Matthias Zschokke «Die Wolken waren gross und weiss und zogen da oben hin», Wallstein

Obwohl Matthias Zschokke kein Exot ist und seine Romane auch nie an exotischen Schauplätzen spielen, obwohl seine Geschichten unspektakulär sind und man den Mann im langen Mantel auf der Strasse wohl leicht übersehen würde, ist der Autor Matthias Zschokke sehr wohl ein Exot. Ein Schriftsteller, der nicht in erster Linie gefallen will, ein Autor mit ganz eigener Stimme, ein Mann der sein Schreiben zur grossen Bühne macht.

9783835318755lEin Mann wohnt in Berlin, zusammen mit seiner Geliebten – und doch allein. Vielleicht ist genau das jenes Gefühl, jene Einsicht, die bleibt, wenn man Matthias Zschokkes neuen Roman «Die Wolken waren gross und weiss und zogen da oben hin» liest. Auch wenn da im Roman noch andere gehen, warten, zögern, stören, mich als Leser interessieren, denen ich in verschiedenen und sie mir mit verschiedenen Qualitäten begegnen. Aber der Mann, man bleibt allein, schlendert durch die Stadt, kauft am Kiosk die Zeitung, die man mehr des Kaufes wegen kauft, als dass er, der Mann, man interessiert wäre, was darin steht. Roman lebt in Berlin, trägt in seinem Kopf Geschichten und Theater mit sich herum, besucht an den immer gleichen Tagen seine Mutter ein paar hundert Kilometer weit entfernt, die ihn mehr oder weniger flehentlich darum bittet, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, genau wie Freund B., der es auch nicht scheut, Roman zu beauftragen, Grill, Kohle und genügend Klebeband zu kaufen und zu schicken, das wäre eine sichere Sache. «Menschen ist es nicht erlaubt, lebensmüde zu werden. Sie müssen jauchzen und springen bis ans Ende ihrer Tage, auch wenn das Jauchzen in Wahrheit ein Winseln ist und das Springen eins auf glühenden Kohlen.»
Zschokkes Roman erinnert mich an Filme von Fellini; Handlung, die nicht in Bildern, sondern in Sprache badet und Menschen, die wie Marionetten mit schlacksigen Bewegungen Leben vorführen, das in vielem dem Alltag viel näher ist als all das Vorgegaukelte, mit dem Geschichtenerzähler sonst zu bezaubern versuchen. Zschokkes Helden pflegen die Gewohnheit, über Dinge nachzudenken, die sich nicht durch Wichtigkeit aufdrängen.  So wie der Blick auf Dinge fällt, fallen Romans Gedanken, mäandert sein Leben durch die Grossstadt, den Häusern ebenso entlang, wie den Menschen, denen er begegnet wie die weisse Kugel beim Billardspiel. Zschokkes Welt kümmert sich nicht um Moden, höchstens dass er über sie und ihre Sinnlosigkeit in der Schräglage ihrer Handlung lacht. Ein Buch, ein Roman wie ein Theater, das schlussendlich auch in ein solches gipfelt, denn Roman, ein erfolgloser Autor «hätte» eines, ein Theater, hätte Dramaturgie, hätte, wenn nur nicht dauernd gestorben würde.

358ff3b7b9c054d48182fd1b2fcbcb82_f53Matthias Zschokke, geb. 1954 in Bern, aufgewachsen in Aargau und Bern, lebt seit 1980 als Schriftsteller und Filmemacher in Berlin. 1982 debütierte er mit dem Roman «Max», für den er den Robert-Walser-Preis erhielt. Zschokke veröffentlichte zahlreiche Romane, Theaterstücke und Spielfilme. Er wurde mit renommierten Preisen gewürdigt, darunter der Gerhart-Hauptmann-Preis, der Solothurner Literaturpreis und der Prix Femina étranger für den Roman «Maurice mit Huhn».
Für seinen Roman «Der Mann mit den zwei Augen» wurde Matthias Zschokke mit dem Eidgenössischen Literaturpreis 2012 ausgezeichnet und 2014 mit dem Großen Literaturpreis der Stadt und des Kantons Bern.

«Leute unseres Schlages mag man nicht sonderlich. Wir sind zu harmlos.»

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Nina Jäckle «Der lange Atem», Klöpfer & Meyer

Es dauerte, bis mich das Buch überzeugte, es kaufen zu müssen. Erst als ich es zum wiederholten Mal im Regal, zuletzt in der exzellenten Buchhandlung zur Rose in St. Gallen sah, schnappte ich es mir, in der Hoffnung eine Entdeckung zu machen. Und was für eine, eine Autorin, die es verdient, noch von vielen mehr entdeckt zu werden.

KLM_141_LAY_Jaeckle.inddAm 11. März 2011 rollte eine gigantische Welle über grosse Teile Japans, ein Land, das mit Beben aller Art zu leben schien. Aber was an Wassermassen über Japan hinwegschwappte, überstieg alle bisher gehegten Befürchtungen. Der Tsunami überflutete eine Fläche von 470 Quadratkilometern, soll eine Höhe von 16 Metern erreicht haben und zerstörte einen bis zu 10 km breiten und über Hunderte Kilometer langen Küstenstreifen. Im Bewusstsein des Westens blieb die damit ausgelöste Reaktorkatastrophe von Fukushima. All diese Schrecken jenes Tages und der darauf folgenden Jahre wären schon Grund genug, sich ins Bewusstsein zurückzurufen, was damals eine ganze Welt den Atem anhalten liess. Nina Jäckle ist aber nicht einfach «bloss» ein literarisches Denkmal gelungen. Nina Jäckle schlüpft in die Seele eines Japaners, der als Zeichner den unkenntlich gewordenen Opfern der Katastrophe ein Gesicht zurückgeben soll. Anhand von Fotos zeichnet er die Opfer zurück, damit den Angehörigen eine Identifizierung erst möglich wird. Für viele wird die Trauer erst fassbar, wenn die vom Wasser geschluckten Opfer als Tote zurückkehren. Während er immer tiefer in seine Aufgabe hineinrutscht, entfernt er sich immer mehr von seiner Frau, die wie alle von den Geschehnissen traumatisiert ist. Sie schaffen es nicht einmal mehr, sich in die Augen zu sehen, schauen sich bloss noch zu, jeder in seinem Leben und seiner Trauer eingeschlossen. So wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den Schrecken des Holocausts, schämen sich viele Japaner ihres Glücks überlebt zu haben. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Das Meer ist nicht mehr jenes Meer, das nährt und das Auge freut. Landschaft ist nicht mehr Landschaft, Vergangenheit mit einem Mal ausgelöscht und eine Zukunft kaum mehr vorstellbar. «Immer würde man versuchen, das zu sehen, was einmal da war, man konnte nur mehr das Fehlen sehen.»

Bild: Stephen Vaughan
Bild: Stephen Vaughan

Aoko war ein kleines Mädchen in der Nachbarschaft, das durch seine unbeschwerte Art leicht den Zugang zum kinderlosen Ehepaar gefunden hatte. Aber während dem Ehepaar durch «glückliche» Fügung ein verlorenes Leben blieb, wischte der Tsunami Aoko weg und mit ihr Hoffnung, Freude und Zukunft.

Nina Jäckle gibt genauso wie der Zeichner den Opfern der Katastrophe ein Gesicht, den tiefen Verletzungen in den Seelen der Betroffenen, der Unmöglichkeit, ihnen zu helfen, der Sprachlosigkeit gegenüber des gigantischen Ausmasses der Katastrophe, deren Halbwertszeit nicht abzusehen ist, auch wenn wir als Touristen das Meer längst wieder zu einem schmeichelhaften Freund gemacht haben. «Tausend Jahre müssen von nun an vergehen, sagen die Mütter zu den Vätern und sehen ihren Kindern zu. Seit jenem Tag sehen die Mütter und die Väter ihren Kindern auf andere Weise zu, sie denken in jedem Moment des gefürchteten Staubaufwirbelns die gefürchtete Zukunft ihrer Kinder mit.»

AU_JAECKLE_LNina Jäckle ist 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman »Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen.

Clip zu dem Roman «Der lange Atem» von Nina Jäckle (Produktion: clipsforbooks,
Musik: Felix Volkmann)

Brugger Literaturtage 2016: Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», dtv

logogebilde16Die Brugger Literaturtage sind besondere Tage, besondere Literaturtage! Wo werden Bücherfreunde wirklich eingeladen? In Brugg! Dort lässt man seine Gäste höchstens für die Räucherwurst mit Kartoffelsalat anstehen, aber nicht für des Fest im Literaturstädtchen Brugg. Die Stadt gönnt sich den Luxus eines stadteigenen Bücherfests, organisiert durch die Vereine Salzhaus und Odeon.

Ganz im Gegensatz zu vielen anderen, viel grösseren Kulturstädten, in denen ehrenamtlich arbeitende Vereine bei den Vorbereitungen zu einem Literaturfestival um jeden Franken betteln müssen! Peinlich dann, wenn sich solche Städte gar Buchstadt nennen. So verwundert es nicht, dass Brugg im Licht dieses Festivals leuchtet, das man mit viel Selbstbewusstsein und Tradition jedes Jahr im Wechsel mit der Partnerstadt Rottweil zum Blühen bringt, seit über 30 Jahren!

Neben Dana Grigorcea, Jonas Lüscher, Franz Dodel, Vera Schindler-Wunderlich, Reinhard Jirgl, Inka Parei, Andrei Mihailescu und Teresa Präauer war auch die in Berlin lebende Schaffhauserin Ursula Fricker mit ihrem Roman «Lügen von gestern und heute» (32. Literaturblatt!) Gast in Brugg. In ihrem vierten Roman, dem ersten, der sowohl in seiner Thematik wie in seinen Perspektiven weit über img_0065-1die bisher erschienen Romane hinausgeht, sind es Brüche, die die Autorin miteinander verwebt. Jener von von der jungen Isa, die mit der Familie bricht, getrieben nun endlich mit ihrem Leben Wirkung zu erzeugen. Jener von Beda, die mit ihrer Flucht aus dem Kaukasus mit ihrer Vergangenheit brach und im «neuen» Leben, in der neuen Stadt, im neuen Land wieder zum Abbrechen gezwungen wird; von ihrer Liebe, von ihrem wirklichen Selbst. Und jener von Innensenator Otten, der all die Brüche in seiner Vergangenheit spürt und jenen als Politiker, Vater und Ehemann, jenen, der ihn mit einem Mal einsam werden lässt. Ursula Fricker versteht es, viel Nähe zu den Protagonisten zu erzeugen, auch wenn der Eindruck aufkommen kann, die Autorin hege nicht gleichmässig Sympathien für jeden ihrer Protagonisten. Warum sollte sie auch! Beda verkörpert Wahrhaftigkeit, Otten die guten Seiten hinter allen Fassade, und Isa all jene, die mit grossen Idealen die Selbstreflexion, den Zweifel verlieren. «Lügen» im Titel, weil sie nicht einfach bloss schlecht sind. Fast jeder braucht sie, um sich aufrecht im Leben halten zu können.

5286Ursula Fricker, geboren 1965 in Schaffhausen. Sie lebt heute in der Nähe von Berlin. Tätig in der Theaterpädagogik und Sozialarbeit, arbeitete als freie Journalistin, u.a. für die SZ am Wochenende und den Freitag.
2004 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung, 2012 nominiert für den Schweizer Buchpreis, u.a. «Das letzte Bild» (2009), «Ausser sich» (2012), «Lügen von gestern und heute» (2016).

Ursula Fricker liest an der Schaffhauser Buchwoche!

Lorenz Langenegger «Dorffrieden», Jung und Jung

«Ohne Geschichten kann der Mensch nicht leben, denkt Wattenhofer. Zum Überleben mögen Wasser, Brot und Wärme reichen, zum Leben aber braucht der Mensch Geschichten. Und das Schöne an Geschichten ist, dass sie jeder selbst erfinden kann. Sie kosten nichts. Sie brauchen nichts. Sie sind einfach da. Sie sind überall.»

Wattenhofer ist schon seit einer gefühlten Ewigkeit Polizist in einem zwei mal zwei Kilometer grossen Fleck, irgendwo in der Provinz. Alles nimmt seinen Lauf, nebst Parkbussen, gelegentlichen Ladendiebstählen, Ermahnungen und dem Einerlei im neuen Büro, seinen regelmässigen Besuchen bei der alten Witwe des Gemeindepräsidenten und dem wöchentlichen Training mit den Junioren im hiesigen Fussballverein. Alles hat seine Ordnung. Wenn da nur nicht Wattenhofers Sorgen um den Frieden in den eigenen vier Wänden wäre. Erst recht, als wegen eines Schlüssels in der lange verschwundenen Sporttasche seines Sohnes das Gleichgewicht nicht nur bei den Wattenhofers zu schwanken beginnt. Seit einem Monat ist der einzige Sohn Stefan ausgezogen. size_150_image553Und ausgerechnet durch Wattenhofers Ermittlungen muss der Polizeiwachtmeister feststellen, dass sein Sohn, kaum abgenabelt, auf Konfrontationskurs mit der Staatsgewalt ist. Als ihm Helen, seine Gemahlin, offenbart, dass auch sie vor seiner Zeit einmal verbotene Rauschmittel ausprobierte und im Zuge der Opernkravalle für einige Stunden ein Gefängnis ausprobierte, und sich dann auch noch auf die Seite seines abtrünnigen Sohnes schlägt, der unter die Hausbesetzer gegangen ist, spitzt sich die Lage zu. «Wenn Helen ihm zwanzig Ehejahre lang verschwiegen hat, dass sie eine Nacht im Gefängnis verbrachte, welche Geheimnisse hat sie noch?» Aber Wattenhofer taugt nicht für Schlagzeilen und Filmstoff, allerhöchstens in seinen Fantasien, die ihn in unbedachten Momenten manchmal entgleiten lassen. «Der unerträgliche Unterschied besteht darin, dass bei den Tatort-Kommissaren die Philosophie, die liebende Frau, das Kind, die Imbissbude und der Ärger über Kollegen nur die Beilagen zu einem Mordfall sind, er hingegen kaut seit fünfundzwanzig Jahren darauf herum, als wären sie der Hauptgang.» Wattenhofer ist aus seinem Idyll vertrieben, mit der Erkenntnis, dass auch ohne Mord und Todschlag nichts mehr so ist, wie es einmal war. Da braut sich die Angst wie ein Sturm zusammen. Er muss feststellen, dass er stets ausserhalb der wirklichen Welt steht, nicht dazugehört, als Polizist höchstens Staffage ist. So stürzt sich Wattenhofer in seine Ermittlungen darüber, was ein Garderobenschlüssel und ein in lauter kleine Schnipsel zerrissenes Foto seines Sohnes mit dem schief hängenden Haus- und Dorffrieden gemein haben.
Lorenz Langenegger versteht als Theaterschreiber bestens, Dramaturgie zu inszenieren, ohne die Handlung an all den Krimistereotypen aufzuhängen. Es ist nicht der Kampf zwischen Gut und Böse, nicht die Verbrecherjagd, die Bedrohung des Dorffriedens, sondern der Kampf im Polizeihauptmann selbst. Wattenhofer lässt sich immer mehr in den Sog der Geschehnisse hineinziehen und sieht sich plötzlich gezwungen, unter Aufbietung aller zur Verfügung stehender Mittel seinen Frieden wieder herzustellen.
Faszinierend, wie das Lorenz Langenegger schafft, wie er Atmosphäre und Spannung erzeugt. Ein kleines Meisterwerk!

size_125_image386Lorenz Langenegger, Jahrgang 80, lebt und arbeitet als Schriftsteller in Zürich und Wien. Er studierte Theater- und Politikwissenschaft in Bern, wo seine ersten Arbeiten fürs Theater entstanden sind. Bei Jung und Jung erschienen bisher die Romane «Hier im Regen (2009) und zuletzt «Bei 30 Grad im Schatten».

Lorenz Langenegger liest an der Schaffhauser Buchwoche!

(Titelfoto: Sandra Kottonau)

literaturblatt.ch fragt, Teil 6, Daniela Danz antwortet.

Nachdem ich voller Begeisterung Daniela Danz letzten Roman «Lange Fluchten» gelesen hatte, schrieb ich ihr auf ihrer Webseite einen kurzen Kommentar, etwas das ich gerne tue, in der Hoffnung auf eine Reaktion. Prompt schrieb sie zurück. Und ein paar Tage später begleitete ich sei ein Stück auf ihrer Reise im Zug nach Bern an das dortige Lyrikfestival. Als ich am Romanshorner Hafen wartete, sah ich Sie zusammen mit Peter Stamm oben auf der Brücke über den Autos auf der Fähre. So bestiegen wir zu dritt den Zug und ich genoss ein interessantes Gespräch über Schule, Beruf und das Handwerk des Schreibens.

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
In erster Linie möchte ich wahrscheinlich Textgebilde schaffen, die mich beglücken. Beglücken deshalb, weil ich eine Sache nach meinen Vorstellungen formen konnte, etwas geschaffen habe. In zweiter Linie möchte ich auf diese Weise ein paar Fragen klären, die ich an die Welt habe und hoffe, dass die Antworten, die ich finde, auch anderen nützlich sein können. In dritter Linie brauche ich immer mal Geld für die nicht kleine Familie.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Das ist eine Frage, über die ich schon sehr oft nachgedacht habe. Also nicht in Bezug auf die anderen Künste; da hat die Konzentration auf die Schriftsteller wohl einfach den praktischen Grund, dass sie zwangsläufig ganz gut mit Worten umgehen können und sich auch gerne von sich aus zu Wort melden. Ich würde jetzt nicht unbedingt einen Schriftsteller aufsuchen, wenn ich Aufschluss über die Weltlage wünschte. Ich frage mich diese Frage aber in der Form: Ist der Autor verantwortlich für die Vereinnahmung und den Missbrauch seiner Werke. Die einfache Antwort ist natürlich: Nein, warum – wenn das Werk nach seinen ihm innewohnenden Maßstäben wahr ist. Und etliche Texte eignen sich ja auch gar nicht zum Missverständnis. Es gibt aber andere, die gerade in Grenzbereiche dieser in der Frage angesprochenen Verantwortung gehen und deren Anliegen es ist, den Leser zu irritieren und ihn seine Position aus der Irritation heraus finden zu lassen. Was ist mit denen?

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
DSCN4383_res_cropvMeine eigenen oder die des Lesers? Meine eigenen sowieso, s.o. Falls das auch bei anderen Menschen gelingen sollte, dann wohl am ehesten auf die Art, dass gefestigte Überzeugungen destabilisiert werden und derjenige muß sie dann wieder neu zusammensetzen. Was wir ja sowieso ständig im Leben tun sollten, sobald wir die Kapazität dazu haben. Ich würde gern der Welt die Komplexität, die wir ihr durch die täglichen Routinen (auch des Denkens und Fühlens) nehmen, wieder zurückgeben.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Eine echte Entdeckung war für mich der Autor Jürgen Kross, den ich im Frühjahr kennengelernt habe und dessen Gedichte ich sehr mag. Sie sind, geprägt von seinem Interesse an lateinischer Syntax, sehr fein gebaute syntaktische Versuchsanordnungen. Ich finde diese kleinen Irritationen und Bedeutungsverschiebungen durch Sprachmaterial wie Hölderlin es ja auch getan hat, das Wichtigste, was Lyrik leisten kann. Dabei sind sie aber ganz schlicht in ihrem Repertoire.
Wie ich Jürgen Kross kennenlernte, ist auch eine schöne Geschichte. Ich kannte den Namen gar nicht als ich in einer Buchhandlung in Mainz nach einem Geschenk suchte und mich über lateinamerikanische Literatur, von der ich wenig Ahnung habe, von dem Buchhändler des kleinen Ladens beraten ließ. Ich kaufte das empfohlene Buch, obwohl der Inhalt mir als Geschenk nicht ganz passend schien, aber alles, was er darüber sagte, war so überzeugend, dass ich ihn bat, das Buch für den Beschenkten zu signieren und mir eine Empfehlung hineinzuschreiben. Seine Schrift war bemerkenswert wie ja auch seine Ausführungen und wir unterhielten uns weiter, wobei ich herausfand, dass er selbst Autor ist.

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Hölderlin: Gedichte
Achmad Schamlu: Blaues Lied (leider der einzige ins Deutsche übersetzte Band und Farsi kann ich leider nicht)
Peter Waterhouse (ungefähr alles von ihm)

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Wir dämmen die Wände im Flur damit, aber das Projekt scheint auch bald abgeschlossen …

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
(Das Foto ziert den Anfang des Interviews.) Ich bin für drei Monate nicht in Deutschland, deswegen kann ich jetzt nur ein Bild vom Schreibtisch hier schicken. Der zu Hause ist sowieso zu groß fürs Bild, ich habe ihn mir über die Länge von anderthalb Wänden gebaut und er ist eigentlich immer ordentlich, weshalb er dann ja auch nicht in Frage kommt.

9783835318410lEine Abenteuergeschichte über die Abgründe des eigenen Ichs, eine moderne Legende – bildmächtig, geheimnisvoll, bezwingend.
Alles um Constantin herum scheint merkwürdig weit weg, auch wenn es auf den ersten Blick aussieht, als wäre alles in Ordnung. Tons lebt mit seiner Frau und zwei Jungen auf einem Grundstück zusammen; aber das Wort «zusammen» beschreibt es nicht ganz: Ein Haus hatten sie einmal bauen wollen, jetzt wohnen sie noch immer in provisorischen Containern in zwei Stockwerken, unten Cons, oben die Frau mit den Kindern. Etwas in Cons wirkt wie zerbrochen; er ist seit seinem «Aussetzer» bei einer Übung als Zeitsoldat, an den er sich nur vage erinnern kann, wie aus der Welt gefallen. Ja, die Welt ist ihm abhanden gekommen. Unfähig, sich von der Fokussierung auf ein Ziel zu lösen, das es nicht mehr gibt, gleitet Cons aus alten Freundschaften und aus dem Leben seiner Familie in eine richtungslose, nächtelange Pirsch.
Angelehnt an die Legende des römischen Feldherrn und Jägers Eustachius schreibt Daniela Danz ein radikales Buch über den Sog des Scheiterns und die vergebliche Tapferkeit eines Mannes, der sich noch einmal mit aller Macht der Fluchtlinie seines Lebens entgegenstemmt, bevor er in eine alptraumhafte Irrealität sich überschlagender Ereignisse gerät.

Porträt Daniela Danz

Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren und lebt in Kranichfeld. Sie studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Tübingen, Prag, Berlin, Leipzig und Halle und promovierte über den Krankenhauskirchenbau der Weimarer Republik. Seit 2002 ist sie freiberufliche Autorin und Kunsthistorikerin. 2010 gründete sie die Internationale Schülertextwerkstatt svolvi und bekleidet seit dieser Zeit einen Lehrauftrag an der Universität Hildesheim. Daniela Danz ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz und leitet seit Juni 2013 das Schillerhaus in Rudolstadt.

Vielen Dank an Daniela Danz! Anfang Oktober folgt das Interview mit Michèle Minelli. Seien Sie wieder Dabei!

 

literaturblatt.ch in eine nächste Runde!

literaturblatt.ch scheint am Leben zu bleiben.

Im Sommer 2015 schenkte mir mein «Schwiegersohn» die Domain literaturblatt.ch. Es sei an der Zeit, mehr und ein anderes Publikum zu erreichen, als mit den bisher gezeichneten und geschriebenen Literaturblättern. Im Frühling dieses Jahres schrieb ich meinen ersten Beitrag. Mittlerweile sind es 100 geworden und es soll weitergehen, wohlwissend, dass an ganz rudimentären Details noch mächtig geschliffen werden muss. Aber ich lese und schreibe weiter, ohne auf die von Hand geschriebenen und gezeichneten Literaturblätter zu verzichten.

In den Blog gute Bücher – auf die Literaturblätter die Rosinen!

Auf jeden Fall danke ich all jenen, die in irgend einer Weise auf mein Schreiben reagierten, meiner Frau als Erstleserin, meiner Familie als Motivator, den Freunden der Literaturblätter für die Unterstützung und all jenen, die in verschiedenster Form auf mein Geschreibsel reagieren.

Vielen Dank!
Gallus Frei-Tomic

Viel Applaus für den Autor Jan-Philipp Sendker, Standing Ovation für die ehemalige Buchhändlerin Marianne Nagel

Ein ganz spezieller Abend im Kulturforum Amriswil! Leser und Leserinnen feiern den letzten Teil der China-Trilogie von Jan-Philipp Sendker, den Roman «Am anderen Ende der Nacht», die SRF Literaturredaktorin und Bücherfrau Luzia Stettler für einmal mit einer Laudatio den Autor der Trilogie und ein ganzer Saal Marianne Nagel, die in der Bahnhofstrasse im thurgauischen Amriswil über 25 Jahre lang eine sorgfältig bestückte Buchhandlung führte und diese zu einem Begegnungsort werden liess.

Luzia Stettler, schon vor vier Jahren bei der Buchpremière von Jan-Philipp Sendkers letzten Romans «Herzenstimmen» dabei, hielt ihre Lobrede nicht allein für den Autor. Genauso für alle Leserinnen und Leser, die schon aus Sendkers erstem Roman «Herzenhören» über die Jahre einen Bestseller machten, ein Buch, dass sich zum Kultbuch mauserte und im kommenden Jahr nach einem Drehbuch des Autors verfilmt werden soll. Auch eine Lobrede auf all die kleinen, tapfer unabhängig bleibenden Buchhandlungen, solche wie die ehemalige Buchhandlung Nagel in Amriswil, die gemessen an den 13000 EinwohnerInnen mit 2500 verkauften Exemplaren von «Herzenhören» durch Überzeugung und Engagement Unglaubliches leisteten und leisten. Autoren wie Jan-Philipp Sendker wissen, was sie dieser Leidenschaft zu verdanken haben. Deshalb die Buchpremière seines neuen Romans in Amriswil, nicht in Hamburg, nicht in Berlin, nicht in München.
Was macht den Erfolg der Bücher von Jan-Philipp Sendker aus. Er schreibt authentisch, liebt seine Figuren und die Schauplätze. Man spürt, wovon er erzählt, nachdem er mit seinen intensiven Recherchen den Menschen in den entsprechenden Ländern zuhörte. Jan-Philipp Sendker schreibt ohne Kitsch über die grossen Themen des Lebens und schafft es, dass seine Bücher sowohl in China, Burma und in den USA gelesen werden. Er vertraut den Stoffen, ohne den Leserinnen und Lesern gefallen zu wollen. Sendker ist ehrlich, biedert sich nicht an, zeigt Mut, Themen aufzugreifen, in denen Zündstoff liegt, die verschlossene Länder für Leserinnen und Leser öffnen.

Dann erzählte Jan-Philipp Sendker. Er erzählte wirklich, fesselte einen ganzen Saal, nahm fast 300 Gäste mit auf eine Reise durch Buchhandlungen, fremde Gesellschaften und spannende Geschichten.
In den USA gibt es noch 2000 unabhängige Buchläden. Bei beinahe 350 Millionen Einwohnern eine unglaubliche Zahl. Dass dies auch für Autorinnen und Autoren zu einem Problem wird, nebst Kleinverlagen, ungewöhnlichen Buchprojekten, weiss Sendker aus eigener Erfahrung. Buchhandlungen, die es lieben, unabhängig zu bleiben, scheinen nicht nur in den Staaten auszusterben, diese kleinen subversiven Orte lebendiger Buchkultur, die sich den Kunden zum König machen. Läden wie jenen der Buchhändlerin Marianne Nagel, die am Schluss Sympathien und Dankbarkeit von einem voll besetzten Saal entgegennehmen durfte. Danke Marianne!

Am anderen Ende der Nacht Die China-Trilogie 3 von Jan-Philipp Sendker
Am anderen Ende der Nacht Die China-Trilogie 3 von Jan-Philipp Sendker

Zum Buch: Auf einer Chinareise erleben Paul und Christine einen Albtraum: Ihr vierjähriger Sohn wird entführt. Zwar gelangt David durch glückliche Umstände wieder zu ihnen, doch die Entführer geben nicht auf, sie wollen ihn zurück. Der einzig sichere Ort für die Familie ist die amerikanische Botschaft in Peking. Aber Bahnhöfe, Straßen und Flughäfen werden überwacht. Ohne Hilfe haben sie keine Chance, dorthin zu gelangen. Wer ist bereit, ihnen Unterschlupf zu gewähren und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen? Wem können sie trauen?
«Am anderen Ende der Nacht» erzählt von Menschen, die nicht mehr viel zu verlieren haben und sich gerade deshalb ihre Menschlichkeit bewahren. Ein Buch über jenen dunklen Teil der chinesischen Gesellschaft ohne ethisches, moralisches Fundament. Über Menschenhandel, ein Thema, das allerdings nicht nur in China grassiert.

24157_xlJan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asien-Korrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung «Risse in der Großen Mauer». Nach dem Roman-Bestseller «Das Herzenhören» (2002) folgten «Das Flüstern der Schatten» (2007), «Drachenspiele» (2009) und «Herzenstimmen» (2012). Seine Romane sind in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 3 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.

Wie der amerikanische Traum eines deutschen Autors wahr wurde – SRF

Bilder dieses Abends folgen!

(Titelzeichnung Lea Frei)

Alex Capus «Das Leben ist gut», Hanser

Alex Capus ist nicht nur Schriftsteller. Er besitzt und führt eine Bar, unweit der Aare, einen Katzensprung vom Bahnhof Olten weg. Die Galicia Bar. Eine Bar, die einst von galizischen Fabrikarbeitern gegründet wurde, um gemeinsam dem Heimweh zu frönen, und dieses mit dem Staub der Büez (Arbeit) runterzuspülen. Und weil Pedro Lenz, ein guter Gast in dieser Bar, einmal meinte: „Eine Bar? Das ist so etwas wie Facebook, einfach ohne Internet.“ wurde aus den Geschichten aus dieser Bar ein Roman.

Es braucht keinen Mord, nicht einmal einen Einschlag welcher Art auch immer, um einen Roman zu schreiben. Aber muss man ein Buch über Alltägliches lesen, «wenn der eine oder andere genug mit dem eigenen Alltag hadert»?
Für einmal schreibt und erzählt Capus «bloss» Geschichten, kein grosser Plot zieht durch den neuen Roman. Was mit «Mein Nachbar Urs» und «Der König von Olten» über einen schwarzweissen, Oltner Kater namens «Toulouse» seinen Anfang nahm, spinnt Capus weiter. Er setzt dem Alltag und all den kleinen und grossen Geschichten, die sonst versteckt und verborgen bleiben, ein Denkmal. Capus erzählt von Max, der seit 25 Jahren Ehe erstmals für ein paar Tage allein im Bett schläft. Tina, seine Frau, fährt beruflich weg und lässt ihn mit den drei Jungs allein in der kleinen Stadt, in der er sich wohl fühlt wie «ein Eber im Schweinekoben». Morgens, nachdem alle Jungs unterwegs sind, macht sich Max mit dem Rad auf zu seiner Bar, der Sevilla Capus Das Leben ist gut Final_MR3.inddBar, nicht weit vom Bahnof, eingeklemmt zwischen kubische Glaspaläste der Neuzeit. Eigentlich ist Max Schriftsteller, aber so gern er manchmal schreibt, so gerne tut er das, was im alten Gemäuer seiner Bar an Arbeit anfällt, sei es auch nur der Gang mit zum Altglas auf dem Handwagen zur Sammelstelle. Seine Bar ist der Ort seiner Geschichten, wie jene, die der Bar den Namen gibt oder jene, die erzählt, warum an der einen Wand ein Stierkopf hängt, der einmal in der Not gar ersetzt werden musste. Geschichten von Menschen, die Stammkunden in der Sevilla Bar sind und über deren Leben Max als Barbesitzer und -betreiber unweigerlich vielmehr erfährt, als sässe er zuhause allein hinter seinem Schreibtisch: Von Ismail, der nie zur Ruhe kommt, von Miguel Fernando Morales Delavilla Miguelanes, dessen Frau Max einen Korinthenkacker und Hochtonfurzer schimpft. Oder von seinem ehemaligen Lehrer Toni Kuster und seinem Cowboy-Freund aus den Everglades.

Bei einer Lesung im Gewölbekeller der Buchhandlung zur Rose in St. Gallen meinte Alex Capus, viele Autoren würden sich beim Schreiben eines neuen Buches vornehmen, nun endlich ein ganz anderes Buch zu schreiben, um dann, während des Schreibens festzustellen, dass es doch wieder ein ähnliches werden würde. Aber Capus hat seinen Vorsatz verschriftlicht. «Das Leben ist gut» ist ein Buch über einen Mann, der mit 55 Bilanz zieht, was viele tun, wenn sie soweit sind. Eine Geschichte über «fast nicht», genau das, was er beabsichtigte. Und er müsse festhalten, dass Ich-Erzähler und Autor nicht zwingend deckungsgleich sein müssen, selbst dann nicht, wenn fast alles dafür spreche.

Alex Capus erzählt, schwadroniert, driftet ab, zeigt sich selbstgefällig, selbstzufrieden, ohne dick aufzutragen. Erfrischend dabei ist, dass er durchaus mit spitzer Zunge auf die Welt schaut, um festzustellen, dass sein Leben «dereinst auf dem Sterbebett im Zeitraffer abgespielt, ein Standbild sein wird». Capus, ein Streiter für das Wahrhafte, ein Leben ohne künstlich erzeugten Kick, ein Loblied auf die Kneipe, wo Langweiler und Wahnsinnige eine Heimat finden. Ein Buch fürs Nachttischchen.

Capus_hf_i[1]Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem weitere Romane, Bücher mit Kurzgeschichten und Reportagen folgten. Alex Capus verbindet sorgfältig recherchierte Fakten mit fiktiven Erzählebenen, in denen er die persönlichen Schicksale seiner Protagonisten einfühlsam beschreibt. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane «Léon und Louise» (2011) sowie der Western «Skidoo» (2012).

Webseite des Autors

(Bild: Sandra Kottonau, Güttingen, CH)

Bodo Kirchhoff «Widerfahrnis», Frankfurter Verlagsanstalt

«Erinnerungen sollen wie Abschnitte in einem Handbuch sein, nur dazu dienen, in bestimmen Situationen die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge zu sagen, aber es sind Einflüsterungen, die einen betören oder mit Schwert erfüllen oder beides.»

Reither ist 64, hat seinen Verlag samt Buchhandlung liquidiert und seiner Wohnung mitten in Frankfurt den Rücken gekehrt. Er versucht Ruhe in sein aufgewühltes Leben zu bringen, nach der «Scheidung von seiner Lebensaufgabe», an einem stillen Ort im April mit Sicht auf den letzten Schnee. «Er hatte als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab.» Bis es an der Tür zu seiner neuen Wohnung klingelt und Reither mit dem Drücken der Klinke weiss, dass danach alles in ein anderes Licht getaucht sein wird. Sie heisst Leonie Palm, die vor seiner Tür steht und genau wie er den Kampf aufgegeben hat, sie mit Hüten, er mit Büchern. Mit der Frage «Was kann ich für sie tun?» beginnt das «Widerfahrnis», ein eigenartiges Roadmovie, denn sie besteigen das eingeschneite Auto der Frau, um gemeinsam in den Morgen zu fahren, aufzubrechen und bleiben sitzen in dem mobilen Arrangement, das einem ungewollt zu Nähe zwingt. Und weil die Zeit lange wird und die beiden irgendwann längst über den Morgen hinausgefahren sind, beginnen beide zu fragen und zu erzählen, nicht zuletzt darum, weil beide alleine geblieben sind, nicht nur an Menschen, sondern auch in der Welt. Reither wird in ungewohnter Heftigkeit mit seiner und der Vergangenheit seiner Begleiterin konfrontiert, erst recht, als sich ihnen nach einer turbulenten Fahrt bis nach Sizilien ein Mädchen in einem roten Fetzenkleid anschliesst. Ein Mädchen, das nicht spricht, keinen Namen nennt, etwas will, was sich nur erahnen lässt und zum Katalysator wird, bis die zaghaft aufgeweichte Situation zu eskalieren beginnt.
Cover-184x300Bodo Kirchhoff schreibt frei aller Sentimentalität über das Zusammenkommen zweier in die Jahre Gekommener, über das Hereinbrechen von Gegenwart und Vergangenheit, über die tiefen Schnitte ins Leben, die wohl vernarben aber nie verheilen, über zwei, «die Pleite gemacht haben, eben nicht nur mit Büchern und Hüten». Bodo Kirchhoff tut dies so kunstvoll, dass es mich als Leser zuweilen überrascht, mit welcher Leichtigkeit er schwierige, nicht zu beantwortende Fragen des Lebens in den Text verwebt. Er erzählt, als wäre die Novelle die Analyse des Geschriebenen selbst und macht den Text noch um eine Facette reicher. Eine Novelle, der alles birgt und doch nicht überbordet; von der zaghaften Liebesgeschichte bis zur Begegnung mit dem Flüchtlingselend in Sizilien. Reither wird gerettet, gerettet nicht durch Liebe, nicht durch den Aufbruch, sondern vom Faden eines afrikanischen Fischers.
Bodo Kirchhoff gelingt, was vielen misslingt. Er dringt nicht ein, weder in Personen, Geschichten oder Wahrnehmungen. Bodo Kirchhoffs Schreiben erzeugt Tiefe durch Präzision und Nähe. Nichts wirkt konstruiert und zurechtgebogen. Aber nach der Lektüre bin ich reicher!

JPEG_1394_140528Geboren 1948 in Hamburg, beschult in einem christlichen Internat am Bodensee, Ausbilder beim Militär und Eisverkäufer in Amerika. Ab 1971 studierte er Heilpädagogik in Frankfurt am Main. 1979 erschien seine erste Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag. Viele seiner zahlreichen Romane beschäftigen sich mit der Organisation von Intimität, etwa der Freundschaftsroman «Eros und Asche» oder die Paar- und Liebesromane «Wo das Meer beginnt» und zuletzt sein großartiges Meisterwerk «Die Liebe in groben Zügen». Ein Roman unter anderem über «die unstillbare Sehnsucht nach Liebe: die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam», den ein Kritiker als ein Liebesbrevier für Fortgeschrittene bezeichnete. Im Herbst 2014 erschien sein Roman «Verlangen und Melancholie» und wurde von der Kritik einhellig als großes Werk gefeiert.

«Geschriebenes ist die einzige Wahrheit, die sich korrigieren lässt.»

Mit «Widerfahrnis» gewinnt Bodo Kirchhoff den Deutschen Buchpreis 2016. Ich gratuliere!

Webseite des Autors

(Titelbild: Sandra Kottonau)

David Mitchell «Knochenuhren», Rowohlt

Was macht den Hype um das neue Buch von David Mitchell aus, den Autor, der mit der Verfilmung seines Romans «Wolkenatlas» viele neue Leserinnen und Leser neugierig machte? Die unglaublichen Verkaufszahlen? Die Tatsache, dass sowohl gestandene Kritiker wie der Literaturredaktor des Tagesanzeigers Martin Ebel oder der Mitveranstalter des Kaufleuten sich zu Lobeshymnen und Verzückungsäusserungen hinreissen lassen? Die perfekte Mischung aus Thriller, Sience fiction, Fantasy und Dystopie? Oder ist es gar der Mensch, David Mitchell, der so fern allen Allüren und so nah allen Fans scheint?

cover-david-mitchellDavid Mitchells Roman «Knochenuhren» ist eine Reise durch die Zeit, von 1984 bis 2043. Die Geschichte um Menschen, die sich ausserhalb der endlichen Zeit bewegen, die auf ganz verschiedene Art nicht unsterblich, sich selbst aber eine Tür über den Tod hinaus öffnen können. Mitchell beginnt die Geschichte in der nahen Vergangenheit, hinein in eine Zeit des Umbruchs bis in eine nicht allzu ferne Zukunft, wo das übrig gebliebene Öl nur noch einer kleinen Bevölkerungsgruppe zugänglich ist und von Menschen gemachte Katastrophen die Welt in die Anarchie reissen. Ein Roman um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, der ausserhalb der menschlichen Zeit ausgetragen wird.
1984, Holly Sykes, die fünfzehnjährig verraten von ihrer ersten grossen Liebe und der mütterlichen Umklammerung von zuhause abhaut, hört manchmal Stimmen, Stimmen, die sie nicht einzuordnen weiss. Und als dann auch noch ihr kleiner Bruder Jacko verschwindet, ein kleiner Junge, der sich nach einer schweren Krankheit so ganz anders als seine Kameraden entwickelt, gräbt sich Kummer und Schuld tief in die junge Seele Holly Sykes ein. Zudem wird sie auf ihrem vermeindlichen Trip in die Freiheit Zeuge eines Doppelmordes, der von einer fremden Macht aber gleich wieder aus ihrer Erinnerung gelöscht wird. Sie selbst aber bleibt für ein ganzes Leben im Fadenkreuz jener Macht. Erst im letzten Kapitel gehört die Erzählstimme wieder Holly Sykes, die weit über 70, irgendwo an der Küste Irlands, weit weg von all jenen Errungenschaften der Gegenwart, vergessen in einer apokalyptischen Zukunft, bedroht von Banden, einem ausser Kontrolle geratenen Reaktor und dem fanatischen Endzeitglauben einiger Nachbarn zu überleben versucht. Scheinbar vergessen in einer kleinen Welt zusammen mit zwei zu Waisen gewordenen Kindern.
 Scan 7Holly Sykes ist der rote Faden durch die weiten Räume des Buches. Aber so wie Erzählperspektiven ändern, so ändern auch die Tonarten der Sprache. Holly Sykes aber begegnet man immer wieder, sei es als Frau von Ed Brubeck, einem Kriegsreporter, der den Kampf zwischen seinen Pflichten als allzeit bereiter Kriegsreporter und brauchbarem Familienvater zu verlieren droht. Oder als Freundin des Schriftstellers Crispin Hershey, der, verwöhnt von den Erfolgen seiner ersten Bücher, den Tritt im Schreiben verloren hat und sowohl vom Verlag wie vom Literaturbetrieb bitter abgestraft wird. Hershey lächelt zuerst über Holly Sykes, die in einer ganz anderen Nische als er mit ihrem Buch über «Radiomenschen» den Erfolg wie einen Kometenschweif hinter sich herzieht.
Was mich an diesem 800-Seiten-Roman fasziniert, ist nicht so sehr der Ton seiner Sprache, sondern das Instrumentarium, mit dem Mitchell zu spielen vermag; die Fülle an Ideen, Bildern und Handlungssträngen, die Weite des Panoramas an Zeiten, Kulissen, Personen, Welten und Details. Ein Buch in Breitbandmanier, das wohl wie «Wolkenatlas» nicht lange auf seine Verfilmung warten muss. Aber so vielfältig Mitchells Spielarten sind, so sind es auch meine Leseeindrücke, die von maximaler Grenzbelastung, wenn es allzu sehr nach Fantasy riecht, bis zu wirklicher Verzückung, wenn der Autor im letzten Kapitel noch einmal das alt gewordene Leben Holly Sykes schildert, die in ihrem Kampf ums Überleben nicht nur gegen rüde Gewalt, sondern wie in der Gegenwart gegen religiösen Fanatismus ankämpfen muss, der jedem mit dem Schwert droht, der die Zeichen anders oder gar nicht deuten will.
Ein Buch über Plagen auf allen Ebenen, ein Buch, das unglaublich mitreisst und dessen Sog ich mich gerne hingab.

mitchell-david-c-leo-van-der-noort-2006David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancaster, studierte Literatur an der University of Kent, lebte danach in Sizilien und Japan. Er gehört zu jenen polyglotten britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die ganze Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem John-Llewellyn-Rhys-Preis ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. Sein Weltbestseller Wolkenatlas wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. David Mitchell lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Clonakilty, Irland.

Hompage des Autors