Eindrücke und Statements vom 16. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Das 16. Wortlaut St. Galler Literaturfestival war ein voller Erfolg. Für drei Tage war die Ostschweizer Metropole das Mekka der Literatur. 40 Gäste aus dem In- und Ausland beglückten Literaturinteressierte mit Lesungen, Performances, Gesprächen und Musik und boten spannende Impulse zum Festivalmotto «Hoffen und Bangen».

Ein sehr schönes Festival in St. Gallen, tolles Publikum, spannende Gäste, perfekte Organisation, gutes Essen. Vielen Dank dafür. Peter Stamm

© Timona Furrer
Dank an Ariane Novel, Gallus Frei und das ganze Festivalteam für Frühlingstage in St.Gallen – an Peter Stamm für die Einladung zum Carte Blanche am Sonntagmittag… und ein großer Dank an ein tolles Publikum: Schön war’s! Judith Hermann
 
© Timon Furrer
Ich durfte als Stadtrat die Begrüssungsrede halten. Ein kleiner Auszug davon: «Das Motto hat mich sehr bewegt und zugleich herausgefordert. Herausgefordert hat es mich in den vergangenen Tagen, wenn nicht Wochen, im Hinblick auf den vom OK an mich gestellten Auftrag, nämliche eine «Kleine Ansprache» zum Motto «Hoffen und Bangen» zu halten. Ich habe gehadert. Den Anstoss gegeben hat mir dann letzten Endes der Artikel im Tagblatt vom vergangenen Mittwoch, in dem Gallus Frei zitiert wird, dass ‘Texte etwas auslösen müssen – sei es Begeisterung, Faszination oder Verunsicherung’; ein Text dürfe nicht kalt lassen.» Persönliche Schicksale können und sollen im Literaturbereich verarbeitet werden. Das ist einem Publikum zuzumuten, meine ich. Danke, lieber Gallus, liebes OK für die Möglichkeit! Mathias Gabathuler, Stadtrat
 
© chrispix

«Lieber Gallus Frei, dieses Festival ist ein ganz besonderes Erlebnis gewesen. Vielen lieben Dank für die großartige Organisation und den schönen Leseort. Es war ein großes Vergnügen, vor dem Schweizer Publikum lesen sowie Rede und Antwort stehen zu dürfen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen!» Ewald Arenz

© Timon Furrer

«Quand on va de Genève à Saint-Gall, c’est comme traverser en un jour un immense pays. Et quand on arrive à la poste de Saint-Gall et qu’on est accueilli avec tant de sympathie, on se dit que ça valait vraiment le voyage. En merci, cher Gallus, de m’avoir laissé parler en public d’Un dimanche à la montagne, c’était une première en Suisse. Amicalement.» Daniel de Roulet

© Timon Furrer

«Was für ein schöner Sonntagmorgen! Die Matinee-Gäste, das Wetter und dir Betreuung vom Wortlaut-Team: alles wunderfrühlingsherrlichschön. Vielen Dank für die Einladung zu Wortlaut!» Michèle Minelli

© Sandra Kottonau

«Es war so erfreulich, wieder beim literarischen St. Galler Heimspiel mit dabei sein zu dürfen! Ich hatte – auch dank der tollen Moderatorin Cornelia Mechler – einen wunderbaren Anlass. Ein Heimspiel eben. Danke Wortlaut!» Christoph Keller

© Sandra Kottonau

«Es hat Freude gemacht, die grosse Bibliothek wie verzaubert zu sehen und immer wieder Leute zu beobachten, die Räume suchend herumeilten, um die nächste Lesung nicht zu verpassen, während andere in Sesseln sassen und lasen. Hoffen und bangen – beides Verben, die sich auf die Zukunft beziehen. Und auch ein Anlass, zu bemerken, dass sich in der Gegenwart Dinge erfüllen, die man sich gewünscht und nach denen man sich gesehnt hat!» Judith Keller

«Was erst als Notvariante erschien, entpuppte sich bei dem schlechten Wetter als goldrichtig: ein prallvolles Bibliotheks Café mit interessiertem Publikum. Die Sofabank als improvisierte Bühne gewährte zumindest einen Hauch von Strassentheater. Vielen Dank ans gesamte sehr engagierte Wortlaut Team.» Marcus Schäfer

Daniela Koch (Atlantis), Jo Lendle (Hanser), Bettina Spoerri (Geparden) und Moderator Jürg Ackermann (Tagblatt) © Philipp Neff
«Liebe Ariane und lieber Gallus, es war mir eine Freude, bei eurem schönen Festival dabei zu sein. Das Podiumsgespräch (Zukunft des Buches) war für mich sehr anregend und schlug klar Richtung «Hoffen» aus. Die Branche ist unter Druck, ja, aber sie ist auch stark und entwickelt immer wieder gute Ideen. Was man nicht zuletzt bei einem Festival wie Wortlaut in St. Gallen spüren kann!» Daniela Koch
 
Laura Vogt und Theres Roth-Hunkeler © Sandra Kottonau

«Ich trage das Wortlaut-Bändchen noch immer am Arm, damit die Erinnerungen an die Begegnungen mit Texten und Menschen, die der Literatur gewogen sind, immer wieder aufwallen. Ein grossartiges Festial habt ihr uns geschenkt. Vielfältiges Programm, tolle Moderator:innen, schöne Räumlichkeiten und heitere Atmosphäre. Ja, hoffen, hoffen, hoffen – das Bangen ist eh immer präsent. Grossen Dank für eure riesige Arbeit.» Theres Roth-Hunkeler

© Philipp Neff

«Grosses Dankeschön an das gesamte Wortlaut-Team. Dank Gallus Initiative durften wir im Café San Gall die Kurzlesungen geben. Eine riesen Chance und einmalige Erfahrung für uns Neulinge. Es war ein unvergessliches Erlebnis, an das ich gerne zurückdenke. Ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr, wenn St. Gallen sich wieder von seiner literarischen Seite zeigt.» Noreen

© Sandra Kottonau

«Danke dem ganzen Wortlautteam, allen Helfenden für die Gastfreundschaft, eure umsichtige Planung, ihr habt selbst an so viele Kleinigkeiten gedacht, die es so angenehm gemacht habe. Auch mir war es eine wirklich Freude dabei sein zu dürfen. Danke für das Vertrauen in unsere Arbeit. Dieser Dank gilt auch meinen beiden Gesprächspartnern Frédérik Zwicker und Ewald Arenz, es waren sehr persönliche und spannende Einblicke in ihre Geschichten.» Judith Zwick

© Philipp Neff

«Ein riesengrosser Dank an Ariane und das ganze Wortlaut-Team, dass ihr die «Lücke» so rasch, umsichtig und mit so unendlich grossem Engagement füllen konntet. Der Tag war rundum gelungen, meine Moderationen waren mir eine Ehre und Freude zugleich. Schön war auch, dass genügend Zeit zum Austausch blieb.» Cornelia Mechler

© Timon Furrer

«Vielen Dank für die schöne Einladung zum Wortlaut-Festival, es war mir eine Freude und Ehre, bei der Eröffnung mitzuwirken.» Svenja Flasspöhler

© Timon Furrer

«Es war wunderbar, Teil des Wortlaut Festivals zu sein und zu erleben, wie sich Menschen begeistern lassen für Texte, Gedanken, das gesprochene Wort.» Barbara Bleisch

© Timon Furrer

«Perfekt aufgegleist, deshalb – und dank rasanter Reorganisation des restlichen Teams – reibungslos über die Bühne gegangen. Es war uns eine Ehre, den Eröffnungsabend mit Hekto Super musikalisch zu begleiten. Und auch meine Lesung aus Carlas Scherben – wunderbar moderiert von Judith Zwick vor vollem Saal – war eine Freude. Herzlichen Dank Ariane, Diana, Rebecca, Karsten, Gallus und allen anderen für alles!» Frédéric Zwicker

© Sandra Kottonau

„Das Festival war super. Dass es in einer geöffneten, öffentlichen Biblothek stattfand, gab der Sache einen besonderen Charme. Vielen Dank für die super Organisition!“ Steven Wyss

© Philipp Neff

«Die Wortlautausgabe 2025 hatte ein sehr tolles Programm mit vielen guten wichtigen Frauenstimmen. Meinen eigenen Talk hab ich sehr genossen! Es war so erfrischend, voll inspirierend und ungeheuer ermutigend, mich mit den drei jungen Frauen Léa, Phoebe und Vera auszutauschen.» Lika Nüssli

© Timon Furrer

«Das Gespräch von meinen Maturandinnen Lara Hofstetter und Julia Mülli mit den american poets Jan Heller Levi und Jan Herman war berührend, tiefsinnig und von gegenseitigem Respekt getragen. Ich bin dankbar, dass ich es anregen durfte.» Florian Vetsch

© Sandra Kottonau

«Merci beaucoup pour l’invitation à St Gallen, c’était une joie de participer au festival!» Douna Loup

© Philipp Neff

«Dem ganzen Wortlaut-Team ein grosses Dankeschön für die Einladung und Möglichkeit, an diesem wunderbaren Literaturfestival eine Kurzlesung zu halten. Eine tolle Stimmung, anregende Gespräche und schöne literarische Momente. Ein grosses Merci.» Raphael Schweighauser

16. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Das 16. Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen vom 28. bis 30. März 2025

Wortlaut ist das literarische Frühjahrsereignis der Ostschweiz. 2025 wird es zum 16. Mal durchgeführt und findet vom 28. bis 30. März 2025 statt. Sämtliche Veranstaltungsorte wie Lokremise, Bibliothek Hauptpost und Grabenhalle sind fussläufig erreichbar und liegen bahnhofsnah. Ziel des Literaturfestivals ist es, die vielfältige Welt der Literatur einem breiten Publikum bekanntzumachen.

Wir alle schlagen uns herum mit Schreckensbildern, Katastrophenszenarien oder Zukunftsängsten. Übernimmt am Ende nicht ohnehin die Künstliche Intelligenz die Weltherrschaft? Es ist schwierig, in diesen Zeiten zu hoffen, wenn wir um unsere Demokratie und unsere Erde bangen müssen. Aber es soll nicht düster bleiben, im Gegenteil: Wir sind davon überzeugt, dass es sich lohnt zu «hoffen», auch wenn derzeit viele von uns «bangen». Und wo, wenn nicht in der Literatur, können wir diese Hoffnung finden?

Mit viel Freude laden wir Autor*innen nach St.Gallen ein, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Hoffen und Bangen auseinandersetzen. Wie gelingt es uns, als Gesellschaft wieder zusammenzurücken? Nur über gutes Streiten, davon ist die Philosophin Svenja Flasspöhler überzeugt. Gemeinsam mit Barbara Bleisch und der Band Hekto Super eröffnet sie das Wortlaut 2025.

Neben ganz wunderbaren Autor*innen, die am Samstag und Sonntag aus ihren Büchern lesen, setzen wir den Schwerpunkt genau darauf: auf Gespräche und den Austausch. Peter Stamm bekommt von uns die Carte blanche. Verleger*innen diskutieren über die Zukunft des Buches. Zwei Autorinnen aus zwei Generationen geben im Rahmen eines Werkstattgesprächs Einblicke in ihr Schaffen. Eine Uni-Seminargruppe und eine Gymnasialklasse bestreiten jeweils eine Veranstaltung mit Autor*innen, die sie selber eingeladen haben.

Mit Buslesungen und einem literarischen Stadtspaziergang wollen wir Ihnen eine Reise ermöglichen, die ausnahmsweise nicht nur im Geiste stattfindet.

Gemeinsam werden wir an diesem Wochenende gute Gründe finden, warum es trotz allem Anlass zur Hoffnung gibt.

Wortlaut ist zurück. Wir freuen uns auf Sie, liebes Publikum!

Infos zum Wortlaut

Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», edition bücherlese

«Nacherzählen ist auch Nachzählen, sage ich schon lange», schreibt die Protagonistin Anna ihrer besten Freundin (und Schwägerin) Ruth im Roman «Damenprogramm» von Theres Roth Hunkeler. Und etwas zwischen Abrechnung und Bilanz ist der Roman von Theres Roth-Hunkeler tatsächlich. 

Gastrezension
von Franco Supino

Eine Abrechnung mit dem Leben ihren Protagonistinnen, denn wer so unerbittlich ehrlich und stilistisch klar schreibt wie Roth-Hunkeler, macht es nicht wie die Sonnenuhr (und zählt die heiteren Stunden nur).  Und eine Bilanz ist der Roman, weil die beiden Freundinnen an der Schwelle zur Pensionierung auf ihr bisheriges Leben schauen: Das Arbeitsleben, das die beiden tüchtigen Frauen erfüllte, werden sie bald ablegen. Männer, die mal wichtig waren, sind abgehauen, verstorben (Thore, Max und Arno bei Anne) oder erweisen sich als unbrauchbar, so dass man sich von ihnen trennen muss (Jan bei Ruth) – was kann also dieser Lebensabschnitt, vor dem sie stehen, der sie mal ängstigt, mal zuversichtlich werden lässt, noch bringen? Dies auch in Anbetracht von Caro, Annas Tochter und Ruths Patenkind, einer labilen, suchtkranken Frau, die von einem selbstbestimmten Leben wie das der Mutter und der Tante nur träumen kann, und immer nur wieder einen Strich durch die wohlfeilen Rechnungen der Mutter zu machen im Stande ist.

Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», Edition Bücherlese, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-79-6

Kann, wer ungeschönt aufs Leben schaut, wer sich nicht belügt, zwischen verpassten Chancen und trüben Aussichten nur Schwarz sehen? Nein, nicht bei Theres Roth-Hunkelers «Damenprogramm». Unerwartet erhält dieser Text einen hellen Klang, denn die beiden Protagonistinnen lassen sich, (einmal mehr) nicht unterkriegen oder vom Selbstmitleid einlullen. Ruth stellt fest, dass sie beide, erlöst von Existenzsorgen, nun in der Situation ihrer Mutter, der Bankiersgattin, seien, die damals im Dorf im sogenannten Damenprogramm, also dem ehrenamtlichen sozialen Engagement im Kreise anderer gut gestellter Frauen, ihre Erfüllung sah (oder sehen musste). 

Ein solches, aber ganz anderes, politisch engagiertes Damenprogramm will Ruth, die auch ansehnlich geerbt hat, mit Anna initiieren. Anna ist erst nicht sehr begeistert, aber schliesslich … mehr sei nicht verraten! Nur der Schluss:  wie bei den Arztserien (die Anna so liebt) und wie beim einspaltigen Fortsetzungsroman, den Anna als Kind täglich in der Tageszeitung las, endet «Damenprogramm» augenzwinkernd mit dem «grossen Versprechen»; F.f. – Fortsetzung folgt. Denn das Leben im Gegensatz zu Geschichten hört nie auf.

Theres Roth-Hunkeler ist eine feste Grösse der Schweizer Literatur, seit sie 1991, eingeladen von Peter von Matt, einen Preis beim renommierten Ingeborg Bachmann Preis zugesprochen bekam. Sie hat seither sechs Romane veröffentlicht, dies neben Essays und Kurzgeschichten, und sie ist als Kulturvermittlerin tätig. Ihre Schaffenskraft beeindruckt mit jedem Text neu. Ob das Leben im Alter lebenswert ist? diese Frage stellt «Damenprogramm» – eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Aber wenn man so schreibt wie Theres Roth-Hunkeler, ist es uneingeschränkt lesenswert.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind die Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen bestimmt haben. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten sechs Romane publiziert, zuletzt das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter und den Roman «Geisterfahrten» (2021). In unregelmässigen Abständen meldet sich Theres Roth-Hunkeler mit ihrem Blog zu Wort.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Theres Roth-Hunkeler «Luftwurzeln», Plattform Gegenzauber

Die Zeit verdunstet. In den Parks sprechen Alte mit winterharten Vögeln und üben bereits die Litanei der Namen für den nahenden Frühling. Viele Freunde sind verschwunden in den letzten zwei Jahren. Himmelwärts, vermutlich, aber ohne Sang und ohne Klang. Die Begabten unter den Zurückgebliebenen, schüchterner denn je, skizzieren ein neues Heimweh und kaufen Postkarten: Meer und Himmel, abstrahiert in Strichen. Oder eine Carte Blanche, von ihnen dann beidseitig beschrieben: Lebst du noch? 
Die, die noch können, stolpern ungelenk über den Friedhof. Auf den Gräbern gutmütige Blumen wie Druckfehler im Gras. Viel Wind wühlt in fast tauben Ohren, fährt unter die Kleider der Schmächtigen und beinahe fällt sie der Föhn. Die Jahre mussten wir an der Grenze lassen, sagen die Toten.

In der Altersresidenz tobt das Heimspiel. Leib gegen Leben. Die Partie endet unentschieden. Es sind ja bloss Wörter, beschwichtigt Eine ihr einsilbiges Herz. Dieweil ihre Zimmernachbarin täglich Eigenschaften abgibt, eine nach der andern. Eine der Fröhlichen der zweiten Etage streicht unentwegt Teppichfransen glatt und stellt ein paar verpixelte Fotos nach. Flausen im Kopf, ausschliesslich. Ich muss hier schliessen, schreibt Einer im Einzelzimmer. Seinem Sohn. Schicke liebe Grüsse an dich und deinen Anhang. Dann ertränkt er seine Orchideen auf dem Fensterbrett, pünktlich wie jeden Tag. Um fünfzehn Uhr kommt die Pflegerin. Sie bringt Tee. Einen Lappen hat sie stets dabei. Für alle Fälle. Das sei doch keine Zuversicht, diese täglichen Überschwemmungen, stellt sie fest. Der Alte nickt. Stimmt, sagt er, und wir wissen wenig über Pflanzen. Stimmt auch, sagt die Pflegerin, vermutlich sind sie in einem der weichsten Momente entstanden.

Eine Glückliche lebt noch daheim. Ist bei sich. Dein Reich komme. Morgens, mittags und abends. Die Spitex. Die Augen wollen nicht mehr recht. Die Beine geben nur noch Kurzstreckentickets aus. Der Rest sei eine Sache des Willens. Und der Vorfreude auf den Frühling. Auf die Gartenarbeiten. Auf die Luft. Sie ist bald hundert Jahre alt. Sie macht täglich ein paar Übungen. Knie hochziehen, auf Zehenspitzen gehen, auf einem Bein stehen und dabei kurz die Augen schliessen. Nicht stolpern. Nicht fallen. Das sei im Alter das Wichtigste, sagt sie. Standfest sein. Im Gleichgewicht bleiben. Haltung bewahren. Ab und zu strauchle sie über die eigenen Regeln. Ich habe genascht. Der Herrgott werde ihr die lässliche Sünde nachsehen. Und, sie sei ready, im Fall. Jederzeit abholbereit. Dein Reich komme. Wobei, die Tulpen und die Narzissen in ihrem Garten würde sie doch gerne noch einmal sehen. Wenn sie es recht bedenke, seien Blumen schon immer ihre grösste Freude gewesen. Die Anemonen, die Osterglocken, der Sommerflor erst, die wilden Rosen, Astern und Dahlien im Herbst, und Erika und Christrosen schliesslich zu Allerheiligen auf dem Friedhof. Wo sie lieber nicht hin wolle. Sie wünsche, dass sich ihr letztes Bett im Garten befinde. Sorgst du dafür?

Und dann noch die uneinigen Paare. Einer von beiden ist aus dem Leim gegangen. Hat sich einen schlurfenden Gang angewöhnt. Kommt nicht mehr aus Morgenmantel und Pantoffeln raus, nicht mehr hoch aus dem Lehnstuhl. Zeitung und TV. Zwei, drei Gläser Rotwein, Weissbrot, Käse und Trockenfleisch. Dem andern ist das zu zäh. Nun beissen sie sich aneinander die Zähne aus. Getreulich.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind ihre Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen prägten. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten fünf Romane publiziert, zuletzt «Allein oder mit andern» (2019) und das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter.
Zu «Geisterfahrten» (2021): «Die Autorin versteht es meisterhaft, uns sowohl das unmittelbare Geschehen der Gegenwart vor Augen zu führen wie dieses mit vergangenen und nachwirkenden Hintergründen so zu verbinden, dass die verschiedenen Zeitebenen fliessend ineinander übergehen. So gelingt ihr ein psychologischer Familienroman, der auf kunstvolle Weise die faktische Realität der Vergangenheit mit dem Realismus einer fiktiven Gegenwart verbindet.» Daniel Rothenbühler

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas