Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp

Nachdem Peter Handke 2019 für seine Literatur wohlverdient den Nobelpreis erhalten hatte, es aber nicht vermeiden konnte, dass sich der Fokus der Öffentlichkeit auf all die Nebenschauplätze richtete, war ich wie immer gespannt, was Neues vom dem Dichter mit königlichen Ehren zu erwarten war.

Peter Handke wäre nicht Peter Handke, hätte er mit seinem neuen Buch in der Bibliothek Suhrkamp nicht überrascht. Wer auf den vergrämten Missverstandenen spekulierte oder den in sich Gekehrten, Trotzigen erwartete, wurde ebenso überrascht wie ich, der ich auf einen «Handke wie immer und nie» hoffte und mit seinem neuen Buch „Mein Tag im anderen Land“ so völlig überrascht und verblüfft wurde. Klar, auch ich lese jeden geschliffenen Satz aus dem Kosmos Handke in der Erwartung, Spuren, Hinweise und Rückschlüsse ziehen zu können, was der Text hinter den Sätzen verborgen mitteilt. Und „Mein Tag im anderen Land“ bietet dafür Breitseite genug. Die „Dämonengeschichte“, wie Peter Handke sein Buch untertitelt, ist alles; ein grosses Rätsel, ein verschlüsseltes Gleichnis, ein heller Traum, ein Tag in einer Zwischenwelt.

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp, 2021, 93 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22524-0

Ein Mann wandelt durch einen Tag. Manchmal in einer realen Welt, manchmal im Dazwischen, zwischen Traum, Wahn, Fata Morgana und Realität. Von sich selbst und seiner Schwester begleitet, manchmal ganz nah, manchmal weit abdriftend. Er geht durch einen Ort, einen Ort, ebenso unbekannt wie vertraut. Geht wie von Sinnen und doch mit ganz scharfem Gespür für das, was sich neben der Realität offenbart. Er redet mit lauten Zungen, schwadroniert, schreit und gebärdet sich wie ein Entfesselter, verbreitet Schrecken und Verunsicherung, um dann mit einem Mal wieder der ganz Sanftmütige und Ruhige zu werden. Vielleicht erkennt man dort den Autor selbst, wenn man sich erinnert an seine selbstvergessenen literarischen Erkundungen, seine ruhigen Worte in der lichtdurchfluteten Schreibstube seines Hauses, in den Betrachtungen in seinem verwachsenen Garten. Aber ebenso in der verbalen Entgleisung, wenn man Handke zu reduzieren versucht, wenn man ihm auf die Pelle rückt.

Das Buch ist eine Aufzeichnung. Der Mann schreibt, was ihn durch den Tag begleitet hat. Das Buch beginnt: „In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe.“ Es ist ein Gang in eine Welt gleich daneben. Als wäre der Mann auch einen langen Wachtraum gegangen. Er spricht mit Menschen, Tieren und Dingen. Manchmal laut, manchmal leise. Manchmal in einer Sprache, die niemand zu verstehen weiss, die sich allen Deutungen entzieht. Einen Tagtraum, aus dem er nicht zu entfliehen weiss, an dem er leidet, von dem er gerne erlöst werden würde; „Dass mich doch endlich einmal der Blitz träfe. Dass einer ein Messer zöge und es mir in das Herz stiesse.“ Bis er um die Stunden der Mitternacht sogar seine Zukünftige trifft, die ihn mit „He, Seltsamer!“ anspricht.

So seltsam die Erzählung, so seltsam die Sprache. Peter Handke bedient sich einer Sprache, die wie die Geschichte selbst leicht daneben klingt, ebenso wie die Geschichte entrückt, nicht der Welt hier und der Zeit jetzt entsprechend. Eine Sprache, die beinah singt, die Haken schlägt und Kringel zeichnet, die anders ist als das, was der Realität entspricht, die mich wegzieht, meinen Blick verbaut.

Ich las „Mein Tag im andern Land“ auf seltsame Weise berührt, verzückt und verunsichert. Ein Handke eben doch!

Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschliessenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman «Die Hornissen». Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks «Publikumsbeschimpfung».
Seitdem hat er mehr als dreissig Erzählungen und Prosawerke verfasst. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, 2019 mit dem Literaturnobelpreis.

Philipp Frei, geboren 1965 in St.Gallen, Malerei und Zeichnung,  lebt und arbeitet in Zürich und Küsnacht, Atelier in Zürich.

Beitragsbilder © Philipp Frei

Ausstellung Philipp Frei „am Rande der Spur“ in Zürich

Am 8. Juni eröffnet Philipp Frei seine neue Ausstellung in Zürich! Seine Bilder erzählen viel, mehr als Geschichten. Es sind Einschnitte in Innenwelten, Aufforderungen zum Innehalten. 

«Meine Arbeiten entstehen aus der Wechselwirkung von Komposition, Farbe und Faktur. Eine informell flüchtige Bildsprache versucht die malerische Artikulation von Raum erfahrbar zu machen. Mit der Befragung des Raumes und seiner Grenzen, dem Abwägen von An- und Abwesenheit suche ich die Balance zwischen Erinnerung und Gegenwart. Lakonische Auslassungen, Aussparungen verorten und suchen ein vieldeutiges Konglomerat. Gleichzeitig changieren die Arbeiten auf der Schwelle, im Übergang – Bild, Bildobjekt und der Skulptur.»

 

3. Randnotiz: Jeder in seiner Welt

Jeder in seiner Welt
Manchmal setze ich mich ins Café, um in Ruhe schreiben zu können, bestelle mir einen Kaffee, eine Praline dazu, lasse den Blick kurz schweifen, um zu beginnen. Mir gefällt das Gemurmel, das mich nichts angeht. Es scheint meine Konzentration anzustacheln. Aber manchmal klappt das nicht. Sie kennen das. Sie sitzen im Zug und müssen das Abteil verlassen, weil jemand kaum einen Meter Luftlinie entfernt mit Stöpseln in den Ohren so laut über die Untreue ihres Freundes schimpft, dass man sich zu schämen beginnt und zur Flucht genötigt wird. Im Café wars diesmal anders. Zwei ältere Männer hinter mir hielten mich vom Schreiben ab. Sie sprachen im Minutentakt über alle möglichen Themen; Motorräder, Frauenschuhe, Fussball, Energieineffizienz, Ferien in der Türkei, Trump, Rasentrimmer, Überstunden… Ich sass mit dem Rücken zu den beiden, sah sie nicht. Aber irgendwann legte ich den Stift weg. Ich war nicht überrascht über die Sprunghaftigkeit, auch nicht erschüttert über die deftige Wortwahl. Auch nicht über Meinungen, die ich nicht teilen konnte. Aber darüber, wie weit ich in meiner Welt von der ihren entfernt bin. Als ich dann doch genug hatte, ein erneuter Versuch zu schreiben gescheitert war, packte ich meine Sachen, legte die Münzen neben die Tasse und stand auf. Am Tisch hinter mir sassen zwei Männer so alt wie ich, die meine Brüder hätten sein können.

Gallus Frei-Tomic

Titelfoto «Sprengtafel» von Philipp Frei

Philipp Frei, Maler, lädt ein ins Atelier.

Zurück aus einem Aufenthalt in Meran, zeigt Philipp Frei in seinem Atelier in Zürich aktuelle Arbeiten aus seinem Schaffen. Möglich wird ein Einblick ins Atelier, einem übers Jahr meist verborgenen Raum.

Philipp Frei zeigt Arbeiten an ihrem Entstehungsort; Zeichnungen, Arbeiten auf Papier, Malerei, Objekte, jedoch nicht in Form einer Ausstellung im «Whitecube». Der Raum, die Werkstatt, das Material bleiben sichtbar. Unfertiges neben Gereiftem, als Formation ausgewählt oder einzeln, vieles noch in der Warteschlaufe.
Dazu zurückliegende Arbeiten, das Lager, die Sammlung, Skizzenbücher und Entwürfe.

Geboten wird das Gespräch, Wein und Brot.

Mehr Informationen unter der Webseite des Künstlers.

 

Christine Fischer „Ihre nexten Anschlüsse“

Eine Wolke am Himmel.
An der Wolke ein Himmel.

In die Stunde gegossen mein Körper.
Die Stunde in meinen Körper gegossen.

Stimmen dringen an mein Ohr.
Ohren dringen an meine Stimme. Münder, Augen.

Eine Frau wartet mit den Händen.
Die Hände warten mit der Frau.

Die wartenden Menschen schauen nach Osten.
Der wartende Osten schaut nach den Menschen.
Die haben’s gut. Haben’s die gut?

Im Tunnel öffnet die Erinnerung die Augen.
In der Erinnerung öffnet der Tunnel die Augen.
In den Augen öffnet der Tunnel die Erinnerung.

Das Licht ist müde geworden in der Zeit.
Die Zeit ist müde geworden im Licht.

Meine Hand schreibt über das Licht
und das Licht schreibt über meine Hand.
Eine Erzählung vom Alter.

Eine Frau zeigt ihrem Kind, wie Winken geht.
Ein Winken zeigt der Frau, wie ihr Kind geht.
Wie behände es geht, wie anmutig!

Ich sehe nur, was existiert.
Es existiert nur, was ich sehe.

Die automatische Türverriegelung hat einen Defekt.
Der Defekt hat eine automatische Türverriegelung.
Was bin ich froh darüber!

Christine Fischer

gemalt von Philipp Frei
«Wort», Philipp Frei, Tempera und Ölfarbe auf Papier, 37 x 18.5 cm, 2016

Wer mehr Bilder des Malers Philipp Frei sehen will, findet Informationen unter philippfrei.ch!

Christine Fischer, Nacht-Denken

Anlässlich einer Finissage las die St. Galler Schriftstellerin Christine Fischer im Kunstraum des Kornhauses in Rorschach unveröffentlichte Texte. Was sonst vielleicht nie an die Öffentlichkeit kommt, verzückte im hellen Raum am See eine aufmerksam zuhörende Schar Zuhörerinnen und Zuhörer. Christine Fischer zeigte, was sonst nie an die Oberfläche kommt: Arbeitshefte, Tagebücher, Notizensammlungen, Arbeitsbücher, kleine Notizblöcke und sogar den ersten «Roman», den sie mit zehn Jahren in ein Schulheft schrieb.

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Angesprochen darauf, was nun mit solchen Texten geschieht, schickte mir Christine Fischer eine Auswahl kurzer Texte zu. Kombiniert mit Bildern, Skizzen und Zeichnungen von Philipp Frei werden diese Texte in unregelmässigen Abständen auf dieser «Plattform» erscheinen.

Nacht-Denken

Aus der Nacht ergibt sich ein Tag und aus dem Tag ergibt sich ein Wort, ein neues Wort. Aus dem neuen Wort ergibt sich ein Anfang und aus dem Anfang eine Fortsetzung. Aus der Fortsetzung ergibt sich eine Abfolge und aus der Abfolge eine Menschheitsgeschichte das ist schon krass. Aus der Menschheitsgeschichte ergibt sich ein Gewicht und aus dem Gewicht ein Ort. Aus dem Ort ergibt sich eine Grenze und aus der Grenze eine Angst so ist es immer. Aus der Angst ergibt sich eine Abwehr und aus der Abwehr eine Notwehr. Aus der Notwehr ergibt sich eine Zerstörung und aus der Zerstörung ein Leid, so gross wie der Erdball.

Aus der Nacht ergibt sich ein Tag und aus dem Tag ergibt sich eine Stunde und aus der Stunde ergibt sich eine Zeit. Aus der Zeit ergibt sich eine Entwicklung und aus der Entwicklung eine Erkenntnis wenn’s hoch kommt. Aus der Erkenntnis ergibt sich ein Kopfschütteln und aus dem Kopfschütteln ein grosses Gelächter. Aus dem Gelächter ergibt sich eine Freude und aus der Freude ein Fest. Aus dem Fest ergibt sich eine Nähe und aus der Nähe ein Vertrautsein, klein wie eine Kaffeebohne. Aus der Kaffeebohne ergibt sich ein Getränk, das alle Völker verbindet und aus der Verbindung ergibt sich ein Werk und aus dem Werk ergibt sich das Vergehen dieses Werks so ist es immer. Aus dem Vergehen dieses Werks ergibt sich ein neues Wort in einer neuen Zeit am alten Ort das wünsch ich mir.

Christine Fischer