Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.
Anmeldungen direkt an literaturhaus@wyborada.ch
17. September (Bitte bis Seite 98 in «Die Ränder der Welt» lesen!)
22. Oktober
12. November (im Gespräch mit Jens Steiner)
10. Dezember
7. Januar (im Gespräch mit Rebekka Salm)
Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!
Jens Steiner (1975), studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman »Hasenleben« erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“, „Mein Leben als Hoffnungsträger“ und „Ameisen unterm Brennglas“. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund
„Die Ränder der Welt“: Als Sohn estnischer Auswanderer wächst Kristian im Basel der Nachkriegszeit auf und freundet sich mit dem Nachbarsjungen Mikkel an. Mikkel rotiert wie ein Kreisel durchs Leben und macht sich, kaum erwachsen, auf nach Dänemark, wo er sich einer Gruppe junger Künstler anschließt. Und Kristian bald nachholt. Auch Kristian findet in Dänemark Inspiration für seine Bildhauerei. Aber dann schlägt Mikkel sein Leben aus den Fugen, indem er eine Affäre mit Kristians großer Liebe Selma beginnt.
Die Wut jagt Kristian durch die Welt, bis ins ferne Patagonien, wo er neu anfangen kann. Erst viele Jahre später reist Kristian wieder zurück nach Europa und erhält einen mysteriösen Brief, der ihn auf die kleine Fähre nach Christansø schickt…
„Statt geschmeidig den Markt zu bedienen, folgt Steiner als Autor seinen eigenen Interessen: mit einer gewissen Sturheit, aber auch mit Witz und sprachlichem Eigensinn.“ Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt
Rebekka Salm (1979), wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch „Das Schaukelpferd in Bichsels Garten“ (2021) erschienen. Bei Knapp erschien 2022 ihr vielbeachtetes Debüt „Die Dinge beim Namen“ und 2024 „Wie der Hase läuft“. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen.
„Rebekka Salm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.“ Elke Heidenreich über das Debüt „Die Dinge beim Namen“
„Wie der Hase läuft“: Amsterdam, 1943: In einer Bäckerei fällt ein Schuss, hinter dem Tresen stirbt ein junger Mann. Seine Witwe, fast noch ein Kind, flieht in die Schweiz. Fünfzig Jahre später verlässt im Basler Hinterland ein Familienvater Frau und Kind, in der gleichen Nacht liegt eine Frau zwischen zwei Dörfern tot am Strassenrand.
Jahrzehnte später begegnen Teresa und Mirco einander. Sie verlieben sich und versuchen sich an ihre Kindheit zu erinnern, die geprägt war von Verlust und Schweigen.
Mirco hat Angst, dass die Vergangenheit sich wiederholt, wenn man sie nicht ruhen lässt. Aber Teresa begibt sich auf Spurensuche und erschafft Stück für Stück ihre gemeinsame Geschichte.
«In ihrem neuen Roman entfaltet Rebekka Salm ein Panoptikum aus Geschichten und Erinnerungen zweier Familien, die sich nicht erinnern wollen – und die doch, ob’s ihnen gefällt oder nicht, Teil einer grossen Erzählung sind.»
Schlagwort: Rebekka Salm
Rebekka Salm «Chrüüfzere», Plattform Gegenzauber
D Chilchenuhr hett churz vor achti und im Chinderzimmer chäibet myni Chlyyni no immer uf em Chinderbett umme wie en chäärige Chirsichlöpfer. E Chilbi isch das, säg ich euch. Chääferig wie si isch, chrääsmelet si us eigener Chraft uf en umgcheerte Chratte näb em chriesböimig Chaschte, chniempet sich cherzegraad aane und chalbernäärscht denn wie nes chaabisdrööligs Chäigeli über s chloobige Kchaanapee derap ufe Chacheliboode, zmitz is Chlötzli-Chrausimausi, dezwüüsche Chrükcherli und verdrukcheti Chröömli, alles chrüzwyys. Wie das chäibed, chläppered und choldered, chasch chuum glaube. Es Chrippischrappis het si gmacht bim ummechalbere und ummechuugele, das Chrüüschelihäxli.
„Mach kchäi Chabis, Chnüschperli“, hani chooblig gchäibed und ha ufe Liechtschalter drükched und s Chämmerli isch dutzwytt chäibemeesig choolbrandschwarz worde.
Do isch dä chlyy Chnopf z Chopfede ufs Chopfchüssi gchläädered wie ufe Chanzle, het sich haupthööchlig und z chnüünlige aaneghökchled und het mit syyne Chueöigli so gross wie Choolchöpf gkchlimpered und gchüüscheled:
„Chunnsch mi cho chrüüfzere, Mami?“
Ui, was cha das Chutschi chüenzle und chüüderle noch allne Noote.
„Du chrampfchruttige Chnüüderi“, hani drum gchittered und däm Chnööpflibyyger s chruushöörige Chöpfli gchrääbeled. „Es isch doch scho chyttig. Und was zum chöödrige Chrottestächer isch denn ‚chrüüfzere‘ für es chäibs Chäppelerzügs? Isch das Chuuderwältsch?“
„Chrüüfzere isch e chäibe chöischtligi Sach“, isch es choo wie us dr Chäpselibischtoole und debyy isch mir das Chützli ufd Schänkchel gchläädered und het sich zhächligedikch an mich aanegchnuuschded wie ne Chlette. „Chasch mi drum bissoguet so lang chrüüfzere wies bruucht, um mit eme Chüechliseechter e Chrueg Chrälleliwasser zchluuribelze?“
„Äch chumm, du chlyyne Chluuri“, hani gchlööned, „chasch nid äifach chly chrööse. Und was isch denn das Chogechäibs, das Chrüüfzere?“
S Chindle het chatzefrüntlig syn Chambe uf mini Chittelfäkchte gchiered. Do hani in deere chäibe chaltlächtige Chäldnacht aagfange, sys Chruuseltschüppli z chnöötsche und z chüüderle. Jo, die ganzi chrooschpelig Chüürpse vo däm chlyyne Chlaus hani gchrööieled und gchräsmeled.
„Isch das chrüüfzere“, hani gchüüscheled und ha mit myne Chlööpe die chöischtlige Chaabisblätter gchrüüseled, gchriibeled und gchramsled.
„Chasch dänkche“, het dä chyydigi Chnoorzchopf gkchichered.
„In däm Fall isch das chrüüfzere“, hani gchischpered und ha s chnuschprig Chyyni gchnätted und gchrüüscheled und mit myne chnöpfige Chlöpfer, fascht scho Chnölpifinger syys, e chlyy uf em Chiifer ummekchlympered.
„Chaabis, Mami, het dä chatzenöigligi Chaschper gchäischbered. Hesch Chuuder in de Oore? Chrüüfzere söllsch mi, chumm.“
„Chas ächt syy, dass das chrüüfzere isch“, hani fangs chäibedäig gchyyschtered und ha die chäche Chnüü vo däm chummlige Chnülli gchlütterled, gchnutted und gchnöötscht und die verchruschtete Chlekch hani gstryychled.
Jo s ganze chöischtlige, gschmökchige und choge choschtbaare Chind hani phäkched und gchnuddled und churzschpitz chreftig an mi aaanegcheesed und ha gchlischpled:
„Oder ächt das? Isch das churzamänd das chrüüfzere, Chindgottes?“
Chöit dir euch voorstelle, was mir dä chlyy Chrott churz vor Mitternacht ändlich chogechäibelyys zur Antwoort gchuuched het?
Chhh.
Chhh.
Chhh.
***
Rebekka Salm besuch den Lesekreis Literaturhaus St. Gallen mit ihren Romanen im Gepäck. Wer Interesse an diesem Lesekreis hat, kann sich hier (Literaturhaus St. Gallen) oder hier (Veranstaltungen literaturblatt.ch) informieren und anmelden.
Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.
«Wie der Hase läuft» Rezension mit Interview
Beitragsbild © privat
Lesekreis „Gegenwartsliteratur“ im Literaturhaus St. Gallen – Rückblick und vielversprechender Ausblick
Überall gibt es sie – Lesekreise. Aber dieser eine in St. Gallen soll sich von allen anderen unterscheiden. Ein Begegnung mit Autorinnen und Autoren auf Tuchfühlung, im vergangenen Halbjahr mit Karl Rühmann und Mireille Zindel, im kommenden mit Rebekka Salm und Jens Steiner.
Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.
«Dienstagabend, sieben Uhr. Wir treffen uns im Bürgerratssaal des Stadthauses zur Abschlussdiskussion meines neuen Romans «Fest». Das heisst, Gallus holt mich am Bahnhof ab und spaziert mit mir durch die Innenstadt dorthin. Und so geht der Abend weiter: wärmend, nährend. Zwölf Teilnehmende des Lesezirkels, die sich in insgesamt drei Sitzungen eingehend mit «Fest» befasst haben, stossen in der Abschlussrunde auf mich. Ich erfahre, wie die Lektüre auf sie gewirkt hat, beantworte ihre Fragen und höre Dinge, die mich riesig freuen. Zum Beispiel, dass Ueli drei Monate lang kein anderes Buch lesen konnte, weil «Fest» ihn so sehr anging. Oder Dieter, der nach zwei Stunden ein Zitat aus dem Roman vorliest und das Gespräch so zu einem perfekten Abschluss bringt. Die direkte Begegnung mit Lesenden und das Gespräch mit ihnen ist äusserst wertvoll, nochmals ganz anders als bei Lesungen, intensiver, weil näher. Und es ist schön zu beobachten, wie sie das Buch – so scheint es – beinahe besser kennen als ich.» Mireille Zindel
Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!
Zwischen September 2024 und Januar 2025 werden dies an fünf weiteren Abenden Jens Steiner («Die Ränder der Welt«, Hoffmann & Campe) und Rebekka Salm («Wie der Hase läuft«, Knapp) sein.
Anmeldungen sind noch immer möglich. ➜ literaturhaus@wyborada.ch.
»Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe.« Gallus Frei, literaturblatt
Unten Getöse oben «Wie der Hase läuft» von Rebekka Salm am Literarischen Spaziergang am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad
Der Spaziergang in die Dalaschlucht zusammen mit der Schriftstellerin Rebekka Salm und einer Gruppe Unerschrockener versprach angesichts der Wassermassen, die das Wallis zudeckten, abenteuerlich zu werden.
Man versicherte uns einen gefahrlosen Ausflug in die Schlucht mit hängenden Stahlkonstruktionen, die einem einen spektakulären Blick ins tobende Wasser ermöglichen. Die grossen Wasser seien in den südlicheren Tälern übers Wallis hineingebrochen. Bilder von Zermatt schienen mit einem Mal etwas in die Ferne zu rücken.
Rebekka Salm las während des Spaziergangs zweimal aus ihrem zweiten Roman „Wie der Hase läuft“ und begeisterte dabei nicht nur mit ihrer Geschichte um Familiengeheimnisse, sondern auch mit dem Witz in ihrer Sprache und der Souveränität ihres Auftretens. Rebekka Salm spickte ihre Lesungen mit Anekdoten und der Frage in die Runde, ob wir denn alle sicher seien, dass das uns Erzählte in unseren Familien denn wirklich der Wahrheit entspreche. Dass Alex Capus, als er Rebekka Salms Erstling „Die Dinge beim Namen“ gelesen hatte, meinte „Die Schweiz hat eine neue Erzählerin“ ist mehr als bloss Feststellung.
Wie sehr Leukerbad nicht nur von landschaftlichen oder architektonischen Gegensätzen dominiert wird, sondern in diesen Tagen auch von literarischen, sprachlichen, schien bei diesem Spaziergang für einmal ausgeblendet. Ein Spaziergang vorbei an blühenden Alpwiesen, gemächlich wiederkäuenden, schwarzen Eringer-Kühen, die bloss mit ihren ausgeprägten Hörnen daran erinnern, dass man sie jedes Frühjahr in fünf Gewichtsklassen gegeneinander kämpfen lässt, hoch über die schäumende Dala, die seit Jahrtausenden die Felswände in dieser Talenge ausschleift.
Noch am gleichen Tag begegnen mir auf den betonierten Wegen im vom Geschäft mit Touristen kaputtgebauten Dorf eine blondierte Spaziergängerin mit Regenschirm und Hund. Das Tier ist bis auf die Pfoten in eine Pellerine eingepackt und schaut mich durch einen plastivizierten Seeschlitz an, als würde er um Befreiung betteln. Einige Meter weiter schiesst ein paar Armlängen vor mir ein Rehbock aus der Baubrache eines seit Jahren abgesperrten Geländes über den Weg, springt in eleganten Sätzen über den Weg hinein in eine andere Brache, auf der sich mitten im Dorf das Dickicht eines Jungwäldchens ausbreitet.
Das Internationale Literaturfestival Leukerbad ist für mich deshalb ein Fixpunkt in meinem Terminkalender, weil ich hier Autorinnen und Autoren antreffe, die längst zu Fixsternen des Literaturbetriebs geworden sind, wie Anne Weber, Frank Witzel, Teju Cole, Marlene Streeruwitz oder Thomas Hettche neben Geheimtipps wie Douna Loup oder Rebecca Gisler. Leukerbad wird während dieser Tage zu einem Mekka des Wortes, zu einer Stätte, an der man angesichts der globalen Ungeheuerlichkeiten nach Sprache ringt.
Rebekka Salm «Wie der Hase läuft», Knapp
Zu glauben, die eigene Geschichte, die Geschichte der Familie, würde sich wie eine lange Kette Perle an Perle aneinandereihen, sie bestünde aus Nacherzählbarem, erliegt dem Irrtum, Geschichten wären Geschichte. Rebekka Salm erzählt von einer jungen Frau, die erkennen muss, das die Suche nach Klärung sich in einem Knoten offener Enden verstricken kann.
Was wir aus unserer Geschichte und den Geschichten unserer Ahnen mitnehmen, sind Versatzstücke. Mit der Wahrheit ist es wie mit den Sternen. Einige leuchten hell, die sehe man sofort. Andere seien zu schwach, um sie von blossem Auge sehen zu können, sagt Heinz zu Teresa, der Protagonistin in Rekekka Salms zweitem Roman „Wie der Hase läuft“. Teresa, die in Heinz Karres Brockenstube arbeitet, all den gestrandeten Dingen ein Preisschild anbringt und sie mit Geschichten belegt, Geschichten die die Dinge mit Bedeutung versehen.
Wir interpretieren, was wir aus unserer Perspektive sehen. Wir geben Geschichten Bedeutungen, Gewicht. Teresa ahnt, dass in der Geschichten ihrer Familien schwarze Löcher jene Geschichten bedrohen, die ihr Selbstverständnis ausmachen. Nicht zuletzt darum, weil jene Menschen sterben, die erklären und klären könnten, was nie zu Ausgesprochenem wurde. So wie die Grossmutter ihres Mannes, Emma, die nach dem Tod ihres zweiten Mannes zurück in ihre Heimatstadt Amsterdam siedelte, dorthin, wo ein Mord sie einst aus ihrem Glück spülte. Teresa muss zusammen mit ihrem Mann Mirco die Wohnung der Grossmutter räumen, Zimmer voller Erinnerungen, voller Zeugnisse eines Lebens, das mit dem Tod Geschichten und Geschichte ins Vergessen reisst.
Mirkos Grossmutter Emma hatte schon vor ihrer Heirat mit ihrem Grossvater eine Geschichte. Damals gab es einen Mann, gab es Cees, mit dem sie verheiratet war. Ein versprochenes Glück, das nur ein paar Monate dauerte, bis in Cees Bäckerei 1943 ein Schuss fällt. Bis ein junger deutscher Soldat seine Walter zieht, weil Cees nicht aufhört, dieses eine Lied „Oh, du lieber Augustin“ zu singen, jenes Lied, das den Soldaten peinigt, weil es jenen Schmerz zurückbringt, vor dem er in der Uniform der Wehrmacht zu fliehen versucht. Der Soldat schiesst und Cees stirbt in den Armen seiner Frau, in Emmas Armen. Emma kommt in die Schweiz zu einer Tante, beginnt ein neues Leben, heiratet den schweigsamen Bruno, gründet eine Familie. Eine Familie, in der sich der Alp fortsetzt, ein Alp vor dem sich Teresa fürchtet, vor dem sie sich manchmal einschliesst in einem Schrank in der Brockenstube ihres Chefs. Weil der Schrank jener Ort ist, in dem sie Ordnung sucht, Erklärungen, in dem sie die Versatzstücke zuzuordnen versucht.
Wenn du wissen willst, wohin der Hase läuft, musst du wissen, aus welcher Richtung er gekommen ist, sagt sie zu ihrem Mann Mirco, der die Versessenheit seiner Frau nicht nachvollziehen kann. Ich muss Licht ins Dunkel bringen. Die Fallgruben markieren. Mirko will keine Antworten. Ihm genügen seine Ahnungen. Erst recht, weil Teresas Grossvater Wede damals im Krieg als junger Soldat in Amsterdam stationiert war. Erst recht, weil Teresa weiss, dass jener Soldat, der den ersten Mann jener Grossmutter in dessen Bäckerei in Amsterdam erschoss, den selben Namen trägt wie ihr Grossvater.
Teresa beginnt zu fragen. „Wie der Hase läuft“ erzählt Geschichten ihrer Eltern, Geschichten von Mircos Eltern, von den Grosseltern, all jener, die Spuren in ihrem Leben hinterliessen. Geschichten, die ahnen lassen, dass die Fassaden, hinter der sie sich verbergen, ganz andere Geschichten erzählen. Geschichten von Untaten, Geschichten von Entzweiung, Geschichten von Wunden. Während Rebekka Salm in ihrem Debüt „Die Dinge beim Namen“ das Geschichtengeflecht eines ganzen Dorfes in der Horizontale erzählte, ist „Wie der Hase läuft“ ein Geflecht in der Vertikalen, in der Zeit, über drei Generationen, in den Wirren der Historie, in den Leerstellen des Verborgenen. Rebekka Salms Roman ist nicht der Versuch „Licht ins Dunkel“ zu bringen, sondern die erzählte Erkenntnis, dass Wahrheit nicht zu greifen ist. Ein beeindruckender Zweitling!!
… und mindestens ein Grund für eine Reise nach Leukerbad ans Internationale Literaturfestival vom 21. – 23. Juni 2024!
Interview
Romane vermitteln, vielleicht zu oft, den Eindruck, sie würden Ordnung in Geschehnisse, in die Geschichte bringen. Aber sowohl die Historie, wie die ganz eigene Geschichte, ist die der Auslassungen, des Vergessenen, Verschwiegenen, Überblendeten. Ist „Wie der Hase läuft» die erzählte Widerlegung?
Eine Widerlegung vielleicht nicht – eher eine andere Sichtweise darauf. Oder eine Grossaufnahme des Stoffes, aus dem die vermeintliche Ordnung besteht. Ich glaube, dass wir als Menschen bestrebt sind, unser Leben und das Leben unserer Familie in eine konsistente und sinnhafte Geschichte zu verpacken. Aus diesen Geschichten wiederum konstituieren wir unser Selbstbild. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich selbst, mache es nicht anders. Auch ich brauche Ordnung (Daten, Namen, Erlebnisse, die alle schnurstracks und unverschnörkelt zu mir und dem heutigen Tag führen). Und doch glaube ich, dass diese Kausalitäten, die wir herstellen aus erzählten Fragmenten und Erinnerungen viel lückenhafter und viel weniger «objektiv wahr» sind, als wir uns das einzugestehen getrauen.
Sterben Menschen, sterben Ahnen, dann reissen sie Geschichten mit ins unwiederbingliche Vergessen. Selbst wenn wir in Wohnungen Verstorbener Ding für Ding in die Hand nehmen, ist ihnen die Bedeutung genommen. Erinnerungen werden zu reinem Material. Sie rematerialisieren sich. Du bist Mutter einer Tochter, Tochter einer Mutter. Ist die Art deines Erzählens die Vergewisserung, was Geschichte mit uns macht? Dass es nicht bloss die eine Sichtweise gibt? Dass es entscheidend sein kann, ob man die Fähigkeit des „Sich-hineinversetzens» erlernt?
Geschichten sind leicht und flüchtig wie Gas. So zumindest stehts im Roman «Wie der Hase läuft». Man kann sie – im Gegensatz zu den materiellen Hinterlassenschaften – schlecht greifen, nicht festhalten, ihren Wert nicht in Geld bemessen und auch nicht ihren Einfluss auf unser Selbstbild. Sind wir es, die Geschichten erfinden oder erfinden die Geschichten nicht viel eher uns? Es spielt eine Rolle, welche Geschichten meine Mutter mir erzählt hat und welche ich meiner Tochter erzähle. Es spielt eine Rolle, ob ich die Geschichten laut erzähle und mit stolzgeschwellter Brust oder ob ich sie verschämt flüstere. Es spielt eine Rolle, was man mir verschwiegen hat – aus Angst oder Unvermögen – und was ich wiederum verschweigen werde. Aber schlussendlich geht es vielleicht auch darum, dass wir lernen loszulassen und jede*r für sich die Wahrheit findet, die für sie*ihn lebbar ist.
„Die Dinge beim Namen» war ein erzähltes Netz über ein ganzes Dorf, ein Erzählen in die „Horizontale» mit punktuellen Bohrungen in die Vergangenheit. Dein zweiter Roman scheint einem vertikalen Prinzip zu folgen, einer versuchten Bohrung in die Zeit, über drei Generationen und darüber hinaus. War das das Resultat der Erkenntnis, dass ein Zweitling dem Erstling nicht einfach folgen darf?
Ich denke beim Schreiben viel weniger strategisch, als ich vielleicht müsste. Ich habe «Wie der Hase läuft» nicht in Abgrenzung zu meinem Debüt geschrieben. Sondern vielleicht eher in Ergänzung? In beiden Romanen geht es um die Macht von Geschichten und die Frage, wie sicher wir uns eigentlich sein können, dass das, was wir für die Wahrheit halten, auch wirklich wahr ist. Aber im Vordergrund stand die Lust am Schreiben einer Familiengeschichte, am Detektiv-Spiel in Raum und Zeit, am Verwirrspiel: Was ist History und was «nur» Story?
Ein Leben auf der Flucht …. Ein Leben in steter Angst, entdeckt und gefressen zu werden. Wir können dem nicht entfliehen, was wir verursachen. Weder die ProtagonistInnen in deinem raffiniert konstruierten Roman, noch wir, die wir uns den Geschichten aussetzen. Die Tatsache, dass wir gefressen werden, freut die Pharmaindustrie und TherapeutInnen aller Couleur. Wir haben es noch längst nicht geschafft, das Schweigen zu durchbrechen. Teresa muss sich selbst befreien. Belügen wir uns selbst, indem wir glauben, Ängste, Verletzungen, ein Alp liesse sich „heilen»?
Heilen finde ich ein grosses Wort und eine nicht minder grosse Aufgabe. Ich bin aber auch keine Psychotherapeutin. Vielleicht geht es mir in meiner Deutung weniger um heilen und mehr um integrieren. Es gab schlimme Erlebnisse in meiner Familie, in meiner Kindheit? Ok. Sie gehören zu mir. Es gibt Lücken in meiner Geschichte, die nicht (mehr) zu schliessen sind? Gut. Auch sie gehören zu mir. Der Stoff, aus dem mein Leben besteht, ist weit weniger heil als ich es möchte – er ist löchrig, er hat dunkle Stellen. Aber es ist eben mein Stoff.
Teresa arbeitet in einer Brockenstube. Ein Ort voller toter Erinnerungen. Sie erzählt den KundInnen in den vollgestellten Räumen Geschichten zu den Dingen, gibt ihnen Bedeutung zurück. Unsere Wohnungen, unsere Zimmer sind vollgestellt mit Erinnerungen, materialisierter Geschichten. Wenn wir sterben, ist ihnen der Zauber genommen. Aus Erinnerungen wird wieder reines Material, dass tonnenweise entsorgt wird. Brauchen wir all diese Erinnerungen, um uns zu vergegenwärtigen, um unserem Leben wenigstens den Anschein zu geben, eine Spur zu hinterlassen?
Ja. Und gleichzeitig scheint mir diese Antwort zu einfach. Wir kaufen und horten auch Dinge, weil sie schön sind. Weil wir uns daran freuen können Zeit unseres Lebens. Weil sie uns das Leben bequem machen. Weil sie die Bojen sind, die über Geschichten schaukeln, die wir gerne erzählen. Weil diese Geschichten uns an das kleine Glück erinnern – und manchmal auch an das grosse.
Rebekka Salm ist Gast am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad vom 21. – 23. Juni 2024!
Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.
Beitragsbild © Frederike Asael
Rebekka Salm «1943», Auszug aus einer noch unveröffentlichten Arbeit, Plattform Gegenzauber
Vor dem Zugfenster lagen Äcker, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelte Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und dann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In zwei Wochen war Weihnachten. Ihre Schwägerin Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage bei ihr zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.
Nicht genug Geld.
Nicht genug Kraft.
Sie sah Bahnhofsgebäude vorbeiziehen, ohne Rauchwolken an den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. Bahnübergänge mit hochgezogenen Schranken verharrten im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf. Träge schoben sie sich in den bleiernen Himmel über ihnen. Und obwohl die Vögel in Bewegung waren, schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.
Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.
Emma hatte sich an einem Sonntagnachmittag im September mit einer Freundin im Ufa-Kino am Rembrandtplein mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke verabredet. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Hans Rühmann. Ein durchwegs banaler Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, fror das Bild auf der Leinwand ein und die Lichter im Saal gingen an.
«Wussten Sie, dass jedes Mal, wenn der Film reisst, er durch das Kleben ein Stückchen kürzer wird?»
Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie sofort Mitleid hatte, mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel lustig auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzen die Socken durchs aufgeplatzte Leder.
«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er verschwindet?», fragte Emma nun ihrerseits. Der Fremde lachte und hielt ihr die Hand hin. Elf Monate später hatten sie geheiratet. Nur sie beiden und die Trauzeugen, Cees Schwester Lieke und Emmas Bruder Willem.
Emma zog den Goldring aus ihrer Manteltasche, der an einem Haken neben dem Fenster hing. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Material war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie sich im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm verabschiedet hatte.
Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Vor altjid» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» lediglich eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, da war sich Emma sicher, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte dennoch niemand anders verantwortlich sein als er.
Sie griff ein weiteres Mal in die Manteltasche und fischte Foto und Postkarte raus. Das Foto zeigte Cees und war im Jahr ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Cees hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Die Augen direkt auf die Kamera gerichtet, einen Hunger im Blick. Hunger auf sie.
Hunger auf das Leben, das vor ihm lag.
Cees war nicht satt geworden.
Je mehr Emma sich zu erinnern versuchte, an die vielen Details, die alle zusammen Cees ausgemacht hatten, umso weniger gelang es ihr. Er war zu einem dunklen Fleck vor ihrem inneren Auge geworden. Ganz so, als hätte sie ihn zu lange im Gegenlicht betrachtet und dann den Blick auf den Schnee vor dem Zugfenster gerichtet. Mit jedem Meter, den sie sie sich ratternd von Cees entfernte, sah sie die Umrisse der Leerstelle, die er hinterliess, deutlicher.
Distanz schaffte Klarheit.
Heilung verschaffte sie nicht.
Ihr gebrochenes Herz rief mit jedem Schlag nach Cees wie ein kaputtes Morsegerät.
Emma hatte ihn einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie war mit ihrer Schwägerin am Grab gestanden. Beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert, in der Hoffnung, sie mögen ihnen Halt vor dem Ertrinken bieten. Emmas Bruder war zu dieser Zeit bereits im Untergrund und schrieb für die Widerstandszeitung «Het Parool». Ob er noch lebte oder nicht, Emma wusste es nicht. Nur mit einem Koffer war sie danach zu Lieke und den drei Kindern gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Ihr Mann, ein jüdischer Kaufmann, war bereits Monate zuvor in Richtung Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, die Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag war der Briefträger an ihrer Haustür vorbeigegangen, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.
Emma hatte sich bei Lieke ins Wohnzimmer gesetzt, auf den Sessel aus grünem Samt und mit den schwarzlackierten Armstützen. Dort hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwendet, nicht auseinanderzubrechen.
Sie spürte die Risse, die sich unter ihrer Haut über den ganzen Körper zogen, sich mehrfach kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten rieben sich an ihrem Fleisch, machten sie wund, so dass jede Berührung, jede Umarmung ihren Schmerz vergrösserte. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, weinte nur, wenn niemand in der Nähe war. Das Ticken der Wanduhr mit den goldenen Zeigern, die im Wohnzimmer über dem Buffet aus Walnussholz hing, waren die Sprossen, an denen sie sich aus der Dunkelheit hinaus zurück ins Leben hangelte.
Tick-tick-tick.
Jeden Tag aufs Neue. Nur um nachts wieder ins Bodenlose zu fallen. Sie war eine Art weiblicher Sisyphos. Mit dem Unterschied, dass sie dem Tod kein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Tod ihr.
Ab und zu spielte sie mit den Kindern. Doch wenn sie ehrlich war, ertrug sie den Anblick der drei Buben kaum. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen erinnerten sie Emma zu sehr an Cees. Ruben, der älteste, schien sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels geerbt zu haben. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, wollten sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Sie wollte nach Paris, den Eiffelturm besteigen, durch den Louvre schlendern und unter herausgedrehten Markisen Milchkaffee trinken und dabei den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach den Krumen zwischen den Pflastersteinen pickten. Cees wollte in die Bretagne, gegen den Wind der Küste entlangwandern, Weissbrot in Sud tunken, in dem Muscheln mit weit aufgerissenen Mündern lagen und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.
Italien hatte bereits kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Hitler von den Alliierten besiegt und Europa befriedet werden würde. Und dann würden sie losziehen, Emma und Cees. Für immer war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.
Gott hatte anders entschieden.
Dieser Gott, der anstelle eines Herzens ein harter Laib Brot in der Brust hatte.
Sie glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die ältere Dame auf der anderen Seite des Gangs blickte schon wieder von ihrer Zeitung hoch und warf Emma missbilligende Blicke zu. Der Stoff hinter ihrem Kopf, der das Polster vor Abnutzung schützte, war so zerknittert wie ihr mürrisches Gesicht.
Draussen zerteilte Schneeregen den Himmel von oben links nach unten rechts. Die Flocken am Fenster konnten sich nicht halten, ergaben sich der Wärme, die aus dem Zugabteil zu ihnen herausdrückte und rutschten weg, hinterliessen nichts als feuchte Spuren auf Emmas Spiegelbild.
Ein Tropfen fiel auf die Postkarte auf ihrem Schoss.
Sie war von Beatrix. Auf der Vorderseite das Bild einer Holzbrücke, die über einen Fluss führte, dahinter ein Kirchturm, der über Häuserdächer ragte.
Berge waren nirgends zu sehen. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus nichts als Berge bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.
Beatrix war eine Freundin ihrer Mutter. Als Kind waren die beiden in Leiden in dieselbe Schulklasse gegangen und anschliessend hatten sie im gleichen Betrieb eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Beatrix war die Trauzeugin gewesen, als Emmas Eltern geheiratet hatten. Anfangs der zwanziger Jahre war sie dann ihrem Ehemann, einem Geschichtsprofessor, in die Schweiz gefolgt. Emma hatte Beatrix danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.
Nach Cees Tod hatte Emma ihr einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Liekes hatte geweint.
Aus Freude, dass Emma einen Weg nach draussen offenstand.
Aus Enttäuschung, dass die Postkarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.
Rebekka Salm, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen. 2022 erschien bei Knapp ihr Debüt «Die Dinge beim Namen«. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur.
Beitragsbild © Timo Orubolo
Rebekka Salm «Die Dinge beim Namen», Knapp
Ein Dorf im Irgendwo; ein paar Häuser, eine Selbstbedienungstankstelle, ein Laden, eine Schule, ein Wirtshaus, eine Metzgerei, eine leere Kirche. Ein Roman von einem, der heimlich schreibt, einem pensionierten Polizisten, einem Etablissement, vielen toten Käfern und Geheimnissen, die wohlweisslich unter dem Teppich der Normalität bleiben sollen, auch wenn man sie dorthin prügeln muss. „Die Dinge beim Namen“ redet mit viel Liebe Tacheles. Das Romandebüt von Rebekka Salm ist eine Perle!
Es gibt Bücher, die unterhalten. Es gibt aber auch Bücher, die offenbaren. Es gibt Bücher, die mir gefallen. Es gibt aber auch Bücher, die mir mehr als nur gefallen, die mich beeindrucken, die bei mir eine Welle der Bewunderung auslösen, mich rauschig machen, mir die Kraft der Literatur beweisen, jene schöpferische Kraft, die vom Kunstwerk, dem Buch, auf mich, den Leser, herüberschwappen. Das sind jene Bücher, die man nach der Lektüre nicht so einfach ins Bücherregal schieben will, denen man für eine Weile ein samtig rotes Kissen und einen Scheinwerfer gönnt.
«Gewohnheit macht Liebe. Und Liebe macht Gewohnheit.»
„Die Dinge beim Namen“ von Rebekka Salm ist so ein Buch. Ein Dorfroman, von denen in den letzten Jahren inflationär viele erschienen sind. Aber einer, der es in sich hat. Der das Dorf und all seine Mechanismen vorführt und entlarvt, dieses scheinbar feine Geflecht, das sich wie ein klebriges Gespinn um die Füsse der Bewohner wickelt und unausweichlich stolpern lässt. Kein prosperierendes Dorf, auch wenn es eine Neubausiedlung gibt. Aber dort wohnen bloss Leute, die morgens in ihren klimatisierten Autos aus der geheizten Tiefgarage an ihre klimatisierten Arbeitsplätze fahren. „Die Dinge beim Namen“ ist ein Roman über die Alteingesessenen, die schon immer da waren, in der Dorfschule als MitschülerInnen, später als Jugendliche hinter der Turnhalle, dann hineingerutscht in Ehe und Familie und drin geblieben, bis Bitterkeit, Ernüchterung und Frustration Ventile suchen, bei denen es ganz ordentlich zur Sache geht. Ausbrüche, die dazugehören, von denen man weiss, über die man schweigt, die man toleriert, weil sie erst möglich machen, dass die dampfende Kacke keinen Krater reisst.
«Ich glaube, Träume sind aus Geschichten. Und wir alle sind aus Geschichten gemacht.»
Wann alles begonnen hat, weiss niemand. Vielleicht an jenem Sommerabend vor ein paar Jahrzehnten. Beim Unterhaltungsabend des Musikvereins. Im Halbdunkel beim Eingang zum Gerätespeicher der Turnhalle. Ein junger Mann küsst eine Frau. Sie liebt ihn nicht und er liebt sie nicht. Aber wenn er will, soll sie wollen. Vielleicht beginnt die Geschichte aber erst viel später, als Vollenweider, der damals zusah und den Mut nicht fand einzuschreiten, die Geschichte aufschreibt. Alles aufschreibt, in ein grosses Kuvert packt und die Seiten an einen Verlag schickt, in der Hoffnung, daraus werde mehr als bloss eine Geschichte. Aber wahrscheinlich begann die Geschichte schon viel früher, ist jener Moment bei der Turnhalle nur das Kippen einer der vielen Dominosteine, die in diesem Dorf dauernd fallen, wie in Zeitlupe und doch unaufhaltsam, wie ein Naturgesetz. Vollenweider schreibt schon immer, seit er schreiben kann. Über den Selbstmord seines Bruders, die unglückliche Liebe zu Sandra, den frühen Tod seiner Mutter und die Schläge seines Vaters. Auch dann noch, als man ihm im Dunkeln mitten auf der Dorfstrasse zusammenschlägt. Denn jenes Mädchen, jene junge Frau, war Sandra, seine Liebe.
«Die grössten Reichtümer aber, die der Mensch besitzen kann, sind Geld und Geschichten. Beides bedeutet Macht.»
Aber „Die Dinge beim Namen“ ist mehr als die Geschichte von Vollenweider und seiner Geschichte. Da ist Freddy, der nach dem Tod seiner Eltern allein in seinem Haus lebt. Er sammelt Käfer. Weiss alles über Käfer. Kauft sich zwischendurch auch einmal ein seltenes Exemplar, spiesst sie nach seinen Ausflügen auf Nadeln und lässt sie sterben. Bis sie beschriftet und in Ordnung gebracht Teil seiner Sammlung sind. Niemand nimmt Freddy ernst. Oder Chantal, die am Dorfrand, in der Rosenegg, wo weit und breit keine Rosen blühen, zwischen Sägerei und Selbstbedienungstankstelle, den Männern von nah und fern das bietet, was ihnen in den Schlafzimmern zuhause verwehrt bleibt. Nicht nur Sex, eine unkomplizierte Nummer. Sex ist meist nur das schnelle Vorspiel dessen, was Chantals Kunden viel wichtiger zu sein scheint; Mann will reden, Mann will ein Stück Illusion, ein Stück heile Welt.
«Das war er wieder, der Schmerz, der sich seit Jahrzehnten durch Beats Brust frass wie der Holzwurm durchs Gebälk seines Schlafzimmers.»
In Rebekka Salms packendem und faszinierenden Romandebüt blickt man durch zwölf Augenpaare auf das, was unter der Dorfoberfläche brodelt, seit Jahrzehnten, einmal mehr, einmal weniger. Rebekka Salms klug erzählter Roman, dieses feinmaschige Netz aus Geschichten und Charakteren, verblüfft durch seinen Witz, seine kraftvolle Sprache und den gleichwohl grossen Respekt vor dem Personal. So sehr sie alle gefangen sind von den ehernen Gesetzen einer trügerischen Dorfidylle, so sehr sind sie Opfer ihrer selbst, der Unfähigkeit auszubrechen, sich dem scheinbar Unausweichlichen entgegenzustellen. Rebekka Salm erzählt, als würde eine Billardkugel eine nächste in Bewegung bringen, die Ordnung in diesem Wimmelbild auf den Kopf stellen. Und nicht zuletzt sind die Farben ihres Erzählens derart intensiv, das ich kaum glauben kann, dass dies ein Debüt sein soll. Und dann sind da noch diese Sätze. Extrahiert man sie aus ihrem Kontext, werden sie zu Perlen, die man bei zu unachtsamen, zu schnellem Lesen allzu leicht übersieht. Sätze, die funkeln, die das Licht brechen, vielfarbig werden!
Interview
Ich spüre deine Lust, deine Freude, deinen Witz, deinen Schalk. Natürlich weiss ich, wie viel Knochenarbeit, wie viel Energie und Zeit es braucht, bis ein Buch zur Lektüre bereitliegt. Wie schaffst du es, derart viel Esprit in ein Buch zu packen, mich glauben zu lassen, das Schreiben ginge so flockig leicht wie die Lektüre deines Romans?
Was bin ich froh, dass die Lektüre des Romans nicht ein ähnlicher «Chnorz» ist, wie es der Schreibprozess zeitweise war.
Am Anfang fällt mir das Schreiben meist leicht. Ich habe Bilder im Kopf. Figuren gehen, humpeln oder schlurfen durch meine Gedanken. Die Sonntagshosen der Männer haben Bügelfalten. Einer raucht Pfeife. Kannst du den Tabak riechen? Ich bringe zu Papier, was ich vor meinem inneren Auge sehe. Das geht ganz leicht. Dann lege ich den Stift beiseite und lese durch, was da steht auf dem Papier. Jetzt scheinen mir die Bilder, die ich in Worte gefasst habe, unpräzise, platt und wenig originell. Ich formuliere also um, ersetze Verben durch treffendere Verben, streiche Adjektive. Das ist die Phase, in der ich zweifle, an mir und am Text. Wenn ich aber durchhalte, nur lange genug schreibe, umformuliere und streiche, erreiche ich mit etwas Glück irgendwann den Punkt, an dem mir das Geschriebene gefällt. Der «Chnorz» löst sich auf. Die Bilder auf dem Papier stimmen nun mit den Bildern in meinem Kopf überein.
Neben all der Fabulierkunst, die Vielfarbigkeit, den Abgründen und Wahrheiten erzählt dein Roman von den Fallgruben des Lebens, den Fesseln, denen man scheinbar nicht entkommen kann, den ehernen Gesetzen, die Leben dominieren. Ist dein Schreiben dein Messer gegen Fesseln?
Nein, das Schreiben ist mir kein Messer. Das Schreiben ist mir eher ein Reissbrett, auf dem ich die Fesseln und Fallgruben des Lebens präzise aufzeichnen und vermessen kann.
Das bringt sie nicht zum Verschwinden, leider. Aber dadurch, dass ich nun ihre genaue Lage, Grösse und Beschaffenheit kenne, verlieren sie ihre diffuse Bedrohlichkeit. Und damit lässt es sich leben.
Ich bin sicher, dass du bei 99% aller LeserInnen mit einer deiner Figuren etwas anklingen lässt, was betroffen macht, das mir als Leser Wiedererkennung schenkt. Du erzählst, was alle kennen und doch scheint es entlarvend. Spiegelst du?
Meine Figuren sind keine Helden. Im Gegenteil. Allesamt sind es Menschen, die gegen alltägliche Widrigkeiten kämpfen, die ihr Glück suchen, die sich irren und die fehlen, die mutlos und beschämt sind. Und ich vermute, all das steckt in jedem von uns drin. In mir auf jeden Fall.
Das Modell Ehe wird ebenso in Frage gestellt wie „Liebe“, „Dorfgemeinschaft“ oder sogar „Freundschaft“. Du demontierst mit Lust und Wonne. Ich weiss sehr gut, dass man Idyllen nachjagt. Bücher, Filme, Musik und Bilder sind voll davon. Warum halten wir uns dermassen fest an ihnen?
Warum halten wir uns dermassen fest an Idyllen? Vermutlich weil sie genau das sind: idyllisch. Perfekte, sorgen- und schmerzfreie Zustände.
Wir sitzen mit einem kühlen Glas Weisswein auf dem Balkon, das Raclette brutzelt im Pfännchen, die oder der Liebste ist bei uns, wir streiten uns nicht und im Abendlicht sehen wir die Schönheit des anderen, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Das Telefon schweigt. Die Steuern sind bezahlt. Der Hosenbund kneift nicht. Die Liste ist beliebig erweiterbar. In diesen Momenten scheint das Leben schwerelos. Wer würde diesen Momenten nicht nachjagen wollen?
Dass das Leben kein Ponyhof ist, wissen wir alle. Vielleicht halten wir Idyllen in Bücher, Filmen und Musik fest, um uns stets vergewissern zu können, dass es sie tatsächlich gibt, dass sie wiederkommen, irgendwann.
Du liebst dein Personal, das spüre ich. Ich liebe es auch, alle irgendwie. Meistens werden nicht unsere Ecken und Kanten geliebt, sondern die mit Bedacht gepflegten glatten Flächen. Anpassung ist alles. Und doch ist da doch der Wunsch nach Originalität, auch in den Leben deiner ProtagonistInnen.
Meine Figuren möchten dazugehören. Zu einer Dorfgemeinschaft. Ausserhalb dieser Dorfgemeinschaft sind sie einsam und alleine. Und wer sind sie denn überhaupt, wenn niemand da ist, der sie sieht, der mit ihnen redet? Um dazuzugehören sind sie bereit, ihre Ecken und Kanten zu verbergen. Sind sie dann aber drin, in der Dorfgemeinschaft, kann es passieren, dass keiner sie wahrnimmt, weil sie ohne Ecken und Kanten niemand sind, den es wahrzunehmen lohnt. Dann, vielleicht, zeigen sie sich. Und wenn sie Pech haben, dann ist das, was da zum Vorschein kommt, zu viel fürs Dorf. So versuchen sie stets die Balance zu halten zwischen ihrem Wunsch nach einem «Wir» und ihrem eckigen und kantigen «Ich». Ich vermute Mal, damit unterscheiden sich meine Figuren gar nicht so sehr von dir und mir, oder?
Rufen jetzt deine ehemaligen Nachbarn an?
Bis jetzt zum Glück nicht. Wenn ich aber die Wahl habe, zwischen ehemaligen Nachbarn, die anrufen, um mir zu sagen, dass sie enttäuscht darüber sind, wie ich das Dorf dargestellt habe und den anderen, die so beleidigt sind, dass sie nicht mehr mit mir reden – dann sind mir die Ersteren tausend Mal lieber.
Rebekka Salm, geboren 1979, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen.
Beitragsbild © Frederike Asael
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