft das Gegenteil erlebt.

Sie waren mit ihrem Roman auf der Leipziger Buchmesse. Gab es da einen besonderen Moment? An einem der Abende habe ich im Deutschen Literaturinstitut gelesen. Es war das erste Mal, dass ich dort war, seit ich mein Studium abgeschlossen habe, und es war sehr schön in der alten Villa aus meinem Buch zu lesen.

Haben sie ein Buch von Leipzig mit nach Hause genommen? Ja, den neuen Gedichtband von Sascha Kokot. Er heißt FERNER, und ich kann ihn jedem ans Herz legen.

Was geht im Kopf eines Schriftstellers vor, angesichts des Rummels rund ums Buch, der schieren Menge an Neuerscheinungen und dem Wirbel um schreibende Promies? Da ich eine Weile in Leipzig gelebt habe, ist die Messe für mich nichts Neues. Sie gehört für mich zum „Geschäft“. Die Lesung in der Moritzbastei war schön, und ich habe mich gefreut, meine Lektorin zu sehen. Aber insgesamt ist mir die Messe zu hektisch.

Vielen Dank, Jens Eisel. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser: Lesen Sie «Bevor es hell wird»! NDR Buch des Monats April!

Jens Eisel, geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, lebt in Hamburg. Nach einer Schlosserausbildung arbeitete er unter anderem als Lagerarbeiter, Hausmeister und Pfleger. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war 2013 Finalist beim Literaturpreis Prenzlauer Berg. Mit seiner Story «Glück» gewann er im selben Jahr den Open Mike.

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Mein kleines Jubiläum

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freundinnen und Freude, liebe Gleichgesinnte, Bücherwürmer, Leseratten und Kopfcineasten

Jetzt sind es 200. Zugegeben, nicht alle von der gleichen Qualität. Aber alle gleichen Ursprungs, meiner Leidenschaft fürs Buch, fürs gute, besondere Buch. Auch wenn ich weiss, wie sehr die Qualität eines Buches beim Urteil seiner LeserInnen variieren kann. Zumindest behaupte ich; wer sich an meine Lesetipps auf literaturblatt.ch und im Besonderen an die auf meinen Literaturblättern hält, liest gute Bücher, Bücher, die Eindrücke hinterlassen, Bücher, die bewegen, Bücher, die klingen, Bücher, die fesseln.

200 Berichte, 140 Schriftstellerinnnen und Schriftsteller, Veranstaltungen, Hinweise und mehr. Es ist eine Reise durch die Welt, es sind Begegnungen mit vielen Menschen. Ich danke allen, die immer wieder einmal einen Blick auf literaturblatt.ch werfen, den Verlagen, die akzeptieren müssen, wenn ich nicht schreibe und den vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die mein Herz bewegen:

Sascha Kokot, Takis Würger, Bernd Schroeder, Martina Clavadetscher, Andreas Neeser, Stephan Lohse, China Miéville, Simone Meier, Michèle Minelli, Peter Höner, Sarah Moss, Eva Roth, Frédéric Zwicker, Joachim B. Schmidt, André David Winter, Tim Krohn, Yves Rechsteiner, Beat Gloor, Herta Müller, Nina Jäckle, Akog Doma, Lukas Hartmann, Urs Richle, Fee Katrin Kanzler, Navid Kermani, Evelina Jecker Lambreva, Steven Millhauser, Markus Werner, Elisabeth Binder, Berni Mayer, Dina Sikirić, Margriet de Moor, Petra Ahne, Raoul Schrott, Reif Larsen, Hannah Dübgen, Quentin Mouron, Petro Lenz, Jonas Karlsson, Julia Trompeter, Guy Krneta, Diana Broeckhoven, Christine Fischer, Anna Mitgutsch, David Wagner, Ralph Schroeder, Patrick Tschan, Christian Kracht, Max Küng, Andreas Meier, Linus Reichlin, Christoph Ransmayr, Klaus Merz, Dominique Anne Schuetz, Esther Kinsky, Franz Dodel, Bodo Kirchhoff, Matthias Brandt, Zora del Buono, Bastian Astonk, Leon de Winter, NoViolet Bulawayo, Bettina Spoerri, Paula Fürstenberg, Jan Philipp Sendker, Matthias Zschokke, Ursula Fricker, Lorenz Langenegger,  Daniela Danz, Alex Capus, David Mitchell, Philipp Blom, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Christoph Keller, Rebecca C. Schnyder, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch, Peter Weber, Molly Brodek, Delphine de Vigan, Beat Brechbühl, Hanna Sukare, Thommie Bayer, Meinrad Inglin, Kurt Guggenheim, Carlos Peter Reinelt, Klaus Modick, Pablo Bernasconi, Rebecca West, Julia Kissina, Vladimir Sorokin, Urs Mannhart, Loranzo Marone, Judith Hermann, Jens Steiner, Shumona Shina, Anita Siegfried,  Barbara Köhler, Peter Stamm, Philipp Hagen, Erica Engeler, Roland Schimmelpfennig, Monika Maron, Charles Lewinsky, Hans-Ulrich Treichel, Judith Kuckart, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh, Noëlle Châtelet, Daniel de Roulet, Meral Kureyshi, Thomas von Steinaecker, Marjleena Lembcke, Frédéric Pajak, Heinz Strunk, Tom Zürcher, Benedict Wells, Ruth Loosli, Rolf Lappert, Brigit Vanderbeke, Heinz Helle, Pierre Jarawan, Radek Knapp, Jakob Hein, Mireille Zindel, Michael Kumpfmüller, Andreas Neeser, Jean Mattern, Hans Platzgumer, Tomas González, Mario Vargas Llosa, Alessandro Baricco, Claudia Schreiber, Anna Galkina, Aline Bronsky, Anthony Doerr.

Über Wortgeschenke freue ich mich sehr!

Sascha Kokot «Ferner», edition AZUR

Ich las Sascha Kokots Lyrikband «Ferner» auf einer Fahrt mit dem Zug, dem Bodensee entlang. Ich las immer wieder, mit Pausen, liess das Buch sinken, las weiter. Die Gedichte schärfen den Blick, auch wenn sie es mir nicht leicht machen. Sie zwingen mich hinein- und nicht darüberzulesen. Sprachkunst, herausgegeben in einer wunderschönen Ausgabe!

 

 

dieser Tage springt es dir wieder in die Knochen

dieser Tage springt es dir
wieder in die Knochen
lagert sich in den Gelenken ab
holt dich ein weit vor dem Morgen
dann liegst du wach weisst nicht
wie dir geschieht woher das kommt
was da bleiben wird
nur dieses schmale Zimmer
die falsch furnierten Möbel
das angekippte Fenster
ein Spalt zur Strasse hin
das Rauschen in den Pappeln
trieb mich durch die Nächte
du hörst dort nichts mehr
und fragst stumm in dich hinein
wann fing es an dass ich
mich nicht mehr nähern konnte

sobald die Sonne vertrieben ist

sobald die Sonne vertrieben ist
tauchen die Schwärme auf
sie kreisen über den Dächern
lassen sich für einen Moment
auf den steifen Ästen nieder
jagen unvermittelt wieder fort
verschwinden aus dem Blickfeld
unserer noch nicht erleuchteten Fenster
brechen durch das Gestrüpp höherer Flugrouten
lassen uns einen dämmernden Himmel zurück
den wir nicht deuten können

Sascha Kokot beschreibt Landschaften, innere und äussere. Und machmal dreht sich dieser Blick unvermittelt, plötzlich. Ein Blick in den Himmel wird zur Frage nach Innen. Sascha Kokots Gedichte erschliessen sich mir nur langsam, die einen gar nicht, oder noch nicht. Macht nichts, denn Sascha Kokot verspricht mir mit seiner Sprache vieles. Es sind Bilder, die nicht abbilden, nicht einfach zeigen, obwohl ich im Blitzlicht des Lesens Konturen erkenne. Es bleibt stets Geheimnis, nicht zuletzt in den Überschriften zu den Gedichtgruppen: Drift, Transit, Graphen, Schären, Filament (Nachgesucht: Textilfaser).

«Kokots Gedichte mit ihrer melancholischen Zugewandtheit führen direkt unter die dünne Haut der Dinge und Erscheinungen – präzis arbeitende Sonden, die Bilder von großer Einprägsamkeit versenden.»
Daniela Danz

Sascha Kokot, 1982 in der Altmark geboren und aufgewachsen, lebt als freier Autor und Fotograf in Leipzig. Nach einer Lehre als Informatiker in Hamburg und einem längeren Aufenthalt in Australien studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war Stipendiat der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Albert Koechlin Stiftung. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2012 mit dem zweiten Feldkircher Lyrikpreis und 2014 mit dem Georg-Kaiser-Förderpreis.

Ich danke dem Autor für die Erlaubnis zwei seiner Gedichte aus dem Band «Ferner» hier wiedergeben zu dürfen!

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Titelbild: Sandra Kottonau