Bettina Scheiflinger «la ultima», Plattform Gegenzauber

1

Die Frau liegt in ihrem Bett. Es kommt ihr vor, als träume sie, als habe sie die Augen geöffnet und schliefe doch noch immer. Nur im Alptraum ist man sich so sicher, wach zu sein.
Sie steht auf, geht auf die Strasse, endgültig vertrieben aus der Sicherheit des eigenen Zimmers, getrieben von einer schrecklichen Ahnung. Etwas ist anders, ihr Name ist weg, ist verschwunden, war gestern noch da. Ihr Name war das erste Wort, von ihrer Mutter an sie gerichtet, das Wort, das ihre Schwester ihr tröstend einflüsterte, das Wort, mit dem ihre Freundin sich suchend an sie wendete, das Wort, das ihre Tochter rief in der Furcht und in der Freude. Sie schüttelt den Kopf, kann ihn einfach nicht erinnern.
Ich bin die Namenlose, denkt sie.
Die Namenlose klopft an Türen und Fenster. Gestern noch wohnten hier alle Menschen zusammen. Hier lebten sie alle und gaben allem eine Form und einen Grund, benannten die Dinge und einander, erkannten sich. Jemand muss sich doch an ihren Namen erinnern und ihn ihr nennen können. Aus zaghaftem Klopfen wird ein Hämmern und Rütteln, ein mächtiges Reissen mit Klage und Zorn. Keine da, sie beim Namen zu nennen. Wo ist die Freundin, die Mutter, die Schwester, die Tochter? Die Zimmer hinter den aufgerissenen Türen sind hohl, sind Löcher in der Stadt, sind Wunden in den Mauern. Das Echo in den Strassen und Innenhöfen verhöhnt ihre Suche. Mehrmals meint sie, es verrate flüsternd ihren Namen. Es gibt doch immer nur ihre eigenen Geräusche wieder, ihr Name ist es nie.
Sie versteht, alle Frauen sind weg, alle Mütter und Schwestern, Töchter und Freundinnen. Mit ihnen verschwunden sind alle Namen. Die Stadt ist ohne Frauen, wer weiss, wie und wohin sie gingen. Sie ist die Einzige, die noch verbleibt.
Ich bin die Zurückgelassene, denkt sie.

2

Der Morgendunst verzieht sich in die Höhe, löst sich auf, macht Platz für das Licht. Gleich steht die Sonne so hoch, dass sie zwischen die Häuser in die Gassen gelangt und jeden Winkel ausleuchtet. Die Zurückgelassene kauert in einer schattigen Ecke, als das Sonnenlicht sie erfasst und ihr Versteck beleuchtet. Es strahlt sie an und stellt sie aus. Sie erhebt sich, ihre Finger ballt sie zu einer Faust. Ihre Haut glänzt in der Sonne. Sie hört Schritte sich ihr nähern, begleitet von aufgeregten Stimmen. Einige Männer stehen vor ihr. Es ist ihr Vater, ihr Sohn, ihr Bruder, ihr Freund. Als die Männer sie erblicken, schauen sie sie bewundernd an, den Mund leicht geöffnet. Sie verbirgt ihr Zittern hinter einem Lächeln.
Die Männer treten einen Schritt zurück, bestaunen sie mit glänzenden Augen. Einer streckt ehrfürchtig seine Hand nach ihr aus und berührt ihr Haar, streicht ihr behutsam über den Kopf, fährt mit einem Finger über ihre Wange bis zu ihrem Kinn. Der Griff eines Anderen geht knapp an ihr vorbei, sie spürt seine Fingerspitzen ihre Schulter streifen, als sie sich von ihnen entfernt.
Ich bin die Bewunderte, bemerkt sie.
Aber auch das ist nicht ihr richtiger Name.
Die Männer verkünden ihre Entdeckung. Die Bewunderte hastet über die Strasse auf den Platz, von allen Seiten nähern sich schon entschlossene Schritte, stark im Takt der Gruppe, drohen, sie einzukreisen. Die Schritte folgen ihr bis an den Rand der Stadt, werden lauter, werden schneller. Sie beginnt zu laufen.
Ich bin die Gejagte, wird ihr bewusst.
Die Gejagte läuft über das Feld vor der Stadt, über die Wiese dahinter, bis zu den Büschen und Bäumen. Gestern noch nannte sie die Pflanzen bei ihren Namen, konnte leicht eine von der andern unterscheiden. Sie spürt ein Brennen im Nacken, weiss, die Sonne ist noch da und wird weiterhin auf- und untergehen, die Erde hört nicht auf, sich zu erneuern.
Sie läuft in die Obhut des nahen Waldes. Sie ist nicht weit entfernt von der Stadt, trotzdem ist sie dankbar um die Baumkronen und Büsche, die sie abschirmen von der Bedrohung der Stadt, um das Moos, das ihre Schritte dämpft, die langsam zur Ruhe kommen. Sie schöpft Atem, schöpft Hoffnung. Der Boden saugt an ihren Füssen, bis sie sich in einen Klumpen Schlamm verwandeln. Ihre Hände verschwinden in den Blättern eines Strauches, rascheln bei jeder Bewegung, sind nicht mehr von der Pflanze zu unterscheiden. Ihr Körper schmiegt sich in die Kuhlen des Moosbodens, die Haut schimmert in sattgrünem Ton, die Härchen auf ihren Armen und Beinen wachsen grün und stark. Der Wald und ihre vor Angst und Sorge verhärteten Muskeln, alles wird weich, alles vereint sich. Die Frau weiss, es gibt ihren Namen nicht mehr und es gibt ihre Gefährtinnen nicht mehr.

3

Sie erwacht vom Lärm der Männer. Sie erhebt sich vom Boden, spürt, dass unter ihr Kartoffeln reifen, an denen Käfer knabbern, sieht, dass über ihr Äpfel an den Ästen des Baumes baumeln, hört das Zwitschern der Vögel.
Die Männer diskutieren, geben sich Zeichen, rufen sich zu, brüllen vor Aufregung und Angst, während sie im Chaos der Stadt irren. Die Frau geht sicheren Schrittes auf den Lärm zu, zurück in die Stadt.
Die Männer prüfen regelmässig ihre Waffen, kontrollieren deren Einsatzbereitschaft. Sie spreizen die Hände um das Metall, bis ihre Knöchel sich weiss färben, legen ihre Zeigfinger über die Abzüge, umklammern die Griffe ihrer Messer. Als die Frau in der Stadt erscheint, verstummen die Männer, lockern ihre Finger und Muskeln.
Einer nähert sich ihr, hält sie fest. Die Männer jubeln. Die Frau zuckt nur wenig zusammen, ist bereit. Der stärkste Mann tritt ganz nah vor sie, will sie schultern, will sie in die Mitte der Stadt tragen. Sie reisst sich los, schreitet selbst voraus. Die Männer folgen ihr, es sind ihre Väter, ihre Söhne, ihre Brüder, ihre Freunde. Der stärkste Mann geht nie weiter entfernt als einen Schritt hinter ihr.
Auf dem Platz bleibt die Frau stehen. Die Männer umringen sie, kratzen sich am Kopf, blicken sich an und dann zu Boden. Es wird still.
Die Frau schaut den Männern in die Augen, dann geht ihr Blick zwischen ihnen durch und über sie hinaus. Sie weiss, sie ist die Letzte, sie ist die Erste.
Sie kann sich teilen, kann Neues aus sich hervor bringen, sich aufspalten und neues Leben geben. Sie ist mächtig. Das ist das Ende. Und das ist der Anfang.

Die Frau öffnet den Mund, bringt erst nur ein Kratzen und Krächzen heraus. Die Männer weichen einen Schritt zurück, bleiben mit offenen Mündern stehen. Die Wörter vibrieren in ihrem Hals, als sie zu sprechen beginnt. Sie findet ihre Stimme, findet ihren Namen.
Laut und kraftvoll ruft sie ihn allen zu.

Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien, um am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Eins ihrer Hörstücke wurde 2020 beim sonohr Radio- und Podcastfestival nominiert. 
Ihr Debütroman „Erbgut“ erscheint im August 2022 bei Kremayr&Scheriau.

Webseite der Autorin

Beitragsfoto © Mercan Falter

Fee Katrin Kanzler „Flipping the bird“, Plattform Gegenzauber

Küßt euch und beißt,
Zwei Otter, in die Dotter, hartgekocht, den Toast.
​​Durs Grünbein


Komm. Du Idiot. Schau nicht, als wären meine Augen aus Dynamit. Sie sind aus Gallerte. Wie die Sülze beim Metzger, wie der Froschlaich am Ufer. Mach das Kopfkino aus. Hör auf das Gurgeln der Amseln. Beweg dich.

Unter Wasser ist es wärmer als oben. Die Sonne steht zwischen den Schlehdornbüschen, noch geht sie früh unter. Pippa lässt sich von der Luftmatratze gleiten, schwimmt in den flachen Uferbereich. Dort hat der See noch etwas Tageswärme gespeichert, nicht viel, noch ist Frühling. Aus der Wiese hängt Hahnenfuß auf den Strand herab, hingekleckste Dotterflecken, und eine Silberweide schleift ihre Zweige über den lehmigen Grund.
Matt folgt Pippa. Je näher er, Bohnenstange, dem Ufer kommt, desto häufiger stoßen seine Knie gegen den Seeboden. Schließlich liegt er neben dem Mädchen, auf die Ellenbogen gestützt, wirbelt Schlamm auf.

Wie du guckst. Wie ein Hund, der sich vergewissert, ob alles in Ordnung ist. Ich wette, dass du noch keine im Bett hattest. In deinem schottischen Dorf, hundert Seelen am Arsch der Welt, Rinder, Schafe, keine Touristen. Ein Himmel voller Möwen, im Sommer zwei, drei Ornithologen zu Gast, und fertig. Jetzt arbeitest du im Schottlandladen, Spirit of Alba, und kommst mit der Großstadt nicht klar. Du fährst alle paar Tage hinaus in die Landschaft, zu Tümpeln wie diesem hier. Seit du da bist, starrst du mich an mit diesem Hundehunger.

Alles an Matt ist größer als an Pippa. In einen seiner Schuhe kann sie beide Füße stecken. Sie hat es ausprobiert, bevor sie ihre zerrissenen Strümpfe abstreifte, bevor sie ins Wasser sprang. Als sie Matts Hand nimmt, durch die trübe Suppe führt, spreizen sich seine Finger. Seine aufgespannte Flosse bedeckt Pippas kompletten Bauch.
Der Wind hat etwas Müll ans Ufer getrieben, das Mädchen fischt einen kleinen, violetten Tetra Pak aus dem Unrat. Wasser, Fruktosesirup, Sauerkirschsaft, Holunderbeerkonzentrat, Limettensaft, Ascorbinsäure. Sie liest Matt das Kleingedruckte wie ein Gedicht vor, bevor sie die Verpackung ins Gestrüpp wirft. Ein Paar Schwingen bringt die Schilfkolben in Bewegung, ein Graureiher steigt in die Luft. Matt lässt seine Hand einige Zentimeter wandern. Hinter den Bäumen lässt sich die Skyline erahnen. Es ist, als hätten sich die Gebäude extra hochgestemmt, als spähe die Stadt eifersüchtig herüber.

Unsere erste Begegnung in der Wunderbar, du warst am Morgen erst aus Edinburgh eingeflogen, ich hielt dir meinen Mittelfinger ins Gesicht. Pippa, Philippa, flipping the bird, sagtest du. Ich fragte dich, ob das eine Songzeile, irgendein Zitat sei. Du hattest es erfunden. Ich beschloss, dass du nur halbseitig ein Idiot bist. Die Hälfte, die Songzeilen produzieren kann, die nach Heidekraut riecht und Klavier spielt, ist in Ordnung. Vertrottelt bist du trotzdem. Entschuldigst dich für jeden Mist. Wenn ich in deine Badeshorts greife, wirst du immer noch dein gehauchtes Sorry auf den Lippen haben. Wenn ich deinen Schwanz anfasse, wirst du die Augen verdrehen wie ein Lobotomierter.

Die Seerosen treiben fette Knopsen an die Oberfläche. Zwei davon sind schon aufgesprungen, zwei Spritzer Monetweiß im Schlammgrün des Sees. Ein Teichhuhn stakt über die Seerosenblätter, viel vorsichtiger, als es müsste.

Im Frühjahr 2025 wird im danube books Verlag (https://www.danube-books.eu/) der Erzählband „Ameisenschnee“ erscheinen, darunter auch der hier erschienene Text.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«. 2020 war sie Finalistin des 22. Irseer Pegasus.

«Wichtige Männer warten lassen»

Webseite der Autorin 

Beitragsbild @ Thomas B. Jones 

Arno Dahmer «Die Nüchternheit der Nullerjahre», ein Kapitel

1. Januar 2019, 10.00 Uhr

Was mag die Essenz des Felskletterns sein? Wenn ich die gesamte Zeit bilanziere, von 1994 bis heute, könnte die Antwort lauten: das Licht.

Licht, das mich die Wand emporträgt wie ein Aufwind. An einem sonnigen, nicht zu heißen Tag, an einem abgelegenen Felsen.

Licht dringt durch Stirn und Schädeldach in mich; erhellt die Nacht, die dort über Jahre geherrscht hat, bis ich nur mehr Licht bin; Licht, Licht, Licht, ein unendliches Strahlen und Gleißen.

Doch ist das Dunkel nun außen, fast überall, jenseits der Felsen; als wäre es in die Welt emittiert.

Wenn ich damals, während meines kurzen Studiums, etwa durch einen Korridor an der Uni gehe, in irgendeinem Hörsaal sitze, scheint Mangel an Licht mein Denken zu beeinträchtigen; ich merke, wie ich in dem Dämmer um mich her nur immer wieder „ja, ja, ja …“ sage – man hält mich für einen Idioten.

Lange Zeit später ist dann – aber nun werde ich gleich pathetisch – das Dunkel mein Schicksal geworden. Mein Augenlicht schwindet. Ich bin fast blind. Trotzdem klettere ich noch immer.

Wie geht das überhaupt? Und vor allem: Wie kam es dazu? Dass ich zu klettern anfing und weiterhin klettere. Davon handelt dieser Blog.

Er handelt allerdings in ein Dunkel hinein, wie jenes, das mich mehr und mehr umgibt. Wer werden seine Leser sein? Wird es welche geben? Liest jemand noch längere Texte oder scrollt man nur durch Newsfeeds?

Noch kann ich am Computer arbeiten. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, zwei bis drei Zentimeter hoch. Aber lange werde ich es nicht mehr können, es sei denn, ich erlerne die Blindenschrift. Dagegen sträube ich mich. Ein Behinderter will ich nicht sein. Doch wenn man eine eigens für Behinderte erdachte Schrift benutzt, ist man es dann nicht unleugbar und endgültig? Behinderte sind weder alt noch jung, weder Mann noch Frau. Sie sind einfach nur behindert. Sie gehen nicht auf Herren- oder Damentoiletten, sie gehen auf Behindertentoiletten. Sie parken nicht im Parkverbot, sie parken auf Behindertenparkplätzen. Jedoch: Ich schweife ab.

Was ich sagen wollte, ist: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit für meinen Bericht. Einen Blog könnte man prinzipiell unendlich fortsetzen; das Web ist geduldig. So aber werde ich mich aufs Wesentliche beschränken müssen.

Ich habe vor, die Namen aller Personen, die hier vorkommen werden, zu ändern. Eine Ausnahme bilden berühmte Kletterer. Man würde ja auch nicht schreiben: „Gerald Röder“ oder „Der Kanzler, der Deutschland von 1998 bis 2005 regierte“. Das wäre ebenso albern wie verwirrend.

Ich selbst werde mich, einer Eingebung folgend, Markus Dengler taufen. Das klingt erdverbunden und mein Lebensweg mag zeigen, dass dies tatsächlich eine Facette meiner Persönlichkeit ist. Der Name im Impressum dieser Seite ist – allen Schlaubergern sei es gesagt – natürlich nicht meiner, sondern der eines entfernten Bekannten, der sich damit einverstanden erklärt hat, dort genannt zu werden. Er liest seine Mails übrigens nicht, geschweige denn Briefe.

Doch tue ich all dies nicht aus Angst vor Verwicklungen, juristischen oder auch nur privaten. Ich hoffe lediglich, auf diese Weise unbefangener schreiben zu können. Vielleicht kann ich überhaupt nur so schreiben, über mich selbst und im Internet. Entweder weil ich ein zurückhaltender Mensch bin oder, wahrscheinlicher, weil ich zur Zeit der Floppy Disks und Wählscheibentelefone geboren wurde, im Jahr 1977. Solche wie mich nennt man heutzutage „digital immigrants“. Und es stimmt: Das Internet ist uns etwas fremd geblieben.

Aber bin ich nicht andererseits ein Inbild des Zeitgeists? Der Unbekannte mit seinem Drang, sich einer virtuellen Öffentlichkeit zu präsentieren, um sich – ja, was? – seiner selbst zu vergewissern?, sich zu behaupten?, darzustellen?, vielleicht gar zu überhöhen? Der letztlich ungreifbare, geradezu unkörperliche Einzelne. Dieses Sich-Zeigen und Doch-nicht-zeigen-Wollen. Ob jemand sich dabei namentlich zu erkennen gibt, mag nicht der entscheidende Punkt sein. Denn ob einer durch Masken spricht, das wissen wir im Netz ja ohnehin nie.

Ihr könnt mich also für lächerlich modern oder peinlich altmodisch halten – das bleibt ganz euch überlassen.

[Der Text ist geplant als eines der ersten Kapitel des in Arbeit befindlichen Romans „Die Nüchternheit der Nullerjahre“. Dieser spielt in der Subkultur der Felskletterer und erzählt die Geschichte einer schwierigen Jugendfreundschaft. Der Roman hat die Form eines fiktiven Blogs.]

 

Arno Dahmer wurde 1973 in Frankfurt am Main geboren. Heute lebt er in Mainz. Er studierte Germanistik, war danach u. a. journalistisch tätig und arbeitet zurzeit als Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er veröffentlichte kurze Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie den Erzählband Manchmal eine Stunde, da bist Du (Mirabilis, Klipphausen/Miltitz, 2017). Arno Dahmer nahm an der von Kurt Drawert geleiteten Darmstädter Textwerkstatt teil und erhielt für seine literarische Arbeit einige Stipendien sowie einen Sonderpreis beim Uslarer Literaturpreis. Bei kul-ja! publishing erschien im März 2023 sein Roman «Ein Mythos von mir». Aktuell arbeitet Arno Dahmer an seinem neuen Roman, der voraussichtlich 2026 bei kul-ja! publishing erscheint.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Julia Kulewatz

Tom Zürcher «Unberührt», Plattform Gegenzauber

Mein erstes Interview gab ich mit zehn. Ich weiss nicht mehr, wo es war, ob im Garten, im Wohnzimmer oder im Bad vor dem Spiegel, aber ich weiss noch den Anlass: Ich hatte soeben meinen ersten Roman geschrieben. Der Held meiner Geschichte hiess Tschivers Cambel und suchte einen grossen Schatz. Der «Tages-Anzeiger» widmete Tschivers Cambel oder vielmehr mir die Titel-Schlagzeile der Wochenendausgabe:

«Bub schreibt Buch!»

Und so wurde ich selbst zu einem Schatz, nämlich zu dem meiner Mutter, die mich auf ein Podest hob und von unten bis oben anhimmelte – ein Gefühl wie tausend Glühwürmchen im Bauch, selbst wenn man es sich nur vorstellte.

Seither verging kein Tag ohne Interviews. Ich gab sie auf dem Schulweg, auf dem­ Arbeitsweg, im Fernsehen, im Bett und im Radio. Am liebsten im Radio. Ich beantwortete hundertmal Herrn Schawinskis Frage, wer ich sei, und war so oft zu Gast in der­ Sendung «Musik für einen Gast», dass derRedaktion die Platten ausgingen.

Dass ich einmal berühmt werden würde, ahnte ausser mir niemand. Obwohl es schon früh Anzeichen gab, schon mit acht. Ich ging in die zweite Klasse, und die Lehrerin sagte, wer wolle, dürfe nach vorn kommen und ein Märchen erzählen. Sie meinte eines, das man mal gehört hatte, zum Beispiel «Der Froschkönig» oder «Das hässliche Entlein», aber ich hatte nicht aufgepasst und redete einfach drauflos. Als ich fertig war, fragte die Lehrerin, woher ich die Geschichte hätte, die sei neu für sie, und ich sagte, ich hätte sie soeben erfunden. Und dann bat ich, noch einen anderen Schluss erzählen zu dürfen, der mir gerade eingefallen war, und sie war einverstanden, obwohl es geklingelt hatte.

Als ich 18 war, blitzte meine Geniehaftigkeit ein zweites Mal auf. Wieder in der Schule. Wir nahmen gerade den Dadaismus durch, und ich behauptete, solche Gedichte könnte ich auch schreiben, mit links. Mein Deutschlehrer, ein untersetzter, humorvoller Mann, sagte:

«Beweisen Sie es!»

In der nächsten Stunde hatte ich zwei Dada-Gedichte an die Tafel geschrieben und bat den Lehrer, herauszufinden, welches ein echtes Dada-Gedicht sei und welches von mir. Er las und sagte, ihm gefielen beide Gedichte, aber das links sei von mir. Ich musste ihm recht geben. Ich wollte wissen, woran er das erkannt habe, und er sagte, das echte Dada sei eben noch eine Spur raffinierter. Er ging die beiden Gedichte Zeile für Zeile durch und zeigte die Unterschiede auf. Dann wollte er wissen, von wem das echte stamme, von Hans Arp, Max Ernst, Hugo Ball? Ich sagte: auch von Tom Zürcher.

Ich musste 30 werden, bis ein Verlag sich für eine meiner Geschichten interessierte. Er hiess Eichborn, was sich reimt auf: a Star is born. Als der Roman dann im Buchladen stand, wurden auch spezialisierte Kreise auf mich aufmerksam. So lud mich das Literarische Quartett ins ZDF ein, weil Herr Reich-Ranicki mich und mein Werk persönlich in die Mangel nehmen wollte. Doch statt energisch den Kopf zu schütteln und miserabel, ganz miserabel! zu schimpfen, hielt er das Cover in die Kamera und sagte, Mann, krass wie Grass, und es war das erste Mal, dass er krass im Fernsehen sagte.

Ich wollte nie ein Schriftsteller werden. Ich wollte immer ein Texter sein. Während Schriftsteller unter der Bürde wohlformulierter Intelligenzigkeit mit der Zeit bitter und finster werden, bleiben Texter unbekümmerte Handwerker, die alles texten können, was sie wollen. Wenn sie Geld haben, texten sie Theater, Comics und Romane, wenn sie kein Geld haben, texten sie für teures Geld billige Reklame. Aber auch Texter wollen berühmt werden. Ganz besonders, wenn sie schon mit zehn ihren ersten Roman ins Schulheft gekritzelt haben.

Ich wollte einen Bestseller texten, den man nicht mehr weglegen konnte. Ich wollte in aller Munde sein mit einem Buch, das man von der ersten bis zur letzten Seite frass. Ich wollte einen Hit landen, der mich berühmt machte. So berühmt, dass ich auch mal ausserhalb meines Kopfes ein bedeutendes­ Interview geben konnte. Wo es auch andere hörten, allen voran meine Mutter, die dann sagen würde:

«Nun hat er doch noch etwas Vorzeigbares geschafft, wer hätte das gedacht, ich nicht.»

Im Februar letzten Jahres, kurz bevor mein neuer Roman herauskam, starb meine Mutter und machte ihn damit zu meinem letzten. Denn nun gab es keinen Grund mehr, Bücher zu texten, das Feuer war erloschen unter der Asche meiner Mutter. Wozu noch berühmt werden? Das Leben war auch so anstrengend genug, ich war mittlerweile 55. Die fixe Idee, die mich seit klein auf begleitet hatte, löste sich in einem verheissungsvollen Regenbogen auf, an dessen Ende ich endlich Ruhe und Bescheidenheit fand.

Und nun kommt der kulturtipp und bietet mir die Carte blanche an. Die grüne Wiese. Die freie Bühne! Ich dürfe machen, was ich wolle, und natürlich weiss ich sofort, was ich machen will. Ein Interview. Mit mir:

Tom, das ist einfach unglaublich. Du im kulturtipp! Nun scheinst du doch noch berühmt zu werden.

Tja. Wo ich es nicht mehr brauche.

Das nehme ich dir nicht ab.

Ist aber so. Ich bin geheilt.

Du träumst kein bisschen mehr vom grossen Erfolg?

Nö. Sonst würd ich ja weiterschreiben.

Du hast also nicht irgendwo noch ein ­ Manuskript versteckt, an dem du heimlich rumdokterst?

Echt nicht. Ich habe meinen Traum in eine Eisen­kiste gepackt und so tief vergraben, dass nicht mal Tschivers Cambel sie finden würde.

Hat deine Mutter je etwas von dir gelesen?

Wahrscheinlich nicht. Du?

Alles. Und nicht nur gelesen, geschrieben!

Bereit für die letzte Frage?

Was, schon die letzte?

Tom. Wer bist du?

(Erstveröffentlichung: www.kultur-tipp.ch)

Tom Zürcher, 1966 geboren, ist freier Texter. Meistens textet er in Zürich. Er textet alles, was das Leben von ihm verlangt, doch am liebsten textet er Romane. Keine Mitgliedschaften, keine Jurys, keine Pläne. In festen Händen. 2019 war er mit «Mobbing Dick» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im Picus Verlag erschien 2021 sein neuer Roman «Liebe Rock».

 «Der Spartaner» Rezension

Beitragsbild © CH Media/Sandra Ardizzone

Boris Hoge-Benteler „Klosterberg“ (Romanbeginn), Plattform Gegenzauber

1.

Gartenhaus

Hagebutten und Kastanien auf dem Schreibblock schweben, von oben fotografiert, über dem linienlosen Weiß. Der Kopf. Sein Hängen. Das Klicken des Kugelschreibers.

 

Flur

Der Tunnel ist mir fremd, und ich habe Angst. Nicht aber, dass ich allein bin, ängstigt mich, nicht die vielen nur vage auszumachenden, geschlossenen Türen zu beiden Seiten, nicht die Unkenntnis dessen, was sich hinter ihnen wohl befinden mag, auch nicht die Abwesenheit meiner Schritte auf dem lautlosen Teppich, sondern allein, in diesem Augenblick, der Umstand, dass hinten, ganz weit hinten eine Tür sich öffnet und wieder schließt zu einem Licht, das mich auffordert, ja zwingt, nicht stehenzubleiben und immer weiter darauf zuzugehen.

Nur darum drossele ich meinen Gang, tausche Neugierde und düstere Erwartung ein gegen Achtsamkeit, spüre meine Füße in den Socken, in den Schuhen, die Sohlen auf dem Teppich, das Abrollen der Ferse erst links und dann rechts und wieder links und wieder rechts, spüre meine Hände in den Seitentaschen meiner Jeans, mit der einen ein Feuerzeug umfassend, mit der anderen einen glatten, nicht ganz runden Stein, spüre ein leichtes Jucken an drei Stellen meiner Kopfhaut, einen leicht bitteren Geschmack auf der Zunge, aufsteigende Luft im Magen, ein nervöses Drücken im Darm. Und obwohl das alles nicht angenehm ist, versuche ich, es mir einzuprägen und es zu bewahren, während der Tunnel mich dunkel umgibt und das Licht dort hinten immer kleiner wird und sich immer weiter, mich an sich ziehend und mich nicht loslassend, von mir entfernt.

 

Fahrt

Alle Erwartung frisst sich zurück in meinen Bauch, und ich wende, mit bereits geschlossenen Augen, den Blick ab, den ersten und anhaltenden durch das Fenster hinter dem Schreibtisch, wende ihn ab von den Ställen und der Schmiede, der Wiese, dem Zaun, dem Rest einer Mauer. Ich verstaue das Schreibzeug, den Walkman, alles Umherliegende in Tasche und Rucksack, streife die Jacke über, streiche erneut und erstmalig mit der Hand über den blassgelben und beigen Frotteebezug des Kopfkissens und der Decke, sauge den Geruch nach starkem Waschmittel ein und nach kaltem Staub, sauge den blaugrauen Teppichblick ein, den Blick auf Furnierholz, die Schublade des Nachttischs, das Milchglas der Lampe, das Kreuz darüber, sauge das alles, kaum wurde es vor mir ausgeschüttet, ein, denn nichts soll zurückbleiben, alles sei rückwärtig, bis sie mir übergehen, Augen und Hirn, und ich das Zimmer verlasse, den Flur, die Wohnung, das Treppenhaus mit den hölzernen, nicht endenden, ächzenden Stufen.

Draußen schiebe ich meine Sachen auf den Rücksitz des Wagens, schließe alle Türen, auch den Kofferraum, steige ein, starte und fahre los, im Rückwärtsgang, den schmalen Weg entlang durch den Garten und den Park mit seinen Gemüse- und Blumenbeeten und alten Bäumen, vielleicht sind es Linden, vielleicht auch Kastanien, rolle vorbei an Schmiede und Töpferei, einem Seiteneingang, einem geparkten dunkelblauen VW Golf, passiere rechts das sich jäh und wie von selbst öffnende Eisentor, passiere die verlassene Pforte, die lange weiße Frontseite des Klosters, das rotgeklinkerte Gästehaus, den Parkplatz, die Obstwiesen, die Schule, rolle weiter zurück bis zur Kreuzung, biege nach links ab, schaue auf das Gelb einer Telefonzelle, auf die bunten Auslagen eines Kiosks, nehme den Fuß von der Bremse, gebe Gas und schlängele mich über etliche Kurven den Berg hinab. Fahre den Klosterberg hinab. Bewege mich dabei rückwärts und verschwinde, den Blick wiederum auf Gelb, doch diesmal des Ortsschildes, gerichtet, in einem Wald, einem dunklen Tannenwald, auf den nach langer Zeit braune Äcker folgen, dann wieder ein Wald, Hügel mit grauen Stoppelfeldern, Wald und wiederum Hügel, die Straße in Schlangenlinien den Fluss entlang und irgendwo dort hinten, jenseits des Tales und steil herauf, in schwindender Ferne, mir schwanend: das Dorf und das HAUS.

Ich stelle jetzt, Pauls Wunsch gemäß, vieles vor mich hin, als käme es einer Sichtung gleich, bedenke die Zeit und ihre Lügen, unzählbare Versuche, mir weißzumachen, dass sie vergehe.

Ich entkomme nicht und komme auch nie an. Und unterwegs werde ich mich nicht verlieren im schönen Detail. Denn das schöne Detail ist nicht schön, und ich verliere mich nicht in, sondern ich kralle mich fest an ihm.

 

Flur

Ich stehe vor einer hellen Tür und weiß nicht, ob ich sie öffnen soll. Das Tageslicht, das für mich ganz plötzlich von außen durch die obere und untere Glasscheibe dringt, sorgt dafür, dass ich abrupt die Augen schließe und sie nur zögerlich und blinzelnd wieder öffne. Hinter mir weiß ich einen langen dunklen Flur, dessen Ausgangspunkt mir in diesem Augenblick entfallen ist.

Ich habe Angst in beide Richtungen.

Die Tür hat, glaube ich, im Gegenlicht einen sehr dunkelgrünen Rahmen.

Wenn ich wüsste, ob und hinter welcher der vielen abgehenden Türen in meinem Rücken sich ein Ort des Unterschlupfs befindet, vielleicht ein dunkler und enger Wäsche- oder Putzraum, eine Dusche oder eine Toilette, würde ich mich, vielleicht, jetzt, in diesem Augenblick, umdrehen, um ihn aufzusuchen. Mich einzuschließen in einer der Kabinen. Vielleicht auch zwischen den Eimern und Geräten einer Abstellkammer. Um Zeit zu gewinnen.

Die Tür verfügt über einen Stoßgriff, rechteckig, aus schwarzem Kunststoff. Keine Klinke. Zum Aufschieben oder  ziehen, je nachdem. Sie ist nicht verschlossen. Sie führt nach draußen, kein Zweifel.

Wie mit der Nase eines Kindes am Glas mit Blick von drinnen nach draußen: Dort sitzen und bewegen sich große Menschen, wie viele, ist von hier aus nicht zu erkennen. Etwas trübt die Sicht, Nebel oder Rauch. Akustisches nehme ich nicht wahr.

Welche Art des Öffnens, frage ich mich, wäre das, öffnete ich die Tür ganz langsam oder versuchte ich, sie aufzustoßen, ruckartig, und welchen Ausmaßes wäre dieses Öffnen, und was würde sein, und was würde folgen.

Ich umfasse den Griff, gebe mir einen Ruck: der allerdings nicht oder nur halb nach vorn, nach draußen, sondern zugleich nach hinten losgeht, ins Dunkle, wo ich mich rasch verkrieche, in irgendeiner Ecke, fort bin und unauffindbar, während ich im selben Augenblick und etwas ungelenk nach vorne kippe und mich und einen nicht leicht zu bestimmenden Teil von mir wiederfinde am Ein- oder Ausgang eines Hofes.

 

Kabine

Ich sitze im Dunkeln und gehe davon aus, dass ohne Licht die Zeit nicht vergeht. Dass sie anhebt und vergeht, nur wenn es hell ist.

Wenn ich an die Fahrt denke, dann nur an ein stehendes Bild, vielleicht auch mehrere, aber immer stehend. Dass keine Gefahr ausgehe von ihnen.

Was, frage ich mich, werde ich tun, wenn jemand kommt und das Licht anschaltet? Mich auf keinen Fall räuspern, nur nichts zu erkennen geben, nichts, das sich zurückverfolgen, sich einfordern ließe. Ich werde die Luft anhalten, den Herzschlag herunterfahren, mir die Fluchtwege vor Augen führen, auch das Heimweh verdrängen, es mir verbieten, wonach auch. Nur im Dunkeln entfällt die Frage, in welche Richtung ich denken oder schauen und mich bewegen werde.

Doch wenn das Licht angeht, seltsam, wird Paul dann denken, dass die Tür der Kabine verschlossen ist. Dann wird er wissen, was los ist, was ich getan habe, wird, nur kurz und ohne sie nach unten zu drücken, die Hand auf die Klinke legen, wieder heben, mit den Fingernägeln fast und doch nicht, aber fast schon hörbar, über die glatte Furnierschicht der Tür streichen, um sich dann, mit leichtem Rauschen, wieder zu entfernen. Das Licht zu löschen. Und seine Schritte auf dem Teppich des Flures und die Richtung seines Fortgehens werden nicht mehr auszumachen sein.

Oft, denke ich, wird von jetzt an diese Kabine der Ort meines Rückzugs sein.

 

Hof

Als wäre ich, gerade jetzt, an einem trüben Tag und in fremder Umgebung aufgewacht. Es ist weniger hell, als es der Übergang von Schlaf zu Nichtschlaf vermuten ließ. Ein kühler, etwas milchiger Nachmittag ist dies. Rauch und Nebel weiten die Grundfläche des Hofes, die in vermeintlicher Ferne eingefasst scheint von einer vage verlaufenden, in blassem Rot sich verlierenden Mauer.

Die Welt ringsum ist nicht vorhanden, innerhalb der Mauer jedoch nehme ich gleichzeitig Verschiedenes wahr: vorne einen Grill, qualmend, darauf graue, braune oder geschwärzte Würstchen, zwei Bierkisten, einige Flaschen Cola, Becher, zwei Bierbänke und einen Tisch.

Die Personen zu zählen, liegt mir jetzt fern, es scheinen viele, aber mir fällt auf, dass sie alle Jacken tragen und dass doppelt so viele Augen sich jetzt, womöglich, auf mich richten und mir zu sagen scheinen: Jetzt musst du etwas tun oder etwas sagen. Noch stehe ich abseits, aus Scham, dass sie mich sehen, doch schon höre ich eine Stimme, die ich kenne, dann sehe ich ihn auch: Bruder Paul.

„Da bist du ja.“ Und prompt werden mir, viel zu schnell, die vorgestellt, denen ich zugeordnet werde, die mich einarbeiten und von nun an begleiten sollen, es sind vier: Tom, Liv, Chris und Ka.

Dann sitze ich etwas krumm auf einer der Bänke, eine Bierflasche in der Hand, zwischen ihnen. Das Bier macht die unruhigen Hände, macht den nervösen Magen kalt. Stimmen erfasse ich, doch keine Worte. Paul befindet sich nicht weit von mir. Von oben ragt der Ast irgendeines Baumes ins Bild, das hin und wieder flackert, wie unentschieden zwischen Farbig und Schwarzweiß.

„Vergiss nicht“, höre ich ihn durch das Blättergewirr und die Stimmen der anderen hindurch zu mir sagen, „morgen, um halb acht.“

 

(Der Roman „Klosterberg“ erscheint im Herbst 2025.)

Boris Hoge-Benteler „Liebe Dunkelheit. Briefroman“, kul-ja! publishing 2023, 304 Seiten, ISBN: 978-3-949260-13-1

Boris Hoge-Benteler, geboren 1979 in Marburg, aufgewachsen in Büren (Westf.), studierte Neuere deutsche Literatur, Italienisch und Geschichte in Berlin und Wien und promovierte in Münster über Russland-Konstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er arbeitet als wissenschaftlicher Bibliothekar in Jena und lebt in Weimar. 2022 erschien sein Debütroman „Sonnenstadt“, 2023 folgte sein Briefroman „Liebe Dunkelheit“.

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Beitragsbild © Miriam Benteler

Julia Kulewatz «An der Wortgrenze», Plattform Gegenzauber

Es gab eine Unzeit, in der mein schmal gewordenes Fenster zu einer fremdbestimmten Außenwelt in einem ungewollten Briefschlitz in einer fremden Halbstadt ohne Hafen, in einem noch fremderen Rathaus bestand. Als Strandgut war ich zunächst unerwartet angespült worden, und es gab Menschen, die mich über den Schlitz fütterten.

Währenddessen bewohnte ich ein mir zugeschriebenes Zimmerquadrat, einen Container in Beton auf Zeit in einem Hinterhaus, vor dem das zweigeteilte Rathaus stand, in dem alle Mitbewohner einen ständigen Wechselreigen vollzogen, der einem absurd bedrohlichen Tanz ohne Syntax glich. Nur ich blieb, weil das vertraglich eben so geregelt war, und schrieb um mein Leben. Andere hatten dieses bereits abgeschrieben. Das Rathaus stand auf einer steinernen Brücke, unter der ein träge reißender Fluss floss, der seine Fließrichtung dem politischen Geschehen anpasste. Wann und wie das geschah, entschied allein der Fluss. Ich aber ernährte mich von verzweifelten Briefen.

Nachts wurden Stimmen als Gewirr an mir laut. Alles kratzte an Beton. Sie von außen, ich von innen. Strukturen und Risse bekamen einen eigenen mitternachtslangen Atem. Die Verlebendigung der Dinge lauerte in jeder Ecke, und an den vier Betonquadratflächen wuchs ein vielstimmiges Brummen aus männlich anmutenden Hohlkörpern, die ein dissoziatives Klangkollektiv bildeten, von dem ich wusste, dass es mich mit der Zeit auflösen würde, je näher es kam. Jemanden abschreiben ist ein pathologischer Prozess. Das wusste auch der Fluss unter der steinernen Brücke, in den ich mich nicht stürzen konnte. Unter-Wasser-Sein war einer meiner wenigen, völlig freien Gedanken, den ich gleichzeitig auf meinem Trommelfell tanzend fühlen konnte. Wenn die Stimmen aufrückten, begann ich, bereits ausgelesene Briefe unbeantwortet in mich hineinzustopfen. Meine Stopfbewegungen während des Fressvorganges waren wie alles andere hier streng durchchoreographiert. Gut, dass das niemals irgendjemand zu sehen bekam. Papier war wertvoll, Zeile-für-Zeile-Zweifel. Ich-hungrig. Hunger-Ich. Hungrich. Zurück blieb alles Einverleibte, Schalldämmung, als sei ich ein luftloses Gummiboot, dem man weder Pumpe noch Atem hätte spenden können.

Ich erblickte das Licht der Welt unter Wasser an einem Freitag, dem 13. Es war der Tag, an dem meine Schwester an mir ertrank. Ich habe vergessen, wie Schwimmen geht, wie man sich oben, den Kopf über Wasser hält. Alle erinnerten Bewegungen, die damit in Zusammenhang stehen, sind ohne Hoffnung auf Bergung hinter meiner Stirn verschwommen. Wasserwege kennt auch die Urgroßmutter im Mittelmeer. Nur noch ein halber Mensch, vielmehr im Unterleib schon eine weiterhin sinkende Fürstin zur Tiefsee. Wir trieben voreinander her, immer dann, wenn ich meine Gedanken an den Fluss trug.

Jetzt halte ich ein Meermahl mit Briefen ab, und wir verschlingen einander, bis es um uns stiller wird. Bis ich ganz voll bin und mit dem Platzen drohe, Wortfetzen spuckend, so will es das Bild. Ich sehe ein, der Schlitz ist mir nur ein halber Freund, das Rathaus gar keiner, der Fluss ein ferner Geliebter auf Reisen, wie die verschleierte Sonne, aber manchmal mit Perlenkoffer und dann mit für immer verschlossenen Süßwassermuscheln in den Geheimtaschen eines verwaschenen Fracks. In Salz reingewaschen, kann man nicht lügen, das ist wie Tränentrinken.

Neben mir war das Quadrat von Büchern bewohnt. Ein wackliger Turmbau-zu-Babel-Versuch wankte in jeder der vier Zimmerecken eigenmächtig rufend vor sich hin. Ich war und blieb nicht mehr als ein Geist unter ihren durchsichtigen Stimmen, mit denen sie unaufhörlich auf mich einsprachen, um Berührung baten. Man wollte mich zum Lesen bewegen. Keinen einzigen Brief hatte ich verdaut, am schwersten aber wogen die Handschriften in mir, die hatten, so ahnte ich es, ganze Schiffe versenkt, aber was sonst hätte ich hier essen können? Schließlich wusste man nie, was der Fluss trieb und wie weit.

Ein einziges Wochenende im Jahr stand der Fluss in bunten Flammen, war nach oben und unten hin in allen Farben verspiegelt und die betrunkenen Gummiboote meiner Erinnerung trieben munter und völlig unkoordiniert durch das von Nord- und Südseerauch begleitete Feuerwerk des Flusses. Das Feuerwerk war ein menschgöttlicher Frevel und strebte wie die Buchtürme meines Containers dem Himmel entgegen, bevor es ganz in sich zusammenfiel, bevor alles auslief. Mir war es dann, als würde die Urgroßmutter, die ich liebevoll „Tiefsee“ nannte, den spitzen, dauerhaft aufgeweichten Zeigefinger heben. Ich stellte mir vor, wie ihr alle Fische gehorchten, selbst die auf dem Wasser treibenden, wenn sie auf ihrem Thron aus Knochen und Gräten saß, eine eigene Ahnenlinie aus Fischen und Menschenleibern in jeder Silberschuppe. Mit diesem Gedanken schlage ich die Augenlider nieder, und meine Wimpern werden mir selbst ein fadenscheiniger Vorhang aus feinsten Haarkurven, das ein oder andere Mal sogar lückenlos und wasserfest getuscht. Ich weiß es nun ganz sicher: In Salz rein gewaschen, kann man nicht lügen, das ist wie Tränentrinken.

Die Zeit floss träge an mir vorüber, solange ich gut zu schweigen übte. Die Stimmen verschwanden nicht, vielmehr fanden sie einander und kreierten neue Geschichten aus unbelebten Texten. Jedes Buch war ein Zuschlag, Briefe von Fremden, gelandet im Briefschlitz mehr oder weniger schmackhafter Nachschlag. Wie hätte ich auch nur an Befreiung aus dem Betonquader denken können, jetzt, wo mir nachts die Tiefsee sang? Jetzt, wo mir unser aller Urgroßmutter den Kopf höchstpersönlich schüttelte?

Es ist nicht so, dass ich das Schwimmen inzwischen neu hätte erlernen können. Alles, was ich tat, waren Übungen auf dem Trockenen, oft ohne Sinn und Verstand. Ich wusste mit aller Klarheit, dass selbst ein sehr kleines Aquarium im Zimmer mir eine Art Rettung hätte bedeuten können. Natürlich hätte die Grundform ein Quadrat sein müssen. Es wäre bestenfalls ein Schweigen mit befreundeten Fischen geworden, alles hinter Glas, durchsichtig, wie ich. Mondscheinfadenfische oder Mosaike wäre schön gewesen, eine Kommunikation über Fäden und Finger, über Augenpaare und glänzende, zuckende Leibeigenschaft. Wie gut, dass es hier um mich keine Spiegel gibt. Es ist seltsam, wenn auch der Wasserhahn zu krähen aufhört, im Schweigen ist er lauter geworden, rostig gar und kalkig verhärtet war sein Gesang. Jedem Fisch hätte ich einen quarzigen Stein der Anbetung geschenkt, und gemeinsam hätten wir alle Gebete geschwiegen.

Ich hätte weiter von Weltenflucht träumen können, wäre da nicht eines Tages plötzlich das Boot gewesen …

Eines Tages steckte man durch den Briefschlitz des inzwischen modernisierten, aber noch immer geteilten Rathauses ein sehr eng zusammengefaltetes Gummiboot. Es passte nach der Entnahme genau auf meine linke Hand, die sich der Welt durch ungewollte Wassereinlagerungen beachtlich angeschwollen darbot. Man verschloss wie im Vorübergleiten meine Sicht mit dieser freundlich anmutenden Geste ganz, ich sah noch die fremde Hand, wie sie an einem schwarzen Anzug herabhing und im Schlendergang von mir ging. Auch das Boot war ein Geteiltes: Die Unterseite war von himmelblauer Farbe, die obere gab sich wie ein weites, gelbstinkendes Rapsfeld. Ich könnte Teil des Flusses werden, wenn mir nur nicht zu früh die Puste ausginge, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf. Der spitze, aufgeweichte Zeigefinger meldete sich daraufhin kurz. Ich erinnerte mich an ein Bild der Urgroßmutter, Tiefsee, mit knöchellangen, schwarzfließenden Haaren auf einem durchnässten Kleid. Das Boot kam überraschend und ohne Zubehör, aber mit eindeutigem Slogan: „LASST UNS ALLE DIE ZÄHNE FLETSCHEN!“ stand in serifenlosen Capital Lettern zwischen falschem Himmelblau und stinkendem Rapsgelb als wasserfeste Wortgrenze in drohend glänzendem Schwarz auf dreieinhalb Metern weichgemachtem PVC geschrieben. Ich wusste; die Tiefsee hatte bis zu ihrem Tod alle Weisheitszähne behalten.

Übereilt beschloss ich eine Flucht in Wortfetzen, von mir gesponserter Atemluft und in mir gelagertem Wasser, denn ein eigenes Aquarium, so musste ich einsehen, blieb ein unerfüllbarer Traum vom artübergreifenden, allumfassend gemeinsamen Schweigeerleben. Ich befürchtete, einem aufgeblasenen Tierkörper Leben einzuhauchen, das Boot hatte Zähne, das wusste ich bereits. Jeden Tag befüllte ich das Rettungsmittel, bis ich keinen Atem mehr hatte. Ich würde schwimmfähig werden durch Luftverkehr. Es kam der Tag, an dem das Boot beinahe mein ganzes Zimmer füllte. Ich aber war weniger als ein luftloses Geistwesen, das noch immer schwere Briefe zu verdauen hatte. Mit der Atemluft waren Buchstaben aus den Briefen aus meinem Verdauungstrakt in das Innere des Schlauchbootes gewandert, Rapsgelb und Himmelblau hatten einander buchstäblich eingetrübt. Die Wortgrenze verschwamm. Doch ich war sicher, alles unter mir würde dem Flusswasser standhalten. Meine Befreiung gestaltete sich unerwartet leicht. Der Vertrag lief aus, und man gestattete mir nicht länger, ein „überteuertes Pensionszimmer“ hinter dem Rathaus zu bewohnen, auch die Büchertürme müssten schnellstmöglich verschwinden, sagte eine Altfrauenstimme hinter dem mir zugeteilten Briefschlitz barsch, während sie einen letzten unverdaulichen Brief in meinen Rachen einwarf. Ich trennte das Zimmerquadrat auf die sanfteste Art von mir ab und ließ nichts zurück, das man mit mir hätte verbinden können. Ich war nicht traurig, denn in Salz reingewaschen, spricht man die Wahrheit, das ist ein Tränentrocknen. Befreit trug ich alle meine Bücher im Schlauchboot auf den Fluss hin zu. Die Tiefsee aber schwieg in mir.

Julia Kulewatz studierte Literaturwissenschaft, Philosophie, Modezeichnen, Choreografie in Erfurt und Seoul. Sie ist Dozentin für Kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten und Volkshochschulen sowie Verlagsleitung von kul-ja! publishing. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten, Lyrik, wissenschaftliche und literarische Essays und Romane. 2022 wurde sie mit dem Stadtschreiberstipendium von Neu-Ulm ausgezeichnet, 2023 mit dem KUNO-Essay-Preis.

Beitragsbild © privat

Nathalie Schmid «Wacholder», Plattform Gegenzauber

Wacholder

Kratzer vom Windspiel an der Haustüre
ein verstopfter Tränenkanal & Treppenhausgeschwätz.
Von irgendwo die Erinnerung an Wacholder. Wirst du
mich auch lieben wenn ich das Gedächtnis verliere?
Über die Küchenablage flattern Dämonen wie kleine
schwarze Schmetterlinge ihre Schuppen fächern auf.
Nie weiss man wo als nächstes das Licht hin fällt und was
im Schatten liegen bleibt aber man bittet weiter
um die Zuversicht des Himmels.

(aus dem Gedichtband «Gletscherstück»)

 

In Spuren

Am späten Sonntagnachmittag ist es still
in der Siedlung man hört nur selten
eine Stimme die etwas ruft ein schwaches
Zirpen von einem Vogel. Die Septembersonne
wärmt noch einmal kräftig und die Sonnenblumen
der Nachbarin leuchten. Von Weitem hörst du
das Knattern eines Mopeds bis es sich am
Waldrand verliert du denkst an deine
Schwiegermutter wie sie auf ihrem Solex
über die Grenze fuhr um sich eine Dauerwelle
machen zu lassen vor über sechzig Jahren.
Du besuchst sie oft in diesem Herbst du kannst
ihre verbleibende Zeit sehen ein Haufen Schnee
der in der Septembersonne glitzert. Sie würde
noch immer all deine Pflanzen retten das hat sie
schon oft getan mit Stirnrunzeln und grosser Hingabe.
Gebt mir noch einen Frühling und einen Sommer in
diesem Haus sagt sie seit Jahren. Ich halte doch alles
in einem tadellosen Zustand. Eine Hornisse
knallt gegen das Fenster und von irgendwo
kommt Glockengeläut. Du denkst an die Karpfen
im Lengnauer Weiher wie langsam sie
an die Oberfläche schwimmen fast bewegungslos
lassen sie sich treiben im Sonnenlicht. Du versuchst
dir vorzustellen wie sie Zeit wahrnehmen die Tage
im Regen fallende Blätter die Dunkelheit. Wieder Tage.
Eisschichten auf dem Weiher die unterschiedlichen
Temperaturen von Wasser. Du hast es gesehen
ganz nahe kommen sie einander als folgten sie
einer Spur als vergewisserten sie sich ständig
um die Anwesenheit des Anderen.

(aus dem Gedichtband «Gletscherstück»)

 

mutters legende grace

mit vornehmer distanz wollte sie
für ihren vater von bedeutung sein
im gegensatz zu ihrem vater war sie
mehr eine künstlernatur versprühte
mal eleganz mal insektenmittel
ein neuer formtyp grace
hat eine schwäche für vaterfiguren bringt
diese aus dem gleichgewicht wenn
das brave mädchen plötzlich im nachthemd
und das war diese art von heldin
ich brauche damen die im schlafzimmer
zu nutten werden

man hält an sich mit disziplin
wird es möglich einen leibhaftigen
fürsten für den vater wie gross 
ist monaco? 4 schrankkoffer 56 weitere 
gepäckstücke 72 verwandte freunde
und 110 journalisten
hat sie besondere gedanken 
wenn sie ihre heimat verlässt? 
sie muss viele qualitäten haben 
weil er einen fürchterlichen charakter hat

überflüssig und unterbeschäftigt
und einfach kein glücksgefühl mehr
fällt zur staatskrise das comeback aus
bleiben gepresste blumen einer liebenden 
aber strengen mutter
auf bettwäsche und tapeten
es gab keinen grund für diesen unfall
es gab den ersten trauergottesdienst 
für eine frau der im fernsehen
übertragen worden ist

(aus dem Gedichtband «Die Kindheit ist eine Libelle»)

 

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen, zuletzt «Gletscherstück» (Wolfbach, 2019), «Atlantis lokalisieren» (Wolfbach, 2011); davor «Die Kindheit ist eine Libelle» (Lyrikedition 2000, 2005).. «Lass es gut sein» (Geparden Verlag) ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literatur-Wettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Claudia Herzog

Eva Strautmann «Farbklang», Plattform Gegenzauber

Farbklang

Im strahlenden Licht
fremden Augenscheins
blendet sich wider stilles Verwesen grellen Nimmerseins
Sich zu erzürnen im weissen Klang entgangener Farbenpracht
lasse ich liegen eigene Weltenlosigkeit
Und gehe ich hinaus über himmlische Farbenpracht,
höre ich ein gelbes Stelzen
im farbdurchdrungenen Nimmerfliehen.

«Akt 1», Öl auf Leinwand © Eva Strautmann



Im Schauen

Im Schauen
ohne einen Gegenstand,
eine grüne Wiese, still
im Nachholen,
von dem, was nicht gewesen ist,
eine Spur, wie das Unerhörte,
unverschämt, klingt
grämt sich in etwas hinein,
das keiner kennt und
verschwindet, gleich wieder
ohne ein Wort und wartet.
Lange

«Begegnungen», Öl auf Pappe © Eva Strautmann



In den Höhen

das in die Höhe Schäumen,
das Hinausreichen, Hinüberreichen in das Andere, in die andere Welt?
Das Verlieren jedes einzelnen Schrittes im Stein, im festen Boden gedachter Körper?
Ein Hinübergleiten im Finsteren, im Verborgenen?
Das Herabglitzern erhabener Pracht,
ein Leuchten stummen Sonnenwinkels,
das warm und hoch alles verbietet, alles lichtet und alles auslöscht
im lauten Dämmer, im Sprechen über sich selbst,
ein Verzweifeln über nichts,
im Angesicht hoher Steinwände, kalter Felswände,
im Angesicht seiner Selbst, ohne Selbst,
im Fraglichen verloren….

 

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Großbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regie-Assistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

Hanna Sukare «Grün wird Weiß», Plattform Gegenzauber

anfangen

„Der schwierigste Teil des Schreibens ist das Nichtschreiben“, sagt Ilse Aichinger(1). Vielleicht ist mir deshalb das Anfangen wichtig. Anfangen in dem nebligen Vertrauen, eines Tages wird aus der Ahnung ein Text werden. Am Anfang kann der Titel eines Bildes stehen, zum Beispiel Schwedenreiter. Manchmal schenkt mir ein Nachttraum den ersten und letzten Satz, wie für den Roman Staubzunge. Dieser Traum kam allerdings erst, nachdem ich mich zur Erforschung des Materials auf mehrere Reisen nach Polen begeben hatte. Womöglich war ich, als diese Traumsätze kamen, schon mitten drin in der Geschichte, über den Anfang weit hinaus.

Oft war Anfangen das Recherchieren in Archiven und Bibliotheken, weil ich etwa die Geschichte des Wehrmachtssoldaten Rechermacher erzählen wollte und dafür zuerst einiges über dessen militärische Laufbahn sowie über die Gefängnisse und Feldstrafgefangenenlager der Wehrmacht lernen musste. Der Anfang ist lesen: Bücher, Zeitungen, Stadt- und Fahrpläne, Rezepte, Landkarten, Theaterzettel etc. Anfang ist Anschauung gewinnen, zum Beispiel von dem Beruf des Brückenmeisters, der mir unbekannt war, bis ich den Schwedenreiter (2) kennenlernte. Zur Gewinnung dieser Anschauung trieb ich mich manchmal nachts auf Bahngleisen herum, die wegen der Reparatur einer Brücke gesperrt waren, oder ich geriet unter der Stadt in weitläufige Tunnels, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Solche Ausflüge begeistern mich und lassen mich vergessen, dass ich einen Text vorbereite. Nach einiger Zeit türmt sich auf meinen Tischen das Material, meist zu viel. 

Dann beginnt erst das eigentliche Anfangen, dem ich, wie Foucault sagt, „enthoben“ sein möchte, mich lieber, hinter meinem Rücken, ins Schreiben „verstohlen einschleichen“ würde. Foucault sehnt sich nach einer „Stimme ohne Namen“, die ihm „immer schon voraus war“ und in deren Fugen er sich „unbemerkt einnisten“ möchte, er spricht von seinem „Verlangen, nicht anfangen zu müssen“ (3). In diesem zweiten Anfang meldet sich eine Angst, vor dem Nichtkönnen, dem Versagen, vor endgültigem Scheitern. Gedanklich und körperlich umkreise ich mein Material, ähnlich einer Schwammerlsucherin, die in einem bestimmten Waldstück Schwammerln zwar vermutet, aber noch nicht sieht: Circumambulatio. Das Umkreisen erzeugt ein oft fast unerträgliches Spannungsgefühl – C.G. Jung hat das Phänomen beschrieben –, ich bin auf den potentiellen Mittelpunkt zwar konzentriert, kenne ihn aber noch nicht.(4) Ich taste mich voran, meistens blind. Verbales Schweigen (tacere) und die Abwesenheit von Lärm (silere), schreibt Roland Barthes, seien zur Aufrechterhaltung dieses „Zustands ohne Paradigma“ nötig.(5) Wird mir dieser Zustand zu streng, sticke ich, zum Beispiel das Umkreisen. Ich sticke, bis ich statt der Nadel wieder einen Bleistift – am liebsten den grünen Faber-Castell B – in die Hand nehmen will; ich sticke und schreibe (die ersten Textfassungen) mit der Hand. In der Anfangsphase umgibt ein „Zaun der Hoffnung“, wie Nietzsche ihn nennt (6), den inneren Raum. Es mag jener Raum sein, den die alten Griechen Temenos nannten. Dieser Zaun schützt mich, bis sich Sätze und Stiche gebildet haben, die eine mögliche Form andeuten.

I circle around, 78 x 65,5 cm, Seide und Leinen auf Leinen, Detail

Zuerst gestatte ich den Sätzen alles. Sie können als Fetzen daherkommen, gebrochen, gestottert, dürfen aus einem Wort bestehen oder sich verschachteln. Sie nehmen das Material vorerst schwammartig auf. Bald beginnt das Umschreiben. Bis zum letzten Satz bleibt das Schreiben dann Umschreiben, Überschreiben, Neuschreiben, Verwerfen, Neuschreiben, Umschreiben. „Zwischen der Haltung zu den wirklichen Personen und der Haltung zum Wort entscheidet sich der Satz, bis er, gänzlich erfunden, das wirklich Gewesene einigermaßen streifen kann“, beschreibt Herta Müller (7) die langsame Suchbewegung. Das Umkreisen, die Bewegung verwende ich hier nicht als bloße Metaphern. Zum Schreiben brauche ich nicht nur weiche Bleistifte, Ruhe und Papier, sondern auch bequeme Schuhe. Schuhe kommen in meinen Träumen vor, zwei der Exemplare habe ich gestickt. Hier eines, das mir (im Traum) in der Wiener Josefstadt geschenkt wurde. Der tägliche Spaziergang, möglichst ausgedehnt in unverbautem Gebiet und ohne Begleitung, fördert das Anfangen, fördert die gedankliche Suchbewegung, bringt Einfälle.

Verirrt in Josefstadt, 121 x 121 cm, Seide und Leinen auf Leinen, Detail

verwandeln

Der Einfall lässt sich nicht ausdenken. Von außen fällt oder fliegt er ins Gehirn, ins Gemüt. Ein Windstoß kann den Einfall bringen, eine Geste, die Form eines Steinbruchs, der Laut eines Tieres, der Lichtpunkt auf einem Gegenstand, ein Stern auch oder die Nacht bringen Einfälle. Das geschieht oft. Und doch bleibt die Verbindung zwischen dem Außen und dem Innen so dunkel, dass niemand den Einfall bewusst erzeugen kann. Er bleibt Zufall, Geschenk von irgendwo, von irgendwas oder irgendwem, unentbehrlich fürs Schreiben. Aufmerksamkeit und Offenheit sind nötig, den Einfall wahrzunehmen und schnell genug zu Papier zu bringen, er entwischt leicht wie ein Hauch. Zu Papier bringen, das von außen ins Innere Gefallene zurück nach außen tragen, schreiben also. Das Geheimnis des Schreibens erinnert mich mehr und mehr an das Geheimnis der Transsubstantiation in der römisch-katholischen Messe: Oblate werde Fleisch, Wein werde Blut Christi, behaupten Gläubige. Wie die Gläubigen, die sich wandlungsfähige Oblaten auf der Zunge zergehen lassen, muss auch ich glauben. Vorbehaltlos muss ich glauben und vertrauen, dass aus sieben Buchstaben ein Lächeln wird.

Schreiben ist Stoffwechsel, Alchemie, Verwandlung. Damit ich überhaupt schreiben kann, muss ich mir den Versuch versagen, den Vorgang zu analysieren. Sobald ich frage: Wo entstehen die Buchstaben? Wie finden sie zusammen in ein Wort? Wie gelangt das Wort aus dem Gehirn durch den Kehlkopf in den Arm, in die Hand, aufs Papier? Sobald ich diese oder Thomas Manns Frage stelle: „Wie wird aus einer Sache ein Satz?“ (8), kann ich kein Wort mehr schreiben. Ich stocke und stecke fest. Das Schreibwunder darf ich ebenso wenig hinterfragen, wie die Entstehung der Milch: Grün wird Weiß, Festes flüssig, Unverdauliches (für manche) bekömmlich. Oder der Slibowitz. Sein Duft lässt mich vertrauen, dass dieser durchsichtig brennende Geist einmal als Festes, Kerniges an einem Baum hing, purpurn und süß. Das Schreibwunder zu ergründen, gleicht dem Versuch, herauszufinden, welcher Grashalm die Milch süß oder welche Zwetschke den Slibowitz mild gemacht hat. Literarische Chemie, unentschlüsselbar. 

Das Ausgangsmaterial muss sich innerlich – den genauen Ort vermag ich nicht auszumachen, weiß nur, dass dies nicht allein im Kopf geschieht – langsam verdauen. Entlang eines Plots will ich nicht schreiben, es erschiene mir wie Malen nach Zahlen. Der Plot nimmt dem Schreiben sein Bestes, seine „ursprüngliche Bestimmung, der Ort einer Erfahrung, eines Versuchs zu sein“, wie Foucault angesichts seines Überdrusses an Büchern bemerkt, die konzipiert sind, lange bevor sie geschrieben werden. Beim Schreiben ohne Plot bleibt bis zum letzten Satz Ungewissheit, das Scheitern des gesamten Vorhabens ist möglich. Statt eines Plots verwende ich Figuren, kleine Figuren aus Holz oder Stoff, jede Geschichte hat ihr eigenes Personal.

Personal des Romans Staubzunge

Das Personal bleibt auf dem Schreibtisch, bis eine Geschichte ihr Ende gefunden hat. Mit dem Personal rede ich, wenn ich nicht weiß, wie die Geschichte weitergeht. Das Personal gibt Antworten. Erst wenn die Geschichte einmal ganz erzählt ist und handgeschrieben auf dem Tisch liegt, nehme ich bewusster Einfluss auf das Stoffwechselendprodukt: Ich übertrage den Text in den Computer, suche treffendere Ausdrücke, stelle Worte um, überprüfe die Anschlüsse zwischen den Sätzen, feile. Alles anfangs unbewusst Gesetzte sollte den Text nach der letzten Durchsicht verlassen haben. Das gelingt nie ganz. Selbst nach etlichen Überarbeitungen entdecke ich im gedruckten Text Worte oder Sätze, die mich stören. Diese Störungen sind nicht immer als Fehler zu bezeichnen, aber diese Textstellen habe ich offenbar nicht sorgsam genug überprüft. Mittels dieser Störungen sagt die Sprache: Ich bin die Meisterin, frei, ich lass mich nicht beherrschen. Ihren Primat anzuerkennen entlastet Schreibende ebenso wie die Bewusstmachung der Herkunft des Einfalls. Die wundersame Metamorphose der Wirklichkeit kann ich nicht ergründen, und doch hat sie mich immer wieder so beschäftigt, dass ich einmal ein Gedicht über sie geschrieben und ihr eine Stickerei gewidmet habe.

Aus den Händen der Luft

Du löst dich aus Dickicht
Und nimmst deinen Weg
Dir unbekannt
Du lässt dich ein mit dem Speichel
Einer Zunge vertraust du dich an
Und fällst in die Hände der Luft
Vereint macht ihr euch Lippen untertan
Und du setzt den Fuß ins Helle
Du Wort.

Dieses Gedicht widmete ich Marica Bodrožić, nachdem ich ihre Betrachtungen Das Auge hinter dem Auge. Über das Erscheinen des Wortes im Raum (9) gelesen hatte. Bodrožić hört nicht auf zu staunen, sie staunt über die Entstehung von Worten und Sätzen. 

Innere Angelegenheiten, 94 x 71 cm, Seide und Leinen auf Leinen

Gerhard Fritsch verglich die Entstehung der Texte mit Winzerarbeit. Literatur sei gekelterte Trauer, meinte er. Das Keltern verändert nicht nur den Ausgangsstoff, sondern auch die Schreibende. 

Einsamer und freier hat mich das Schreiben gemacht, auch unsicherer. Ist das letzte Wort geschrieben, kommt gleich die Frage, ob der Text nicht eine ganz andere Gestalt bräuchte, ob seine Sätze nicht klarer und einfacher sein könnten?

zweifeln

Routine stellt sich nicht ein. Jeder neue Textversuch macht mich wieder zur Anfängerin, zur Nichtkönnerin, ausgeliefert dem Nichtwissen. Mit jedem neuen Text wächst meine Unsicherheit. Und wieder meldet sich die Angst vor dem Nichtkönnen, dem Versagen, vor dem endgültigen Scheitern. Nicht nur die Sätze und die ihnen zugrunde liegenden Gedanken bezweifle ich, sondern das Schreiben selbst. Seit die Gewalt den Planeten wieder einmal epidemisch überzieht, ganze Landstriche verwüstet, Leiber und Lieben zerreißt, will mir Paul Flemings Sei dennoch unverzagt nicht mehr recht gelingen. Eine Figur meines Romans Rechermacher behauptet: Erzählt muss werden, hin zu den Gegenden jenseits der Angst etc. Ich zögere, dieser Behauptung zuzustimmen. Wozu noch Geschichten? Und Geschichten worüber? Unterhaltende lenken ab. Tröstende beschönigen. Politische ergreifen Partei. Berichte über die Gewalt verdoppeln die Realität, undsoweiter. Wozu noch Worte? Und wenn noch Worte, welche? Wäre es nicht dieser Zeit und meiner Ohnmacht in ihr angemessener, täglich der Toten zu gedenken, der Verwundeten und Obdachlosen? Schweigend. Doch Flemings Zeitgenosse, Andreas Gryphius, schrieb, dass ihm gerade „die scharfe Not die Federn in die Faust zwang. Bestürzt durch Schwert und Feuer, durch liebster Freunde Tod, durch Blutsverwandter Flucht und Elend“ beschrieb er in seinen Sonetten „was itzt kommt vor“. „Itzt“ meinte das 17. Jahrhundert, in dem Fleming und Gryphius lebten, jenes Jahrhundert, das in Europa nur neun Friedensjahre hatte.

Ja, der Toten gedenken. Schweigend. Doch die Tage des hiesigen Friedens auch nützen für poetische Pirouetten. Beim Drehen und Kreiseln entstehen Gesten des Öffnens, Gebens und Umarmens, die auf ein selbstbestimmtes, zärtliches Leben verweisen. In dem nebligen Vertrauen, dass eines Tages aus der Ahnung ein Text wird, stets von Neuem anfangen.

Anmerkungen:
1
Simone Fässler (Hg.): Ilse Aichinger. Es muss gar nichts bleiben. Interviews. Wien 2011, S. 22
2 Hauptfigur von Sukares gleichnamigen Romans 
3 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M., 1991, S. 9
4 Carl Gustav Jung: Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 264f
5 Roland Barthes: Das Neutrum, Frankfurt a. M., 2005, S. 55 f
6 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1964, S. 50
7 Herta Müller: Die Anwendung der dünnen Straßen. Klagenfurter Rede zur Literatur, 2004 
8 Thomas Mann: Bilse und ich. In: Th. Mann: Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M., 1925, S. 3–17
9 Marica Bodrožić: Das Auge hinter dem Auge. Betrachtungen. Otto Müller Verlag Salzburg 2015

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau. Seit ihrer Jugend lebt sie meistens in Wien. Für «Staubzunge» (2016) wurde die Autorin mit dem Rauriser Literaturpreis für das beste Debüt in deutscher Sprache ausgezeichnet und war mit «Schwedenreiter» (2019) auf der Shortlist für den European Union Prize for Literature. 2022 erschien ihr dritter Roman «Rechermacher«.

Beitragsbild © Milan Boehm

Kuno Roth «Allein mit dem Schreiben und mit sich in Irland», Plattform Gegenzauber

Oktober 2023, dort oben im Nordwesten Irlands, an der Küste, entspricht das Wetter dem Vorurteil: Wind, Wolken, Regen und ab und zu die Sonne. Dort in Glencolmcille*, wo ich mich für vier Wochen zum lyrischen Schreiben niederlasse:

Nun stehe ich hier.
Habe mich 
an den Rand der Welt gestellt.
Blicke 
auf Klippen und das Meer
für Rückblicke, Einblicke, Ausblicke.
Augenblicke, die mir gehören.
Möge mich dieser Schatz 
auf Empfang stellen.

Empfänglich war ich der Wind- und Grautöne wegen namentlich auch für melancholische Stimmungen. Was zum Schreiben treiben kann:

Der Nebel nähert sich
auf leisen Pfoten.
Schleicht über den Hügel,
breitet seinen grauen Schal 
über Bucht und Dorf
aus.
Liegt auf der Lauer, 
lugt,
steigt unvermittelt ab.

Glencolmcille? Der Name Glencolmcille bedeutet ‘das Tal von Colm Cille’. Colm Cille ist einer der drei Schutzheiligen Irlands; ein Priester, der im 6. Jahrhundert eine Zeit lang hier lebte. Es gibt noch ein paar Spuren von ihm, zu welchen ein nach ihm benannter Pilgerweg führt. 
Mein Pilgern verläuft auf anderen Wegen. Man kann sie er-fahren: Die Strassen sind verkehrsarm, das mit dem Linksverkehr kriegt man hin. Man kann sie er-wandern: Eine der Wanderungen führt weglos nach Port. Und dort den Wellen zusehen und zuhören: 

Kommt die Flut,
rollen die Kiesel uferwärts,
rollen zurück, lässt die Welle wieder locker,
reiben sich.
Glatt geworden vom vielen Rollen.
Die nächste Welle rollt sie abermals hinauf.
Das Meer als Sisyphus?
Nein, nur Meer.
Gelassen 
Dinge ins Rollen bringen.

Illustration: Markus Reich (Ausschnitt «zurück, lässt die Welle …)

 Und einem Schaf zuzusehen, das sich unbeobachtet fühlt:

Das Schaf sucht 
maulunten
nach Grashalmen, 
kommt auf ein Stück Weide,
wie zuvor schon Mähscharen.
Es zupft und rupft und zupft.
Unablässig wie ein Friseur,
der einen weiteren Millimeter Haar
über seinen Kamm schert.

Es ist ein Pilgern abseits der ausgetretenen Pfade des Alltags. Offenen Sinnes absichtslos durch die Natur, sodann durch Wörter und Zeilen streifen, die aus der Feder tropfen. Äussere Landschaften, die sich zu inneren verdichten:

Eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen dem Rauschen des Meeres und des Windes. Das Licht ändert sich minütlich. Eine atemberaubend schöne Gegend mit hohen Klippen, eine raue, heidenreiche Landschaft, die bei Sonnenuntergang himmlisch leuchtet, freilich eher selten:

Schreiben hautnah an der Sache. Zum Beispiel eine Krähe betrachten und plötzlich taucht eine Frage auf: 

Man versteht nicht,
warum die Krähe im Regen 
und gegen den Wind fliegt.
Mühelos, scheint es.
Was gewinnt sie, das zu tun?
Längst ist sie weiter,
lässt den Gedanken,
den sie nicht hat,
beim Beobachter zurück.

Dieses Hautnahe machte es auch, dass ich Schreibblockaden kaum bemerkte. Ging es nicht weiter, ging ich nach draussen, streckte die Fühler aus und beobachte, was geschah. Ging das nicht, ging ich nach drinnen, Fühler weiterhin ausgestreckt: Auszeit ist auch Inzeit. 
Vier Wochen alleine mit mir und dem Schreiben und ohne News, sind ein enormes Privileg. Nicht immer nur einfach, die Stimmungen schwankten zwar nicht wie das Wetter, aber doch auch. 
Und ich hatte zwei Anker: Rückmeldungen von Zuhause und von Schreibfreund:innen sowie als Abwechslung die bereits verfassten Gedichte, die ich mitnahm und die fürs neue Buch noch gehobelt und geschliffen werden wollten.

* Glencolmcille ist zwar klein und abgelegen, und doch auch ein Kulturort mit einem Zentrum für gälische Sprache und keltische Kultur, einem Freilichtmuseum, einer Schafwoll-Manufaktur sowie zwei Pubs mit Musik am Wochenende. Und im Winterhalbjahr gibt es ein Angebot für einmonatige ‘Art-Residencies’ – Informationen bei stefanhofmann7@gmail.com.

Kuno Roth schreibt Gedichte, Aphorismen und Kolumnen (letztere bei Kampagnenforum und BVM). Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016), «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018) sowie ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› (2. Aufl. 2022, bei ProLyrica). Sein nächstes Buch – ‘seelensee’ mit u.a. einigen Gedichten aus Glen – erscheint im Herbst 2024.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, nunmehr Humanökologe, Experte für Lernprozesse sowie Schriftsteller, arbeitete zuletzt als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. Frisch pensioniert ist er weiterhin als Berater tätig und Co-Präsident von Solafrica.