literaturblatt.ch fragt, Teil 4, Beat Brechbühl antwortet.

beat_brechbuehl_Foto_Amanda-GaechterBeat Brechbühl ist Schriftsteller, Dichter und Verleger, unermüdlicher Kämpfer für die Poesie und seit seiner Erstveröffentlichung «Kneuss» 1970 bis zu seiner neusten Veröffentlichung «Farben, Farben» 2015 ein ganzes Leben in Sachen Literatur unterwegs. 1939 in Oppligen, Kanton Bern, geboren, lernte er zuerst Schriftsetzer, wurde dann Redakteur und Verlagsmitarbeiter. Heute lebt Beat Brechbühl als Schriftsteller von Lyrik und Prosa, als Gestalter und Verleger (Waldgut Verlag) in Frauenfeld im Thurgau, Schweiz. Für sein schriftstellerisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Bodensee-Literaturpreis, dem Kulturpreis des Kantons Thurgau und dem Buchpreis der Stadt Bern. Zuletzt erhielt er den Anerkennungspreis der Stadt Frauenfeld (2009).

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Für mich ist das Leben: Geschichten. Einige davon finde ich so interessant oder komisch oder ekelhaft, dass ich sie andern erzählen will.

Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste, der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Schreiben ist für mich immer schwierig. Ich habe nie leicht geschrieben (Was ist das?). Wie bei anderer Arbeit: Manchmal machts (skeptische) Freude, manchmal machts Ärger (einem selbst und andern), manchmal will ich es einfach machen.
Höhepunkt ist vielleicht, wenn ich die Schreibe gelungen finde. Tiefpunkte: Wenn ich im Thema stecken bleibe, wenn ich die Sprache nicht finde, wenn es mir verleidet. Wer sich vor seinem Schreiben fürchtet, soll es bleiben lassen und etwas anderes tun.

Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ich lasse mich von Vielem ver- und entführen, denke herum, schwärme, ärgere mich, rege mich auf – doch irgendwann muss die Arbeit die Form und Straffheit bekommen, die ich mir vorgestellt und vorgenommen habe. Und am Schluss wird gekürzt. Das tut oft weh, aber viel weher machts mir, wenn für mich Unnötiges in einem Gedicht, in einer Geschichte drinbleibt.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Was mir in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist: die Gesellschaft. Das gesellschaftliche Zusammenleben. Das friedliche, kreative, selbstverständliche Zusammenleben mit uns Menschen, mit den Tieren, der Erde, der Zukunft. Das ist für mich die / unsere Chance; nicht die einzige, aber die wichtigste. Diesen Sätzen brauche ich nicht anzufügen, dass ich mich dafür in voller Verantwortung denke und fühle; und oft nicht nur für meinen Teil.

Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Klar schau (höre, spüre, fühle) ich besser hin, wenn ich etwas wieder- oder/und weitergeben will.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibender mögen oder tust du aktiv etwas dafür/dagegen?
Wenn ich schreibe, versuche ich mich zu isolieren; ich schalte alle möglichen Stör- und Ablenkungsfaktoren aus und ab. Ich will möglichst intensiv in der Geschichte, im Gedicht drin sein, leben, Musik soll mich nicht beeinflussen oder ablenken; die muss in der Geschichte, im Gedicht drin sein. Ich trinke zB keinen Wein zum Schreiben, nur selbst angesetzten Tee.

Gibt es für dich Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Ich kenne auch beim Schreiben viele Grenzen. Meist sind es die selbstgesetzten, die einen fördern, fordern, oder hemmen. Grenzenlos ist für mich ein Begriff, in dem ich die Grenzen nicht sehe, spüre, merke. Grenzen nehme ich oft positiv; ich arbeite mit ihnen, selten abweisend. Die bequemsten Grenzen sind die, die ich nicht merke, oder nicht merken will.

Erzähl kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den du vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen hast?
Was soll ich Geheimtipps verbreiten? Wen es interessiert, soll unser Verlagsprogramm lesen. Wenn ich davon Namen nennen würde, wäre das ungerecht und anmaßend. Also: www.waldgut.ch

Zähl doch 3 Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Robert Walser «Der Gehilfe» (Selbstverständlich habe ich damals die etwa 11bändige Ausgabe im Kossodo Verlag Genf gelesen. Und alles andere auch.)
Arno Schmidt «Zettels Traum» (Auch da: alles alles gelesen. Nur nicht mehr die Suhrkamp Ausgabe; ich kannte das ja alles….)
Orhan Veli Kanık «Fremdartig»

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wärst du nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller geworden, hätten sich deine Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob du weiter schreiben willst?
Mit 25 musste ich mich entscheiden: Fotografie oder Schreiben. Da damals in der Fotografie eine neue Mode herrschte (ran ans Objekt ohne Hemmungen…), war mir klar: Schreiben. – Schreiben aufhören, fertig, aus…? Was ist das? Kenn ich nicht.

Was tust du mit gekauften oder geschenkten Büchern, die dir nicht gefallen?„Bücher, die mir nicht gefallen?“ Mir soll ein Buch nicht „gefallen“; ich kaufte Bücher wegen ganz andern Kriterien, zB: muss das haben, will das haben, spricht mit mir, erweitert mich, bringt für mich Neues, usw.
Geschenkt bekomme ich selten etwas, Bücher noch seltener. Wenn ich die nicht haben möchte, kann ich das vielleicht sagen – oder ich sag nix und lege die Bücher an unserem Flohmarkt auf.

Schick mir bitte ein Foto von deinem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz.
Fotos von meinem Arbeitsplatz gibt es nicht.
1. hab ich leider schon seit Jahrzehnten keinen Fotoapparat mehr; von einem digitalen rede ich seit Jahren, und
2. handy Foto kann und will ich nicht.
3. Lohnt sich nicht zu fotografieren: Schreibtisch mit Computer drauf. Alles andere soll in meinem Kopf sein; Gedichte schreibe ich nach wie vor von Hand.

Weil ich nicht…

1

Weil ich nicht öffentlich reden kann
und im Live-Interview nicht viel tauge,
bin ich Schriftsteller geworden.

Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden.

Weil ich nicht zeichnen und malen kann,
bin ich Gestalter geworden

Weil ich eine charakterlose Handschrift habe,
bin ich Typograph geworden

2

Weil ich nicht schlafen kann,
bin ich Tag- und Nachwandler geworden.

Weil ich nie Motorrad fahren konnte,
bin ich Fussgänger geworden.

Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden.

Weil ich dies&das lachen kann,
bin ich kein Humorist geworden.

H1198_200_301Das Gedicht geht noch viel weiter und entstammt seinem Gedichte-Band «Böime, Böime! Permafrost & Halleluja! Erschienen 2014 beim Wolfbach Verlag, Zürich

Lieber Beat Brechbühl, vielen Dank!

Das war der 4. Teil einer kleinen Reihe. Anfang September antwortet Dominique Anne Schuetz. Seien Sie wieder dabei!

Hanna Sukare «Staubzunge», Otto Müller Verlag

Den Rauriser Literaturpreis 2016 (vergeben vom Land Salzburg, dotiert mit 8.000 Euro) erhält Hanna Sukare für ihren Roman „Staubzunge“ (Otto Müller Verlag 2015).

7ed52cff5dWas sich auf den ersten Seiten dieses Romans wie die dunkle Geschichte einer in Lügen und Schweigen eingeschnürten Pastorenfamilie liest, wird während des Lesens immer mehr zu einer Reise durch ein ganzes Jahrhundert der verlorenen Zeit. Eine Reise, die Polen zum Brennpunkt macht, ein Land, das im 20. Jahrhundert mehrfach zerrissen wurde und das es bis ins Heute nicht geschafft hat, sich aus dem Würgegriff der Vergangenheit herauszuschälen. Viele Familien bleiben über Generationen Opfer dieser Risse.
Adele beginnt sich nach dem Tod ihrer Mutter Jad auf die Suche nach einer solchen verlorenen Vergangenheit zu machen. Die Schriftstellerin Hanna Sukare rollt dabei die Geschichte des 20. Jahrhunderts fast beiläufig aber überaus gekonnt auf, wie das mehrfach zerschnittene Familienband, das eine ganze Familie mehr würgt als verbindet. Dieser reiche und (wörtlich) ausgezeichnete Roman ist gemessen an den 165 Seiten von erstaunlicher Vielschichtigkeit, überaus intelligent geschrieben und der Beweis, wie erhellend Literatur sein kann.

Aus der Begründung der Jury (Uwe Schütte, Liliane Studer, Anton Thuswaldner): „In ,Staubzunge‘ wird das Portrait eines ganzen Jahrhunderts gezeichnet, das von historischen Verwerfungen und Traumatisierungen gekennzeichnet ist. In sensibler Weise erkundet das aus unterschiedlichen Erzählperspektiven und Sprechweisen komponierte Buch die Vorgeschichte der Elterngeneration, deren Versagen in ihrer Vorbildrolle nicht plakativ angeklagt wird, sondern die Haupterzählerin zu Recherchen veranlasst, in deren Gefolge sie die aus der Tragödie der Geschichte resultierenden Schädigungen zu begreifen lernt.“

„Die Erzählstimmen in ‚Staubzunge‘ aus den unterschiedlichen Generationen einer typischen europäischen Familie geben streiflichtartige Einblicke in die vergangenen hundert Jahre. Einiges kennt man aus der eigenen Vergangenheit, anderes ist neu. Das Erschreckende dabei: Der Mensch scheint unfähig zu sein, aus seiner Geschichte zu lernen, und muss offenbar alles immer wieder von Neuem durchleben: die Angst, den Neid, den Hass. Wo der Mensch ist, ist auch die Hölle. Aber Hanna Sukare hat zum Glück das Gegenmittel: die Erinnerung, die gegen das Vergessen kämpft.“ (Linda Stift, Die Presse)

Staubzunge_Cover Vorschau 9x12,5.indd„Zunehmend weitet sich die Geschichte von Matti und Deli aus zu einer Erzählung über die Schmerzpunkte des 20. Jahrhunderts – Krieg, Rassismus, Flucht und Schuld lasten als ‚geballt Entsetzliches‘ auf den Schultern der Nachgeborenen und versetzen sie in Unruhe und/oder seelische Erstarrung. Hanna Sukares Bericht ist spannend, sprachlich präzise und vielstimmig, die Figurenrede jeweils fein auf die sprechenden Personen abgestimmt.“ (Sabine Schuster, www.literaturhaus.at)

Hanna Sukare (1957 in Freiburg i.Br.). lebt seit der Jugend meist in Wien. Sie studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie. Hanna Sukare war unter anderem als Journalistin, Redakteurin (Falter, Institut für Kulturstudien) und Wissenschaftslektorin tätig und beschäftigte sich in wissenschaftlichen Studien mit dem gesellschaftlichen Fundus des Fremden. Seit 2001 ist sie freie Autorin.

Hanna Sukare liest am Samstagnachmittag, 17.09.2016, aus ihrem Debütroman «Staubzunge» beim Literarischen Herbst Gstaad im Kleinen Landhaus in Saanen (CH).

Literatursommerabend in St. Gallen

Am Sonntag, den 21. August steigt in der Militärkantine St. Gallen ein ganz besonderes Sommerfest, ein Literatur-Sommerfest. Ab 16 Uhr im Garten!

«WAR DAS EINE GAUDI IM HÄTTERENWALD!»
Im Hätterenwald schiesst es aus dem Gebüsch. Waidwund röhrt der Jäger vom Hochsitz herunter, Fuchs und Hase lachen sich ins Fäustchen. Was für eine Gaudi! Oder war doch alles ganz anders?

christoph_keller„Das Steinauge“ heisst der neue Roman, den Christoph Keller vorstellt. Und er lädt seine Freunde dazu ein: die Literaten Peter Weber, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch, Rebecca C. Schnyder, Parantap Chakraborty und Jan Heller Levi, die Künstler Roman Signer und Marlies Pekarek und die Musiker Daniel Schnyder und Melda Umur.

Gelesen wird auf Deutsch, Englisch und Bengali, Texte kommen zu Wort und verbinden sich mit Musik, Bildern und Videos. Daraus wird ein sprühendes Sommerfest mit Künsten.

Eintritt Fr. 30.-/15.-
Die Platzzahl ist beschränkt, Reservationen unter kultur@militaerkantine.ch

Im Anschluss an das Programm: Ausklang beim Abendessen unter Kastanien. Reservation für Essen unter essen@militaerkantine.ch empfohlen!

Thommie Bayer «Seltene Affären», Piper

Manchmal freue ich mich mit dem Vergnügen in der Vergangenheit gelesener Bücher auf die Neuerscheinung aus der Feder eines ganz bestimmten Autors. Manchmal schon Monate, weil eine Verlagsankündigung lange und intensive Versprechungen machte. Manchmal ist es wie mit einer Flasche eines ganz bestimmten Weins, bei dem das Vergnügen der Vorfreude bis zum letzten Schluck weitergeht. Mit «Seltene Affären» von Thommie Bayer war es ein prickelnder Sommerwein!

Thommie Bayer tut etwas, was die Schriftstellerin, der Schriftsteller kann; Leben in einer Art und Weise erfinden, die neben der Realität zu bestehen vermag, ein Geschehen, das nicht mit Wahrscheinlichkeit gemessen werden muss.
Peter und Paul sind Zwillinge, deren Leben als junge Erwachsene nach einer Kindheit im Gleichschritt in ganz unterschiedliche Richtungen auseinander driftete. Während Paul mehr oder weniger geradlinig sein Studium durchzog, schaukelte sein Bruder Paul von einer Bühne zur nächsten. Was sie verbindet, ist für die längste Zeit ihres Lebens die Liebe zu ein und derselben Frau. Aber nachdem Anne für Jahre aus dem Leben beider entschwunden war, kehrte sie zurück und heiratete Paul, obwohl Peter seiner stillen Liebe zu Anne im entscheidenden Moment viel näher war.
produkt-12325Das zweite, was die beiden Brüder miteinander verbindet, ist das Schreiben. Paul als erfolgreicher Schriftsteller der langen Form und Peter, der unter dem Namen seines Bruders schreibt, in dessen Schatten in der kurzen Form Geschichten liefert. Peter führt aber nicht nur als Autor, als Schreibender ein Schattendasein. Seine Liebe zu Anne stellt ihn selbst in den Schatten. «Seltene Affären» will beweisen, dass sich wirkliche Liebe nicht einfach von einem auf den andern Menschen überstülpen lässt. Und dass Liebe kein Zustand ist: «Es ist nicht so, dass man sie eben einmal in sich entdeckt, und dann ist sie für alle Zeiten da, denn sie richtet sich auf ein lebendes Wesen, und dieses Wesen verändert sich. Folgt diese Liebe den Veränderungen nicht, dann gilt sie irgendwann einem übrig gebliebenen und zum Phantombild gewordenen Porträt verschwundener Wirklichkeit … Und irgendwann findet man sich auf zwei verschiedenen Ufern eines breiten und brückenlosen Flusses.»
In der Enttäuschung darüber, dass Anne nicht zu gewinnen ist, ohne den Bruder zu verlieren, zieht sich Peter immer weiter zurück in ein berührungsarmes Leben als Schatten und in die Welt seiner Träume. Ein Mann, dessen Hände gebunden sind, den man während des Lesens schütteln möchte und nicht versteht, dass man sich freiwillig so sehr aus dem Experiment Leben verabschieden kann.

Thommie Bayer trifft Dillberg
Thommie Bayer trifft Dillberg

Ein Buch, das knistert. Vor allem dann, wenn Peter in seine Traumwelt abtaucht und mit seiner «Traumfrau» Chiara Spaziergänge unternimmt, erotisch aufgeladene Streifzüge zusammen mit einer Frau, die aber selbst als Traumfrau nie den Schatten Annes auszuleuchten vermag. Peter zieht es vor, in seiner Fantasie zu leben, einer Welt, die weder Entscheidungen noch Mut braucht.
«Vielleicht bin ich dazu geboren, als Hälfte zu existieren, und fühle mich alleine instabil und angreifbar, vor allem aber, als wäre ich ein Blender oder Lügner, wenn man mich für etwas Ganzes hält.»
Chiara, jene Frau, die Peter Vordens Wohnung putzt und sich in die Träume des Mannes einschleicht, begegnet man auch im letzten Buch Thommie Bayers «Weisser Zug nach Süden». Jenes Buch erzählte aus der Sicht Chiaras, so wie «Seltene Affären» aus der Sicht von Peter. Buchgeschwister, die man auch einzeln geniessen kann! Auf meine Frage, wie das Buch, die Idee entstand, schrieb Thommie Bayer: «Mein letztes Buch «Weißer Zug nach Süden» erzählte von Chiara, die Vordens Wohnung putzt und seine Geschichten liest. Der Lektor bemängelte die fehlende Perspektive von Vorden, und ich sagte, das würde den Rahmen sprengen, das wäre ein eigenes Buch. In dem Moment muss sich die Idee festgesetzt haben, dieses Buch noch hinterher zu schreiben.»
Thommie Bayers Romane sind körperbetont ohne exhibitionistisch zu sein, sinnlich ohne zu triefen.

111Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Weißer Zug nach Süden».

Webseite des Autors

Meinrad Inglin «Urwang», Pro Libro Verlag

Letzthin bekam ich von einem österreichischen Verlag ein Buch als Rezensionsexemplar zugeschickt, das davon erzählt, wie einst in den schottischen Highlands ein Staudamm errichtet wurde und in der Folge ein ganzes Dorf umgesiedelt werden musste. Ein Roman darüber, was es bedeutet, aus seiner Heimat herausgerissen zu werden. Ich legte den Roman wieder weg, weil während des Lesens dauernd die Erinnerung an einen anderen Roman mit ganz ähnlichem Thema durchdrückte – und zwar so beharrlich, dass ich statt des im Herbst erscheinenden Romans, jenen aus dem Jahr 1954 wieder in die Hand nahm und zu schmökern begann.

"Urwang", erstmals 1954 beim Atlantis Verlag in Zürich erschienen
«Urwang», erstmals 1954 beim Atlantis Verlag in Zürich erschienen

Im «Urwang» einem kleinen Tal in der Innerschweiz, dem der Schriftsteller Meinrad Inglin die Geschehnisse im Wägital (Kanton Schwyz) zum Vorbild nahm, soll ein Staudamm gebaut werden. Fünf Bauernfamilien müssen von ihren Höfen ausziehen und klammern sich mit allen Mitteln an ihre über Generationen vererbte Scholle. Protagonist Aschwanden soll als Vertreter des ausführenden Unternehmens die Betroffenen dazu bringen, ihre Anwesen nicht durch zwangweises Abführen verlassen zu müssen. Ein schwieriges Unterfangen! Meinrad Inglin nimmt die Technisierung der Gesellschaft zum Thema, jenen Moment in der Geschichte, in der die Einführung der Elektrizität, die Errungenschaften der Technik für die Mehrheit der Menschen eine Erleichterung, ein Fortschritt bedeutete, für den andere aber mit Leib und Gut bezahlen mussten. Inglin vermeidet es gekonnt, verklärte Nostalgie aufkommen zu lassen. Was am Schluss des Geschehens in den Wassermassen des gefluteten Stausees untergeht, ist nicht einfach Idylle, letztes Paradies, sondern auf der Rech1923.06.16_Alt-Waeggithal_Kuehe_vor-Staumauernung der Preis für den Einzug der Moderne. Und dass diese Rechnung nicht ohne Verlierer, ohne Kampf und Leidenschaft ausgetragen wird, davon erzählt der Roman «Urwang». Inglins Roman beschreibt einen Moment der Geschichte, einen Moment, der sich immer wieder abspielt.

204864Meinrad Inglins (1893 – 1971) Kindheit war überschattet vom frühen Tod der Eltern, den Vater durch ein Unglück, als Meinrad 13 und die Mutter durch eine schwere Krankheit, als er 17 war. Schon 1909 publizierte er erste Texte in Zeitungen und 1922 seinen ersten Roman «Die Welt in Ingoldau». Meinrad Inglin nahm Stellung zu aktuellen politischen und sozialen Fragen, schrieb viel mehr als ‹Heimatliteratur›. Hauptwerk bleibt sein 1938 erschienener Roman «Schweizerspiegel», ein grosses Panorama  über die Grenzbesetzung und den Generalstreik, Themen, die vor Beginn des 2. Weltkriegs aktueller nicht sein konnten. Verfilmungen von «Der Schwarze Tanner» und «Das gefrorene Herz» von Xavier Koller oder die regelmässig aufgeführte Bühnenadaption des «Chlaus Lymbacher» von Thomas Hürlimann machen deutlich, dass das Werk von Meinrad Inglin noch heute lebendig geblieben ist und zu Entdeckungen einlädt.

imgres«Urwang» ist beim Verlag Pro Libro Luzern oder im Buchhandel erhältlich!

Webseite der Meinrad Inglin-Stiftung

PS Man stelle sich vor; Als ich zwischen 1979 und 1984 meine Lehrerausbildung in Zug machte, las unser Deutschlehrer Werner Hegglin als Vorbereitung zu eine «Konzentrationswoche» im Wägital Inglins ganzen «Urwang» der Klasse im Unterricht vor. Heute noch vorstellbar? Nein. Dabei spüre ich die Wirkung jener Vorlesestunden noch heute. Vielen Dank an «meinen» hochgeschätzten Deutschlehrer, den «Chef»!

Werner Hergglin
Werner Hergglin

Carlos Peter Reinelt «Willkommen und Abschied», Wallstein

Was der 22jährige Autor in einem schmalen Bändchen als ‹konkrete Poesie› vorlegt, geht tief unter die Haut und ist an Grausamkeit und Aktualität nicht zu überbieten, aber auch nicht wirklich zu geniessen. Da ist jemand auf der Flucht von Syrien, geflohen, nachdem der IS seinen Freud Al-Amad erwürgt hatte, auf der Flucht ins gelobte Land, vielleicht Österreich, wenn das Geld reicht Schweden. Er hat das Mittelmeer überwunden, ist den Uniformierten in der Türkei entwischt und steckt nun mit 60 anderen in der Dunkelheit eines bulgarischen Schlepperlastwagens, eingesperrt, verdreckt, im langsam verstummenden Geschrei, in Luft wie Blei.

Carlos Peter Reinelts Text ist Mahnmal, Kunstwerk und Hilfeschrei zugleich.

Für diesen Text erhielt Reinelt den Rauriser Förderungspreis 2016 zum Thema „Zeitraffer“. Aus der Begründung der Jury (Thorsten Ahrend, Christine Haidegger, Christine Riccabona): „Der Text widmet sich mutig und respektvoll dem Thema Flucht aus mörderischen Verhältnissen und macht die unmenschliche Realität des Weges nach Europa sichtbar, indem er die Leser in die entsetzliche Spannung zwischen erhoffter Rettung und auswegloser Situation in einem Schlepper-LKW hineinversetzt.“

UnknownCarlos Peter Reinelt, geboren 1994 in Lustenau/Vorarlberg. Kolumbianische Mutter, Vater aus Tirol, Gymnasium in Bregenz, Landessiege bei Mathe- und
Philosophieolympiaden, Skispringen im Leistungssportbereich, Rock- und Metalbands, politische Arbeit. Er studiert Deutsch, Philosophie und Psychologie in Salzburg.

Lesung von Carlos Peter Reinelt am 18.09.2016 um 20.00 Uhr Bregenz (A), Theater KOSMOS (Foyer), Mariahilfstrasse 29

 

Am «Literatur am Tisch» mit Bettina Spoerri hat’s noch Platz!

Unregelmässig findet an unserem grossen Esstisch «Literatur am Tisch» statt: Eine Autorin oder ein Autor wird zusammen mit seinem neusten Buch zu Tisch geladen, ebenfalls maximal 10 Gäste, die das Buch gelesen haben. Man trinkt ein Glas Wein (oder mehr), geniesst Häppchen aller Art und unterhält sich, setzt sich angeregt und manchmal auch kritisch mit dem Buch, dem Schreiben, dem Lesen und der Literatur auseinander.

Nächster Gast im Literaturport: Bettina Spoerri mit ihrem Roman «Herzvirus»
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am 17. August, um 19 Uhr, an der St. Gallerstrasse 21, 8580 Amriswil.
Eine Anmeldung ist zwingend. Diese werden in der Reihenfolge ihres Eintreffens berücksichtigt
(->Kontakt)!

Eintritt inklusive Essen und Getränke 30 Fr.

literaturblatt.ch fragt, Teil 3, Klaus Modick antwortet.

Von Klaus Modick, zuhause im norddeutschen Oldenburg, las ich erstmals 1986 einen Roman. Damals machte er in seinem dritten Roman «Das Grau der Karolinen» ein Bild und die detektivische Suche nach dessen Maler zum Thema eines Buches über das Sehen und die Farben. Seither ist aus den Büchern Klaus Modicks die Zierde eines grossen Stücks Bücherregal geworden und aus dem Autor ein «Schriftsteller meines Herzens».

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Es geht mir um gut erzählte Geschichten, und mit „gut erzählt“ meine ich eine unprätentiöse Schreibweise, die auf stilistische Effekthascherei verzichtet und zugleich Abstand zum Trivialen hält. Und dafür möchte ich, bitte sehr, geliebt werden!

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Der schönste Moment ist der Schlusspunkt eines Romans, der schwierigste das erste Wort. Furcht kenne ich nicht, aber Blockaden.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Viele Bücher, die ich im Lauf der Jahre gelesen, viel Musik, die ich gehört habe, murmeln lautlos mit.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Die Schreibenden verfügen über die so genannte Macht des Wortes, aber sie sind deshalb nicht klüger oder dümmer als andere Künstler. Als Literat hat man allerdings Verantwortung – nämlich die, gut zu schreiben.

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Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ob mein Schreiben etwas bei meinen Lesern schärft, weiß ich nicht. Bei mir schärft es die Selbstkritik.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibender mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Ich brauche Ruhe zum Arbeiten, aber bei der Arbeit bin ich nicht einsam – siehe Antwort Nr. 3! Einsam fühle ich mich manchmal in Gesellschaft.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Hermann Kinder: Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit. Wunderbares Buch eines notorisch unterschätzten Autors.

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Das Große Wilhelm Busch Album
Theodor W. Adorno: Minima Moralia
Leonard Cohen: The Lyrics

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich hätte Germanistikprofessor oder Studienrat werden können, Deutsch und Geschichte. Ich hätte auch der Werbetexter bleiben können, der ich war, als es mit der Schriftstellerei ernst wurde.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Alle zwei oder drei Monate trage ich einen gut gefüllten Karton zum Antiquar.

Klaus Modick, vielen Dank!

autor_1590[1]Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger und arbeitete danach u.a. als Lehrbeauftragter und Werbetexter. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach zahlreichen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sein Roman «Konzert ohne Dichter» erschien im Frühjahr 2015 und wurde schnell zum Bestseller.

9783462047417[1]In «Konzert ohne Dichter» erzählt Klaus Modick die Entstehungsgeschichte des berühmtesten Worpsweder Gemäldes, von einer schwierigen Künstlerfreundschaft – und von der Liebe. Heinrich Vogeler ist auf der Höhe seines Erfolgs. Im Juni 1905 wird ihm die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen – für sein Gesamtwerk, besonders aber für das nach fünfjähriger Arbeit fertiggestellte Bild «Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff». Während es in der Öffentlichkeit als Meisterwerk gefeiert wird, ist es für Vogeler das Resultat eines dreifachen Scheiterns: In seiner Ehe kriselt es, sein künstlerisches Selbstbewusstsein wankt, und eine fragile Freundschaft zerbricht. Rainer Maria Rilke, der literarische Stern am Himmel der Worpsweder Künstlerkolonie, und sein Seelenverwandter Vogeler haben sich entfremdet – und das Bild bringt das zum Ausdruck: Rilkes Platz zwischen den Frauen, die er liebt, bleibt demonstrativ leer. Was die beiden zueinanderführte und später trennte, welchen Anteil die Frauen daran hatten, die Kunst, das Geld und die Politik, davon erzählt Klaus Modick auf kunstvolle Weise. Ein großartiger Künstlerroman, einfühlsam, kenntnisreich, atmosphärisch und klug.

Das war der 3. Teil einer kleinen Reihe. Am 15. August antwortet Beat Brechbühl. Seien Sie wieder dabei!

Pablo Bernasconi «Ende – Berühmte letzte Sätze der Weltliteratur», mixtvision

56 Bücher, die auf ganz verschiedene Art und Weise Leben und Sein des argentinischen Illustrators Pablo Bernasconi begleiteten, sind in ganz aussergewöhnlichen Portraits in einem wunderschön illustrierten «Büchergarten» zu bewundern. Ein Buch, das auftun kann, inspirieren, das neugierig macht, fasziniert und amüsiert!

Er habe ein Problem, schreibt der Zeichner im Vorwort zu seinen Portraits: «Mich graust es vor kleinen bunten Fischen in der Karibik. Ich mag es nicht, wenn meine Finger mit Sekundenkleber zusammenkleben, ich ekle mich vor Milch und ich lese bei Büchern immer zuerst den Schluss.» In diesem wunderschönen Buch, in dem jeweils eine Doppelseite einem Werk der Weltliteratur gewidmet ist, liest man auf der einen Seite den letzten Satz oder den letzten Abschnitt, ohne dass dieser einem das Vergnügen des Selberlesens schmälern würde, und auf der andern Seite ziert eines der Kunstwerke des Illustrators die Quintessenz des Schlusses.

Scan 4«Das Leben: Gebrauchsanweisung» von Georges Perec:
«Er ruhte, völlig angekleidet, friedlich und aufgedunsen, auf seinem Bett, die Hände über der Brust gekreuzt. Eine grosse, rechteckige Leinwand von mehr als zwei Metern stand neben dem Fenster und verkleinerte den schmalen Raum des Dienstmädchenzimmers, wo er den grössten Teil seines Lebens verbracht hatte, um die Hälfte. Die Leinwand war praktisch noch unberührt: einige Striche mit der Zeichenkohle, sorgfältig gezeichnet, teilten sie auf in regelmässige Quadrate, Skizze eines Grundrisses eines Hauses, das nun keine Person mehr bewohnen sollte.»

oder

Scan 5«Warten auf Godot» von Samuel Beckett:

Er zieht seine Hose herauf. Schweigen.

WLADIMIR: Also? Gehen wir?
ESTRAGON: Gehen wir!

Sie gehen nicht von der Stelle.

VORHANG

 

Ein Buch, das bei mir möglichst lange offen liegen bleibt, mich entzücken und animieren soll. Ein wunderschönes Geschenk an mich!

Webseite des Verlags

 

Rebecca West «Die Rückkehr», dtv

Mit 26 Jahren schrieb die Britin Rebecca West 1918 als erste Frau einen Roman über die Schrecken des ersten Weltkriegs, ihr Debüt. Nicht über jenen Krieg, der Tausende in die Schützengräben von Verdun schickte, sondern jenen, den er in die Seelen der Männer brachte, die mit wehenden Fahnen in den Krieg zogen, um als Verwundete, Versehrte, Zerstörte und Tote nie mehr ganz zurückzukehren.

Zwei Frauen warten während des ersten Weltkriegs unter demselben Dach auf Zeichen desselben Mannes. Kitty auf die ihres Mannes und Jenny auf jene ihres Cousins. Ein langes und banges Warten. Bis auf dem Landgut der Baldrys eine Frau erscheint und behauptet, sie wisse, wie es diesem einen Mann gehe und wo er sei, nicht verletzt, aber versehrt – ein Granatentrauma. Die beiden wartenden Frauen glauben zuerst, einer Schwindlerin gegenüberzusitzen, bis ihnen klar wird, dass ihr Gegenüber mehr als eine Botin ist. «Eine abstossende Aura von Vernachlässigung und Armut umgab sie, so wie selbst ein teurer Handschuh, wenn er in einem Hotel hinter ein Bett gefallen ist und ein, zwei Tage lang ungestört dort gelegen hat, abstossend wirkt, wenn das Zimmermädchen ihn aus Staub und Flusen wieder hervorzieht.» Chris kehrt zurück. Aber was fortan auf dem von Chris voller Enthusiasmus renovierten Landgut herumgeistert, will nicht mehr der sein, der er einst war, als er mit dedie_rueckkehr-9783423280808m Zuruf «Bis dann! Ich schreibe euch aus Berlin!» in den Krieg fuhr. Der Krieg, das Pfeiffen der Granaten, das Warten auf den Einschlag, all die Toten riss einen Teil seiner Seele aus ihm heraus – und mit ihr 15 Jahre seiner unmittelbaren Vergangenheit. Plötzlich existiert keine Ehefrau mehr, nicht einmal mehr das durch eine Krankheit dahingeraffte Kind. Stattdessen ist da diese Frau, die die Botschaft brachte, eine von Mühsal, Arbeit und Einerlei gezeichnete Frau, Margaret, die Chris vor 15 Jahren liebte und die einzige zu sein scheint, die den versehrten Chris am Leben hält.
Das Aufeinanderprallen zweier Welten, jene des gottgewollten Reichtums, der Bourgeoisie und jener der ewig von Verlust und Lebenskampf bedrohten Arbeiterklasse, genau jene Gegensätze, die den Krieg damals ausmachten, der um sie und zwischen ihnen tobte.
Dass diese Geschichte, dieses Kammerstück 98 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen in einer englischen Zeitung nun auf Deutsch vorliegt, ist nicht bloss dem Umstand zuzuschreiben, dass Rebecca West als einzige zeitgenössische Frau einen Roman über die direkten Auswirkungen des ersten Weltkriegs schrieb. Rebecca West zieht die Ausläufer des Krieges bis in die von Tradition, Etikette und Adel bestimmte Aristokratie Englands. Ein ganz ausserordentliches Buch einer ausserordentlichen Frau!

8111 Dame Cicely Isabel Fairfield, besser bekannt als Rebecca West (1892-1983), wurde in London geboren. West arbeitete als Journalistin für namhafte Zeitungen, darunter der Daily Telegraph, New Statesman, New York Herald Tribune. Sie machte sich einen Namen mit ihren Artikeln als Frauenrechtlerin und Literaturkritikerin. Auf diese Weise lernte sie auch H.G. Wells kennen. Sie schrieb einen Verriss über seinen 1912 erschienenen Roman «Mariage. Die Geschichte einer Ehe» und bezeichnete Wells als die alte Jungfer unter den zeitgenössischen Romanciers. Das machte ihn neugierig und er lud sie zum Lunch ein. Ab 1913 wurde daraus eine Liebesbeziehung. Die Beziehung der beiden hielt gute zehn Jahre, aber sie hatten bis zu Wells› Tod im August 1946 ein gutes Verhältnis zueinander. West soll wohl auch ein Verhältnis mit Charlie Chaplin gehabt haben. Sie arbeitete als Schriftstellerin; George Bernard Shaw sagte einmal, dass wohl niemand so gut und so rigoros mit einem Stift umgehen könne wie Rebecca West. Als Journalistin wurde sie mehrfach ausgezeichnet, Truman bezeichnete sie in einer Laudatio als die beste Reporterin der Welt. 1946 entsandte sie der New Yorker als Berichterstatterin zu den Nürnberger Prozessen, in den 60er Jahren berichtete sie aus Südafrika über Apartheid.