Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger

Es gibt Geschichten und Stoffe, bei denen man sich wundert, dass sie so lange schlummerten, so lange warten mussten, bis jemand Literatur aus ihnen macht. Was Margrit Schriber mit ihrem Meisterstück „Die Stickerin“ gelungen ist, ist verblüffend und weht den Wind grosser Gefühle und grosser Leidenschaften in meine kleine Lesestube.

Sie sei dem Stoff vor vielen Jahren über den Weg gelaufen. Und auch wenn andere Bücher zuerst geschrieben werden mussten, reifte der Stoff, bis er sich nicht mehr zurückhalten liess“, erzählte Margrit Schriber anlässlich ihrer Buchtaufe im proppenvollen Saal beim Hotel Hofweissbad, unweit von jenem Ort, an dem die Protagonistin Maria Antonia Räss 1893 zur Welt kam. Im Appenzell Innerrhodischen, auf einem kleinen Bauerngut auf dem Wellenhügel, einem niederen Gehöft, in dessen Webkeller die kleine Maria Antonia schon fünfjährig als flinke Fädlerin auffiel, reist die auserwählte Sechzehnjährige als Schaustickerin in die europäischen Metropolen, als eigentliches Exportgut eines Bauernkantons, im Schatten der Stickereimetropole St. Gallen und erobert später aus ihrer Broderie in New York die Haute Couture und den Geldadel des 20. Jahrhunderts.

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger, 2024, 233 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-03762-111-0

Die Gegensätze in Margrit Schribers Roman könnten grösser nicht sein: Hier das beschaulich, niedlich scheinende Appenzellerland, dort die Schluchten New Yorks. Hier die düster feuchten Keller im Hof Grüt, dort die mondäne Broderie im Rockefeller Center. Hier der Geruch nach Ziegen und Kuhmilch, dort der müde Kater auf dem Samtkissen. Margrit Schriber leuchtet das Leben der reichen Tante in Amerika nicht aus. Den reichen Teppich aus Fakten und Fiktion bestickt Margrit Schriber gekonnt zu einem Zeugnis des 20. Jahrhunderts, der Geschichte einer Frau, die sich nicht bestimmen lassen will, ausgewandert aus einem Landstrich, indem das Frauenstimmrecht erst nach dem Tod der Protagonistin 1990 von den Männern gnädigst angenommen wurde, eingetaucht in ein Land der Einwanderer, ein Land, das von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen gebeutelt wurde.

„Maria Antonia Räss. Die Stickerin“ ist ein Roman von unbändiger Kraft, auch ein Spiegelbild der Autorin selbst, die ein Leben lang mit den traditionellen Einordungen und Zuschreibungen zu kämpfen hatte. MAR, Maria Antonia Räss regierte zu Lebzeiten unangefochten ein Imperium und verschaffte vielen in ihrem Heimatkanton ein sicheres Einkommen. Sie, die es in Übersee schaffte, aus der Namenlosigkeit Bedeutung zu generieren, eine Vertraute Coco Chanels wurde, eine Muse Walt Disneys, inszenierte ihre Besuche im Appenzellerland stets zu grosszügigen Triumpfzügen, bei denen sie im besten Hotel des Ortes Hof hielt. Die kleine Frau, die die Upperclass der Staaten blendete, gab sich im Heimatkanton als Wohltäterin und heimliche Rächerin an den festgefahrenen Strukturen einer patriarchalischen Welt.

Aber Margrit Schribers Intention war kein Denkmal, kein Geschichtsbuch und keine Tellerwäscherinnenbiographie. Margrit Schriber zeichnet ein Porträt einer ewig suchenden Frau. Sei es die Suche nach Anerkennung, nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Respekt. Maria Antonia Räss bleibt auch nach der Lektüre des Romans ein Rätsel. Eine stellvertretende Geschichte all jener, die sich auf den mühsamen Weg der Selbstbestimmung machten, die den Kampf nicht scheuten, die sich nie entmutigen liessen. „Die Stickerin“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihren nie gestillten Sehnsüchten stellte, die aufrecht blieb, sich in keine Schublade drängen liess.

Bühne ihres Romans ist der Rathaussaal im Kantonshauptort Appenzell, in dem sich alle rechtmässigen und ungeladenen Sippenmitglieder zur Erbteilung versammeln. Auf einem Tisch im Saal ist alles zusammengetragen; Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündel und eine vernagelte Kiste Dom Pérignon, alles, was von dem einstigen Riesenvermögen übrig geblieben ist. Ziemlich wenig angesichts dessen, was sich in den Vorstellungen ihrer Verwandtschaft über die Jahrzehnte als scheinbare Tatsache verfestigte. Erstaunlich wenig für ein Leben, das die Protagonistin in ihren späten Jahren mit viel Pomp inszenierte.

Maria Antonia Räss starb 1980 auf einer ihrer Reisen in ihren Heimatkanton. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Eggerstanden, neben der Kirche, die ohne ihr Geld nie so hätte erbaut werden können. Margrit Schriber schreibt sich mit „Die Stickerin“ nicht nur ins Selbstbewusstsein eines kleinen, traditionsreichen Kantons. Margrit Schriber schrieb mit „Die Stickerin“ einen fulminanten Roman über den Kampf einer Frau durch die Zeit.

Vielfach faszinierend!

Interview

Was für ein Roman, was für ein Buch, was für eine Geschichte. Ich war an der Bauchtaufe im Hotel Hofweissbad im Kanton Appenzell Innerrhoden, einem Ort, der wie die Geschichte von Maria Antonia Räss die Geschichte des kleinen Kantons im 20. Jahrhundert repräsentiert, einer Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, eine Geschichte der Industrialisierung, der Moderne, einer Geschichte zwischen Tradition und Aufbruch. War dir von Anfang an bewusst, wie viel Potenzial in diesem Stoff steckt?
Zuerst war da nur diese Maria Antonia Räss und ihre exzentrischen Auftritte als Frau von Welt, die mich beeindruckten. Als ich mich in die Kinderarbeit an einer Stickmaschine vertiefte, begriff ich, dass sehr viele Vorhänge aufgezogen werden müssen. Schliesslich waren 100 ereignisreiche Jahre aufzudecken. Ich musste den Einfluss der Geschichte auf eine Region erforschen, die ich überhaupt nicht kannte. Die Wirkung der Zeit auf Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund, einer anderen Kultur, einer anderen Melodie von ihrem Wellenhügel. Aber nicht nur das. Ich musste die Gestaltungskraft dieser Menschen und die Anziehung der Welt auf sie ergründen. Ich durfte mich nicht nur mit Landsgemeinde-Berichten, der wechselnden Wirtschaft und der europäischen Geschichte zufrieden geben. Diese Tochter eines Geissenbauern ist nach New York ausgewandert, hat sich dort auf dem allerbesten Platz positioniert, den Stickenden in der Heimat Arbeit verschafft und sich auch nach China orientiert. Mein Stoff war entsprechend aufregend, anspruchsvoll, vielseitig und spannend.

Du hattest nie die Intention, eine Biographie zu schreiben. Und trotzdem hat die Buchtaufe unweit des Geburtsorts der Protagonistin bewiesen, wie sehr Du den Nerv dieser Existenz, dieser Zeit getroffen hast. Du hast ein Stück Stellvertretergeschichte geschrieben. Du hast genau soviel Fiktion miteingeschrieben, in das sonst nur undeutliche Bild einer starken Frau hineingestickt, dass sämtliche BesucherInnen dieser Veranstaltung das Gefühl hatten, Du hättest ein Denkmal gesetzt. Auch ein Denkmal für all die Frauen, die in der Fremde vergessen gingen.
Tatsächlich habe ich mich ohne Nebengedanken oder Berechnung durch meinen Stoff hindurch gearbeitet. Und dies mit einer Leidenschaft sondergleichen. Ich verliebe mich in meine Figuren. Ich langweile mich rasch. Meine Figur muss also so sein, dass ich den Kopf nach ihr drehe und nicht mehr wegschauen kann. Ich verschaffe ihr eine Präsenz, die mich erfüllt. Ich will nicht wissen, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln lebt. Sie ist ein Teil von mir. Ihr Leben ergibt für mich einen Sinn.

Maria Antonia Räss reiste als Schaustickerin mit sechzehn in die europäischen Metropolen und mit siebenundzwanzig mit nichts als einem Traum und einer Sticknadel aus englischem Stahl ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ausgerechnet aus einem Kanton, in dem die Frauen ein sonst unscheinbares Dasein in der Familie und im Web- oder Stickkeller führten, mit einer Schiffspassage ohne jeden Luxus, ohne Rückfahrkarte. Eine Reise weit, weit weg von allem, was ihre Welt bisher ausmachte. Dein Roman beschreibt auch eine verwundete Frau, ohne Psychologisierung. War es die Lust an dieser offenen, unbeschriebenen Weite?
Da müsste ich mich selber fragen. Warum schreibe ich? Weil es mir unbekannte Wege öffnet? Weil jedes Buch ein Tanz mit dem Leben auf Probe ist? Das Leben lässt wenig Wahl. Was passiert, das passiert. Das Leben ist immer der Ernstfall. Und es ist kurz. Viel zu kurz. Ein Roman ist die tausendfältige Möglichkeit. Eine offene, unbekannte Weite der Phantasie. Das macht Lust, die Augen zu schliessen und loszuziehen. Die Stickerin benutzte dazu ihre Nadel. Ihr Freund Walt Disney nutzte den Zeichenstift. Ich die Tastatur meines Computers. 

Maria Antonia Räss im Micki-Mouse-Car, mit ziemlicher Sicherheit mit Walt Disney

Maria Antonia Räss hatte einen Traum, den sie mit allen Mitteln Tatsache werden lassen wollte. In vielem entspricht ihre Geschichte auch Deiner Geschichte. Deine Reise war eine in ein männer-dominiertes Literaturestablishment, eine Reise, bei der Du noch immer nicht sicher angekommen scheinst. Der Literaturbetrieb ist wie der Modebetrieb eine Welt der Halbgottheiten. Warum verfallen wir so leicht dem Zwang der Schubladisierung, der Macht der Vorurteile, dem Schein des welt“männ“ischen Gestus?
Es ist, wie Du sagst. Und ist es so wie Du sagst, weil zu viele den Kopf nicht nutzen? Ist man zu oberflächlich? Ist es einfacher, andere denken zu lassen, und sich diese Idee dann als eigenes Etikett weithin sichtbar aufzukleben. Es ist bequem, denn das Urteil ist ja vorhanden. Man kann sich bedienen. Zudem ist die Meinung der Gesellschaft eine Macht, wenn nicht gar ein Gesetz. Das eigene Urteil könnte womöglich Ausschluss von der Gesellschaft bedeuten?   

Die Craisy Woman war im Alter eine Diva, ihre Inszenierung ein Schutzpanzer. Wir inszenieren uns alle. In deinem Roman schimmert eine verletzliche, suchende, leidenschaftliche Frau durch. Dieses Durchscheinende hat aber nichts melodramatisches, nichts exhibitionistisches. Es ist derart zart, fast fluid, dass ich versucht bin zu glauben, dass es gar nicht in Deinem Interesse stand, ein scharfrandiges Bild zu zeichnen. Wolltest du so die Bilder den Lesenden überlassen?
Letztendlich: Was weiss man vom Anderen? Was versteht und begreift man vom Anderen? Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel. Will man sich überhaupt bis ins letzte verstehen? Der Wind weht unsere Geheimnisse in alle Richtungen. Und es ist gut so. Ich fand heraus, dass Maria Antonia Räss ihre grosse Liebe zu beklagen hatte. Er war Jude und verschwand in einem Lager. Liebe, Hoffnung, Sehnsucht sind Kräfte, die den Menschen zu Ausserordentlichem bewegen können. Sie geben uns ein Ziel. Ich gestand meiner Figur solche Kräfte zu. Denn was die Crazy Woman erreichte, war ausserordentlich. Woher nahm sie diese Kraft? Für mich war die Antwort klar. Die Sippe von Maria Antonia Räss musste begreifen, dass sie das Leben von der «Der reichen Tante» nie ergründen wird. Daraus ergab sich für mich als Autorin etwas Wunderbares, denn die Verwandten griffen nach tausend Fantasiefäden und machten eine Geschichte daraus.

Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zB. 1977 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder 1998 Aargauer Literaturpreis.

Folgende Titel sind auf literaturblatt.ch besprochen: «Das Abenteuer, eine Frau zu sein» (2022), «Die Vielgeliebte meines Mannes» (2020), «Glänzende Aussichten» (2018), «Schwestern wie Tag und Nacht» (2014)

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Margrit Schriber «Das Abenteuer, eine Frau zu sein», Nagel & Kimche

Den Anstoss zum Schreiben verdanke ich meiner Lehrerin. Sie sagte den entscheidenden Satz: «Aus dir wird eine Schriftstellerin!“, schreibt Margrit Schriber in ihrer Roman-Biographie. „Was für Glück!“, ruft der Leser jener Lehrerin zu. Margrit Schriber gehört zu den Grossen der Schweizer Literatur. Eine, die für ihren Platz noch immer kämpfen muss.

1984, acht Jahre nach ihrem Debüt „Aussicht gerahmt“, begegnete ich der Autorin zum ersten Mal bei einer Lesung aus ihrem Roman „Muschelgarten“, der Geschichte zweier Frauen, die sich im gegenseitigen Kampf zu Verlierenden und Verlorenen machen. Schon damals machte mir die Autorin nicht nur Eindruck mit ihrem Schreiben, ihrer Sprache und der Kunst Innenlandschaften zu Poesie zu wandeln, sondern mit ihrer Präsenz, ihrer Begeisterung, ihrer Nähe. Seit „Muschelgarten“ bin ich ein steter Leser im Schriber-Kosmos und zusammen mit meinem Literaturzirkel schon bei manchem Anlass der Autorin stiller und machmal auch weniger stiller Teil ihres Fanclubs. Dass sich eine Autorin mit über achtzig Lebensjahren und über einem Dutzend Romanen, vielen Erzählungen und Hörspielen an ein Resümee macht, ist verständlich. Aber „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ setzt ihre Bücher viel mehr als Meilensteine in ein Leben, das stets ein Kampf war gegen Missachtung, Schubladisierung, Erniedrigung und eine überaus männliche Einordnung von Zuständen und scheinbaren Einsichten. Margrit Schriber, 1939 geboren, erzählt ihre Geschichte, die exemplarisch ist für eine Frauengeneration, die es nicht mehr hinnehmen will, dass in Politik, Gesellschaft und Kultur Frauen (oder Nicht-Männer) ein Eigenleben stets in den Dienst der Herrlichkeit zu stellen hatten. Vor 70 Jahren verwarf der rein männliche Souverän der Schweiz das Frauenstimmrecht mit einer Zweidrittelmehrheit. 1971 sollte es klappen, 1990 sogar im Kanton Appenzell Innerrhoden, während in Neuseeland Frauen schon 100 Jahre aktiv mitbestimmen konnten.

„Schreiben war meine Art der Emanzipation.“

Margrit Schriber «Das Abenteuer, eine Frau zu sein», Nagel & Kimche, 2022, 240 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-312-01258-9

Margrit Schriber wuchs in einer Heilerfamilie auf. Für eine Bibel und ein Heilkräuterbuch brauchte es dort kein Bücherregal. Selbst diese Bücher öffnete man erst, wenn es nicht zu vermeiden war. Man hatte einen Mund zum Reden, Augen zum Schauen, Ohren zum Zuhören, einen Kopf zum Denken und Herz und Verstand für Entscheidungen. Das musste reichen. Bücher lenken ab. Margrit Schriber aber wollte schreiben, Welten auftun. Nach der Schule begann sie eine kaufmännische Ausbildung auf einer Bank. Nicht weil es sie gezogen hätte, sondern weil sie nicht wusste, wie sie aus ihrer Sehnsucht einen Beruf machen sollte. Sie heiratete einen adretten Mann, schien sich den geltenden Normen der Gesellschaft zu beugen. Aber im Stillen schrieb sie, auch gegen die verletzenden Kommentare ihres Gemahls. Und als sie eine erste Erzählung der Literaturzeitschrift „Drehpunkt“ einsandte und Hansjörg Schneider urteilte „Die beste Geschichte seit Jahren“, begann eine der erstaunlichsten Schriftstellerinnenkarrieren der Schweizer Literaturgeschichte.

Es gibt zwei Kategorien von Romanen im Schreiben der Autorin: jene, die aus ihrem eigenen Leben, ihrer Biographie entspringen, aber immer nur als Stoff wirken und jene, die sich einer historischen Person, einem Frauenschicksal aus der Vergangenheit annehmen. Was allen Geschichten gemein ist; es sind immer Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen oder es zumindest tapfer versuchten. In allen Romanen gibt Margrit Schriber der Frau jene Stimme, die ihr in ihrer Zeit verwehrt blieb. Margrit Schribers Romane nun aber als Frauenliteratur zu schubladisieren, wird ihrem Schaffen nicht gerecht. So wie all die Frauen in ihren Romanen den Kampf aufnahmen, so nahm die Autorin selbst den Kampf auf, sei es der gegen Vorteile, gegen die Arroganz einer männlich dominierten Kultur- und Literaturlandschaft, sei es der gegen Oberflächlichkeit und Sturheit.

In „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ erzählt Margrit Schriber aber auch von ihren Freundschaften, ihren Reisen, ihren Begegnungen und ihrer grossen Liebe, dem Schreiben. Margrit Schriber nimmt mich mit in ein Leben, das sich in ihren Büchern vielfach spiegelt, in ihr Schreiben, das zum Motor ihres Lebens wurde. „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ erzählt vom nie versiegenden Mut einer Frau, die wahrhaft ihre Stimme im Schreiben fand!

Möge „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ auch jene erreichen, denen der Schriber-Kosmos bisher verwehrt blieb.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension von «Schwestern wie Tag und Nacht» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Die Vielgeliebte meines Mannes» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Über Eva und Lilith in „Schwestern wie Tag und Nacht“ von Margrit Schriber

Natürlich könnte man Margrit Schribers Roman «Schwestern wie Tag und Nacht» vordergründig als literarischen Kriminalroman lesen. Oder als eine Erzählung über Geschwisterrivalitäten, wie sie häufig in Familien mit mehr als einem Kind vorkommen. Man könnte es ebenso als eine Geschichte über Neid und Niedertracht, von Glück und Pech im Leben, von Aufstieg und Untergangverstehen.

© Evelina Jecker Lambreva

Gasttext von Evelina Jecker Lambreva

Alice Zaugg, eine der angesehensten Frauen im Dorf, ist verschwunden. Martha, die «niemand für ihre Schwester hielt», hatte sie zuletzt gesehen – an ihrem traditionellen «Schwesternverwöhntag». Nun wird Martha auf dem Polizeiposten befragt. Frau Irene – oder die «Haselmaus», wie Martha sie bezeichnet – ermittelt. Martha erzählt von Schwesternliebe und Abhängigkeit, von Bewunderung und Eifersucht, von Schwestern wie Tag und Nacht. Die selbstbewusste, ehrgeizige Alice ist verstrickt in Dorfintrigen, ihre Lebensgeschichte und ihr Aufstieg sind das Abbild einer Gesellschaft, die Erfolg über Menschlichkeit stellt. Doch weshalb ist Alice verschwunden? Margrit Schriber erzählt die spannungsgeladene Beziehungsgeschichte von zwei ungleichen Schwestern, von Liebe und Loyalität, aber auch von Enttäuschung und Verachtung. Raffiniert verpackt sie den Stoff in die Erzählform eines Kriminalromans, der in zwischenmenschlichen Abgründen nach der Antwort auf die Frage sucht: Was ist mit Alice Zaugg geschehen?
(Klappentextzu «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibro Verlag Luzern, 2015)

Der Roman ist so vielschichtig wie die in der Erde verborgene Zwiebel einer prächtigen Pflanze, deren herrliche Blüten wir bewundern dürfen. Zwischen den Zeilen geht es jedoch um viel mehr als bloss um die meisterhafte Darstellung einer komplizierten Hass-Liebe-Beziehung zwischen zwei Schwestern, die eine zielstrebig und erfolgreich, während die andere ein passiv-abhängi-ges Schattendasein im Schutz der Powerfrau führt.
Eigentlich, so könnte man sagen, geht es jedoch im Roman gar nicht um zwei Frauen. Es geht um DIE FRAU und zwei sich ewig widersprechende und widerstreitende Seiten der weiblichen Seele, die eine – Abbildung von Lilith, die andere – von Eva, literarisch eingebettet in die Figuren der beiden Schwestern Martha und Alice.

Was haben Lilith und Eva mit Alice und Marta zu tun?
Nach dem deutschen Psychiater Hans-Joachim Maaz, stellen die mythischen Frauenfiguren Lilith und Eva zwei gegensätzliche Grundprinzipien des Frau- seins dar, zwei sich feindselig gegenüberstehende Formen von Weiblichkeit, die unversöhnlich im Kampf miteinander verstrickt sind und mehr oder weniger in jeder Frau verborgen leben. In seinem Buch «Der Lilith Komplex» (2005, DTV) erläutert Maaz, dass nach der jüdischen Überlieferung Gott Lilith als die erste Frau Adams schuf, in gleicher Weise wie er Adam entstehen liess. Lilith aber verweigerte, sich Adam unterzuordnen, sie war nicht zur Selbstunterwerfung bereit, stellte den Anspruch auf Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, waren doch nach ihrer Auffassung beide, Adam und sie, aus derselben Erde gemacht und ins Leben gerufen worden. Ihre Haltung verunsicherte und verärgerte Adam, es kam oft zu Streit. Schliesslich flüchtete Lilith vor Adam und aus dem Paradies. Sie wurde von Gott bitter bestraft und verurteilt, ein Dasein als wollüstige Verführerin und Kindsmörderin an den elendesten Orten der Welt zu führen. Aus Erbarmen mit Adam, der nicht allein leben wollte, schuf Gott dann Eva – aus Adams Rippe. Eva war für Gehorsam und Unterwerfung vorgesehen. Als weibliche Grundeinstellung und Lebensprinzip symbolisiert Eva also Passivität, Aufopferungshaltung, Unterordnung, Gehorsam, Fürsorge, Selbstaufgabe, Keuschheit, Treue, Mütterlichkeit. Lilith hingegen zeichnet sich aus durch Aktivität, Initiative, Eigenständigkeit, Lustbetontheit, Leidenschaft, Verführungsfähigkeit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit. Mutterschaft und Mütterlichkeit lehnt sie ab.

Margrit Schriber «Schwestern wie Tag und Nacht», ProLibri, 2014, 220 Seiten, CHF 34.00, ISBN 978-3-905927-45-0

Diese zwei Seiten der weiblichen Seele werden in «Schwestern wie Tag und Nacht» beeindruckend und gekonnt dargestellt: Marta verkörpert in der Tat die Anteile von Eva, Alice diese von Lilith. Marta ist anspruchslos, selbstunsicher und kleinmütig. Sie kocht, putzt, geht einkaufen, kümmert sich fleissig und still um den Haushalt, um das Wohlbefinden ihrer Schwester, sie ist für die peanuts im gemeinsamen Leben zuständig. Alice, die «New Yorkerin», «die Frau von Format» ist ehrgeizig, mutig, eigensinnig, zielstrebig, lust- und genussbetont, sie weiss, was sie will, wie ihren Willen durchzusetzen, und sie ist eine erfolgreiche Unternehmerin.

Beide weibliche Seiten bilden in der Art eine Einheit, dass Lebenslust und Zurückhaltung, Leidenschaft und Gehemmtheit, Ehrgeiz und Unsicherheit, Selbstbewusstsein und Selbstzweifel, Enthusiasmus und Befangenheit – obwohl sie alle miteinander in einem Dauerkonflikt stehen – dennoch Hand in Hand durchs Leben gehen, um es exemplarisch zu meistern. Und sie schaffen es, denn sie fordern sich gegenseitig heraus, erfahren Herausforderung als Motor einer jeden Fortentwicklung.

In Margrit Schribers Roman haben wir es mit einem Weiblichkeitsmodell zu tun, bei dem sich zwei innere Frauenbilder gleichzeitig bekämpfen und ergänzen. Ein Weiblichkeitsmodell also, bei dem das traditionelle Frauenrollenbild gleichzeitig ein neues Rollenverständnis der Frau stützt, hält, quasinährt, mütterlich umsorgt und anregt. Das moderne Frauenbild jedoch möchte sich, je erfolgreicher es in seiner Selbständigkeit und finanziellen Unabhängigkeit wird, desto schneller von den Altlasten der Tradition befreien und jegliche herkömmlichenweiblichen Verhaltensweisen abstreifen.

So organisiert Alice gegen Ende des Romans hinter dem Rücken von Marta stillschweigend deren Platzierung ins Asyl. Logisch wäre nun zu erwarten, dass Marta ihr Schicksal gehorsam hinnimmt und ins Asyl umzieht, dass Lilith Eva schliesslich definitiv besiegt und in die Vergessenheit versenkt hat. Doch es passiert genau das Umgekehrte. Eva tötet Lilith – und dies ist das grosse Rätsel des Romans: Was hat diese unerwartete Entwicklung zu bedeuten? Dass Tradition letztlich doch über allem steht und alles überlebt? Dass das mutige Überschreiten von Grenzen kein weibliches Privileg sein kann und deshalb nie unbestraft bleibt? Dass es Grenzen gibt, die sogar für Lilith gelten?

«Was ist mit Alice Zaugg geschehen?» So endet der Klappentext des Romans «Schwestern wie Tag und Nacht». Dieses paradoxe Schicksal der Frau, die gefangen in ihrem ewigen inneren Kampf zwischen Eva und Lilith sich ständig weiter entwickelt, um sich dann doch selbst zu limitieren, die unaufhörlich wächst, um sich anschliessend wieder ungeschehen zu machen, die fortlaufend siegt um sich letztendlich selbst zu zerstören, dieses typisch weibliche Phänomen wird vermutlich weiter ein Mysterium bleiben.

Mit «Schwestern wie Tag und Nacht» ist Margrit Schriber eine literarisch hervorragende und psychologisch äusserst präzise Sektion der weiblichen Seele gelungen, die die Autorin den Leserinnen und Lesern mit dichterischer Feder vor Augen führt.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension von «Die vielgeliebte meines Mannes» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche

Margrit Schriber ist nicht müde. Ihre Lust am Schreiben, am Erfinden, am Fabulieren, ihre Freude am vollen Leben umarmt einem bei der Lektüre ihres neuen Romans förmlich. «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist ein Roman, der sich erfrischend wenig darum kümmert, was zu den Insignien der Literatur gezählt wird. Einfach gut erzählt!

Es ist als sässe man auf einer grossen Tribüne mitten in einem See, vielleicht dem Vierwaldstättersee, und sähe auf ein Dorf. Ein kleines Dorf im Dunst der anbrechenden Siebzigerjahre. Eine Kirche etwas erhöht über den Häusern, eine Schiffanlegestelle, die aber nicht von allen vorbeifahrenden Schiffen angesteuert wird, das Restaurant Romantica, eine Bäckerei, Häuser verstreut darum herum und etwas abseits eine grosse Villa, direkt am See, durch einen schmiedeisernen Zaun vom Dorf abgetrennt.

Dort hin sind Rosy und Charly gezogen, ein junges Ehepaar, weil er die Stelle des Organisten in der Kirche antreten konnte und ihm seine junge Frau mit ihrer Arbeit in der nahen Parfümfabrik den Rücken freihält, um an seinem grossen Meisterwerk zu arbeiten, um sich auf seinen siegreichen Feldzug durch die Welt der Musik vorzubereiten. Dort wohnt Kitty, noch Mädchen, dreizehnjährig, aber mit der Leidenschaft einer jungen, wilden Frau. Kitty singt mit sieben anderen Grazien mehrmals in der Woche auf der Empore der Kirche zu Charlys Orgelklängen. Sie ist eine der acht schmachtenden Teenager, die angespornt durch das Lob des jungen Musikers von einer glorreichen Karriere als Sängerin träumen, dereinst an der Seite des Hasy Osterwald Quartetts oder noch viel höher und weiter. Dort wohnt eine reiche, stille, vom Dorf abgewandte Frau in ihrer Villa mit Gewölbefenstern und buchsgesäumtem Kiesweg, einem rosaroten Amischlitten und eigenem Bootssteg. Nachts sind die Fenster hell erleuchtet und man sieht und hört Madame am Flügel die Luft bezaubern. Vor allem Charly, der auch tagsüber im Restaurant Romantica mit Sicht auf die Villa seinen musikalischen Fantasien nachhängt.

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche, 2020, 176 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-312-01161-2

Es ist Rosy, die erzählt. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass die Geschichte, die sie erzählt, mit einer Katastrophe endet, mit einer Waffe und einem Schuss, der abgegeben wurde. Während die acht Stimmen auf der Empore der Kirche immer klarer und heller singen, beginnt es in den Magmakammern unter dem Dorf zu rumoren. Nicht nur weil sich die ausser Rand und Band geratenen Mädchenseelen in einen Zickenkrieg begeben, die Stimmung rund um den jungen Organisten und Dirigenten zu kochen beginnt, sondern weil alle im Dorf mitbekommen, dass Unkontrollierbares einheizt. Aber weil die Familien ebenfalls in einer Mischung aus Stolz und Hoffnung den hörbaren Höhenflug ihrer Töchter verfolgen, nimmt man den Preis dafür in Kauf.

Aber «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist auch die Befreiungsgeschichte einer jungen Frau, die mit Enthusiasmus ins Abenteuer einer jungen Ehe startete, um festzustellen, dass sie wie alles im Haushalt nur Instrument bleibt. Ihr Mann sonnt sich in der Bewunderung der jungen Täubchen und schmachtet in seiner Verehrung für die geheimnisvolle, unnahbare Schöne, die die großen Fenster ihrer Villa zum grossen Fenster in eine grosse Welt macht.
Margrit Schribers Roman ist in ein eigenartig farbiges Licht getaucht. Auf der kleinen Bühne eines Dorfes am See spielen sich die grossen Dramen menschlicher Leidenschaft ab, kochen die Menschen im giftigen Dunst von Gerüchten, Wut und blankem Hass. Die Autorin sprüht vor Erzähllust, sei es in der Boshaftigkeit ihrer ProtagonistInnen oder im Witz des Moments. Ein ganzes Dorf verstrickt sich in naiver Leidenschaft, fährt mit voller Kraft hinein in die Katastrophe.

Ein köstliches Lesevergnügen!

«Aussicht gerahmt», «Ausser Saison», «Kartenhaus», «Vogel flieg», «Luftwurzeln», «Muschelgarten», «Tresorschatten», «Augenweiden», «Rauchrichter», «Schneefessel», «Von Zeit zu Zeit klingt ein Fisch»… Das sind nur einige ihrer Bücher aus einem langen Schriftstellerinnenleben. Buchtitel, die selbst eine Geschichte erzählen. Von einer Frau, die sich nicht einfach in eine Schublade einordnen lässt, die in einem halben Jahrhundert Schriftstellerei einen ganz eigenen Schreiber-Kosmos schuf, der von starken Frauen erzählt. Einer starken Frau wie sie selbst, die sich durch nichts entmutigen lässt, selbst wenn ihr Stammverlag durch Umstrukturierungen mehr als einmal den Anschein machte, ihr die Treue zu kündigen. Selbst wenn ihr die grossen Literaturpreise vorenthalten blieben, obwohl einige ihrer frühen Romane, allen voran «Schneefessel» zu den Perlen der Schweizer Literatur gehören.

Margrit Schriber ist eine klassische Erzählerin, kann einfach gute Geschichten erzählen. «Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis», schreibt Margrit Schriber. Ihre Figuren sind ihr ganz nah, nie verkopft, ihr Blick nie auf sich selbst gerichtet, auch wenn an der Grand-Dame eine gewisse Eitelkeit unübersehbar ist.

Interview mit Margrit Schriber:

Im Begleitbrief zu deinem Roman steht: „Wie Rosy musste ich einen Spottspalier durchschreiten und mich bespucken lassen.“ Rosy beginnt zu schreiben. Du begannst zu schreiben. „Es folgte Buch um Buch. Mit jedem einzelnen schrieb ich ein Stück meiner verlorenen Ehre zurück.“ Das klingt erstaunlich ehrlich, dir erstaunlich nah. Ist Schreiben nicht immer Befreiung?
Es gibt unzählige Gründe für mein Schreiben. Neugier, Abenteuerlust, Aufregung, Entdeckerfreude, Lust an der Verwandlung, an der Herausforderung und am Verwirrspiel, Freude am Konstruieren einer anderen Welt usw. Ich könnte Seiten damit füllen. Das Wichtigste aber ist es, mir ein Ziel zu setzen und alles zu geben, um dieses zu erreichen. Ich schrieb einmal, ein Mensch sollte sich in die Sterne schreiben. Es ist mein Credo! Und es stimmt für mich. Das Leben ist viel zu kurz, viel zu einmalig, um es zu verschwenden. Handelt nicht jedes meiner Bücher von der Suche nach einem Sinn? Will nicht jede meiner Figuren ihrem Leben ein Ziel geben?
Jedes Buch ist auch eine Forschungsreise ins eigene Innere. Und beim Scheiben meines letzten Romans bin ich in den tiefsten und verborgensten Winkel gedrungen, so dass mir klar wurde, wie tief Verletzungen gehen können und wie nachhaltig sie prägen. Ich wollte aus meinem dramatischen Stoff etwas Leichtes und Farbenfrohes schaffen. Der See nimmt meiner Figur Rosy alles Kummervolle ab. Zurück bleibt eine blanke Oberfläche für Neues.
Das Buch widergibt den Zeitgeist der 60er Jahre. Da hat sich eine junge Frau noch sehr auf den Partner gestützt, an dessen Karriere geglaubt, ihre Fähigkeiten womöglich zu dessen Gunsten eingesetzt und die Sehnsucht nach Anerkennung unterdrückt.
Ich selbst hatte das Glück, dass ich meinen Traum vom Schreiben realisieren konnte. Doch zuerst musste ich an mich selber glauben können. Ich. An mich. So einfach ist das aber nicht. Das ist es nie! Es war ein langer einsamer Weg. Ich würde ihn immer wieder gehen, denn ich schulde ihm mein Glück. Im Grunde ist wohl mein ganzes Werk ein Versuch, mich in die Sterne zu schreiben. 

Ein Dorf am See, eine Kirche, eine Villa, in der Nähe eine Fabrik. Ein junges Ehepaar, eine reiche abgewandte Dame, ein Pfarrer und acht nach dem Leben, der Liebe schmachtende hormongesteuerte Mädchen und Töchter, die der Kontrolle von Eltern und Institutionen zu entgleiten drohen. Liebst du das Pulverfass? Die heissen Magmakammern unter der Normalität?

Ja, ich liebe die heissen Magmakammern unter der Normalität. Ich langweile mich leicht. Ich kann nicht Monate mit einem Text verbringen, der mich nicht immer neu an die Decke springen lässt. Ich schreibe ja zu meiner eigenen Unterhaltung. Deshalb bewege ich mich auch auf überschaubarem Raum und wähle bewusst nur wenige Figuren. Ich möchte diese von nah beobachten. Ich sprenge sie in diese und jene Richtung. Wenn nicht hinter jeder Ecke etwas Unerwartetes lauert, drücke ich auf die «delate» Taste.

„Ich war ein schwarzes Loch. Wir waren ein jedes dem andern ein schwarzes Loch“, steht im Roman. Spricht daraus die Ernüchterung darüber, dass selbst Liebe und Freundschaft nie darüber hinwegtäuschen können, dass jene Sehnsucht, die so sehr nach Nähe ruft, gar nie gestillt werden kann?
Schön ist der Glaube an die Liebe. Bewegend ist die Sehnsucht und die Trauer. Glücklich wer diese Empfindungen kennt. Liebende sind einander ein Rätsel. Manchmal ist jedes dem andern ein schwarzes Loch. Liebe ist ein Geschenk. Meine Figur Rosy erhellte sich damit eine Weile ihren Traum von der Zukunft. Doch die Liebe erlischt wie eine Kerze. Das Mädchen Kitty kann nicht glauben, dass Gefühle ändern. Sie will ihre Zukunft mit der Waffe erzwingen. Rosy spürt, dass sich nichts erzwingen lässt. Sie sucht nun allein den Ort, wo ein Mensch anständig bleiben kann.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Margrit Schriber «Heute + gestern + morgen, Gedanken zum 80sten

Margrit Schriber feiert heute ihren 80. Geburtstag! 1976 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Aussicht gerahmt», seither zwei Dutzend Romane, Erzählbände, Stücke und Hörspiele. Wer Margrit Schribers Werke kennt, weiss wie sehr sie den Spirit des Erzählens zu leben weiss. Ich wünsche ihr zusammen mit vielen treuen Leserinnen und Lesern, dass dieser Geist noch lange wirkt!

«Ihre grosse  Leistung sehe ich darin, dass Sie das Schweigen zum Reden bringt. Das Wort ist ihre Achillessehne. Ich füge hinzu: zum Glück, denn damit sind ihre Leser dazu eingeladen, die grosse, unglaubliche Wirkung der Sprache ernst zu nehmen.» Prof. Hans Ester

HEUTE mache ich mir Gedanken zu meinem Achzigsten. Eine unglaubliche Zahl. Doch ich fühle mich heute so jung, so frisch, so vital wie immer. Ich habe im Februar einen Roman beendet, mein neunzehntes Buch. Doch in meinem Verlag wechselt die Leitung. Und so liegt das Manus jetzt dort in der Schublade UNGEWISSHEITEN. Das ist ein Wermutstropfen am heutigen Tag.

RÜCKBLICKEND ist für mich «Schreiben» der abenteuerlichste Akt in meinem Leben. Jedes Buch ist das Schnüren meines Rucksacks zum Aufbruch in eine neue Welt. Ich holze linksrechts eine Schneise durch den Dschungel. Das belebt mich! Das ist das Elixier, das ich brauche. Das erhält mich jung.

Das Leben steckt Grenzen, bietet aber Möglichkeiten. Das ist ein Thema.

Ich schreibe über Menschen, ihre Wege, Wünsche, Möglichkeiten und Widerwärtigkeiten. Das was sie wollen ist nicht immer das, was sie erreichen. Aber ich bewundere aus tiefstem Inneren die fantastischen Höheflüge, zu denen ein Mensch sich aufraffen kann. Ob er scheitert, ob er seine Möglichkeit falsch einschätzt, das ist nicht von Bedeutung. Aber dass er all seine Kraft und Fähigkeit aufbringt, um für einen Traum zu kämpfen, das ringt mir Achtung ab. Ich glaube, dass es dieser ungebrochene Mut und Trotz ist, der aus einem Individuum erst einen Menschen macht.

Ich schöpfe aus meinem Alltag und meiner Umgebung. Manchmal drehe ich das Zeitrad zurück, doch immer nehme ich mir Leute zum Vorbild, die ich kenne oder die es gegeben hat. Ich stelle sie mir mit all ihren Widersprüchlichkeiten vor. Bilder erstehen, Gespräche, Handlungen, Konflikte. Schliesslich lebe ich mit meinen Figuren. Ich baue Szene um Szene den Roman oder die Geschichte.
Trotzdem: Wir wissen so wenig voneinander. Es ist immer nur ein Bruchteil, der aufschimmert, den wir wahrnehmen. Also baue ich aus diesem Bruchteil meine neue, eine andere Welt. Das ist mir klar. Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis.

ZUKUNFT ist immer ein Zauberwort. In meinem Alter reizt dieses Wort zum Lachanfall. Ich machte mir immer eine Idealvorstellung. Zum Beispiel wollte ich ein wertvoller Mensch sein, andere ermutigen, dass sie ihre Träume verwirklichen. Gute Literatur machen und ganz darin aufgehen. Daneben wollte ich jemand sein, der mit offenen Augen durchs Leben geht. Aber im Lauf der Jahrzehnte schrumpfte die Idealvorstellung von meinem Wert oder von der Bedeutung meines Werks. Ich habe begriffen, dass mein Aufleuchten in der Schöpfung bedeutungslos ist. Aber ich lebe: Das ist grandios. Ich zähle zum unermesslichen Grossen Ganzen. Und jetzt zum Achtzigsten kann ich sagen, dass ich die Schönheit anbete, die mich hier umgibt. Dass ich vor dieser Pracht in die Knie gehe. Wie andere vor mir und andere nach mir. Das Aufblinken meines Staubkorns im All ist nicht Nichts gewesen.

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension des Romans «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

«Die Verrücktheiten in meinem Leben» von Margrit Schriber auf der Plattform Gegenzauber

Margrit Schriber „Glänzende Aussichten“, Nagel und Kimche

Pia gehört eine Tankstelle in der Nähe der Autobahn. Pia trägt Latzhose und manchmal den Hut ihres schon lange verstorbenen Vaters. Er war ihr Lehrer gewesen, hat ihr alles gezeigt. Pia weiss alles über Motoren, auch wenn sie es selber nie für nötig gefunden hat, einen Führerschein zu erwerben. Pia wäre glücklich, wenn sich die Erde im immer gleichen Tempo drehen würde und die Männer so nicht wären.

1980, irgendwo im schweizerischen Mittelland. Noch hat es Wiesen hinter der Tankstelle. Selbst Gigi, Pias Nachbar, glaubt in seinem Containerbüro, dass er eines Tages seinen Occasionsverkauf teuer verscherbeln und dann irgendwo seine Haut an der Sonne schmeicheln lassen wird. Pia weiss, dass das wenige Geld, das sie mit Benzin, Sonnenbrillen und Illustrierten verdient, auf die Dauer nicht reichen wird. Was ihr ihr Vater einst als Perle übergeben hatte, droht an der Moderne zu scheitern.

Da sind auch die Männer keine Hilfe. Nicht der windige Luc mit seinem schnittigen Amerikaner, seinen Schmeicheleien und Drohungen. Nicht Gigi, der Occasionskönig mit seinen gebräunten Muskeln. Nicht Bolt, der Regionalvertreter des Benzingrossisten. Nicht Holzer, der Immobilienmann und Liebhaber ihrer Freundin Luise und schon gar nicht Andy, der Arzt, der sie einmal zum Glühen bringt. Höchstens Waldi. Aber Waldi ist ein Plüschhund auf der Kasse im Laden und nickt, wenn die Kasse klingelt. Er hört ihr zu.

“Glänzende Aussichten“ spielt gekonnt mit Klischees. Während des Lesens spielen sich unweigerlich Bilder ein, die an Filme erinnern, nicht zuletzt an solche mit Josef Hader. Dass die grosse Könnerin mit fast 80 derart spitzen Witz und Spitzigkeit in ihren Roman bringt, erstaunt nicht. Margit Schriber unterhält gekonnt, zeichnet ihre Figuren mit viel Liebe fürs Detail. Alle sind sie auf ihre Art Verlierer und Versager. Und wer den Roman liest, staunt über den Wiedererkennungseffekt. Zum Beispiel bei Luc, einst Pias Liebe. Bis Pia merkt, dass Luc viel mehr in sich selbst und seinen Auftritt verliebt ist und er bloss Personal und Zuschauer braucht. Einer dieser Aufgeblähten mit unendlichem Glauben an sich selbst, nicht zu brechendem Selbstvertrauen und der festen Überzeugung, die Sonne im System zu sein.

“Was uns tief im Innern trifft, darüber reden wir nicht.“

Pia kämpft sich durch, durch alle Widrigkeiten, die sich ihr in einer langen Kette entgegenstellen. Auch nach ihrem Entschluss, auf ihrem Grund eine Waschanlage bauen zu lassen, reissen Rückschläge nicht ab. Die Geschichte spiegelt das Frauenbild der 80er Jahre. Und wenn auch die Protzbeutel weniger werden – solange die Sorte zu Präsidenten werden, hat sich eben doch nicht viel geändert.
Und die Geschichte ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Margrit Schriber weiss wovon sie schreibt. Sie kennt den Geruch von Benzin und Motorenöl, auch wenn ihre Kurzbiographie nicht danach aussieht.

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Margrit Schriber bei ihrer Buchpremière in der Kantonsbibliothek Schwyz

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Margrit Schriber «Die Verrücktheiten in meinem Leben»

Die verrückteste Tat meines Lebens war der Kauf einer Autowaschanlage. Wozu braucht eine Schriftstellerin eine solche, da sie durch ihre Phantasie flaniert? Die Antwort ist einfach. Man muss essen, man hat eine Aufgabe, in meinem Fall eine Reihe von Aufgaben. Ich muss aus dem Reich der Phantasie zurückkehren und von einem zum andern Moment mit beiden Füssen auf dem Boden stehen, denn ich betreue ein Areal. Darauf gab es in den 80er Jahren eine kleine Autowerkstatt mit handbetriebenen Benzinsäulen. Da rundum Grosstankstellen aus dem Boden schossen, kämpfte der Betrieb ums Überleben. Seine Waschstrasse war veraltet. Und es existierte ein bindender Vertrag mit einem weltweiten Benzinkonzern, der diesem eine funktionierende Waschanlage garantierte.
Die Situation war verzwickt!
Es musste eine Autowaschanlage gekauft werden, die mehr Autos in kürzerer Zeit sauberer wäscht. Die Finanzierung von mehr als einer Viertelmillion Franken machte mir Bauchweh. Schreiben ist vergleichsweise erholsam, Geld spielt da nie eine Rolle. Doch jetzt, im Leben?
Ich beschloss das Risiko einzugehen. Der Benzinkonzern schickte mir einen Mann aus der Direktion. Er verhandelte ungern mit einer Frau, die nichts vom Business verstand. Autowaschanlagen waren seine Domäne. Er holte für die Kleingarage eine Offerte ein. Die schickte er mir. Und übersah, dass er auch die Offerte einpackte, die das Fabrikationswerk an ihn gerichtet hatte. Sie belief sich auf den halben Preis. Dies alarmierte mich. Ich suchte nach einem Anbieter ohne Verknüpfung mit dem Benzinkonzern. In Mailand wurde ich fündig. Der Mann aus der Direktion zweifelte, dass Italiener eine solche Anlage bauen können, wollte mich aber zum Werk begleiten. Doch ich wartete vergeblich am Bahnhof und fuhr schliesslich allein dem Gotthard zu.
Der Ingenieur führte mir seine zischende, spritzende Anlage vor. Ich erinnere mich, dass er sich vorbeugte, um im Lärm meine Meinung zu hören und ich nur sein triefendes pechschwarzes Haar anstarrte. Ich hatte keine Meinung. Danach legte er farbige Bürstenfäden vor mich hin. Man könne Duft beifügen, sagte er eifrig. Minze, Jasmin, Vanille, was immer ich möge. Dies liess mich lächeln. Da hielt er mir den Federhalter hin. Und ich unterschrieb.

Die Monteure beeindruckten mit ihren immer sauberen Überkleidern und ihren Arien, die aus dem Tunnel klangen. Der Autowaschtunnel nahm den Betrieb auf. Bald alarmierte eine Störung. Die Mailänder reisten an, behoben sie, wuschen die Hände und reisten in blitzsauberen Überkleidern wieder ab. Eine Freundin erzählte, sie habe beim Autowaschen ein Knacken gehört. Da sei sie aus dem Tunnel gerannt. „Ich wollte nicht im Auto zerdrückt werden.“ Sie übertrieb masslos. Das Gerücht verbreitete sich, diese Autowaschanlage sei lebensgefährlich. Das war fatal geschäftsschädigend. Vor Schreck vermochte ich mich nicht einmal ans Schreiben zu klammern, obwohl mir das in schlimmen Situationen ein Trost ist, da ich mir mit Wörtern erbitterte Feindinnen vom Hals schaffen kann. Das Verschrotten der Autowaschanlage war dann meine zweitverrückteste Tat.
Manchmal weht die Erinnerung mich an. In meinem Roman „Glänzende Aussichten“ habe ich aus dieser Erinnerung eine neue und ganz eigene Welt geschaffen.

27.10.2017

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Ihr letzter Roman „Schwestern wie Tag und Nacht“ ist bei ProLobro erschienen, eine raffinierte Beziehungsgeschichte in Krimiform. Ende Januar erscheint bei Nagel & Kimche ihr neuer Roman. Erste Informationen finden sich auf der Webseite der Autorin:

Zu ihrem neuen Roman, der Enda Januar bei Nagel & Kimche erscheinen wird: Seit dem Tod ihres Vaters Anfang der 80er Jahre betreibt Pia die außerhalb gelegene Tankstelle allein: Benzin, Super, leichte Reparaturen, Kiosk mit Imbiss. Aber mittlerweile haben sich die Kunden an das zeitsparende Tanken woanders gewöhnt und kommen nicht mehr extra zu ihr. Pias beste Kundin ist auch ihre beste Freundin, Luisa, Versicherungsangestellte und Geliebte des örtlichen Baulöwen Holzer. Auch Pias Exfreund Luc taucht immer wieder auf — weil er zur Stelle sein möchte, wenn Pia das Geschäft verkaufen muss: Er glaubt, ihm stehe ein Anteil zu. Pia plant die Flucht nach vorn: den weitherum größten Autowaschsalon, ein Pflegeereignis der besonderen Art, das vollautomatische Schneiden-Waschen-Fönen des geliebten täglichen Gefährten. Dazu braucht sie Holzer als Investor; um seine Zusage kümmert sich Luisa. In Mailand wird die modernste Waschstraße bestellt. Die Einweihung wird eine furiose, erotische Feier, die das Dorf in Aufruhr versetzt.

„Ich glaube ans Leben als ein Geschenk. Aber ich glaube auch an die Phantasie als ein hohes Gut. Und ans Buch. Bücher besitzen die magische Kraft, im Kopf eines jeden Lesers eine ganz eigene Welt erstehen zu lassen. Darin liegt ihre einzigartige Sensation.“

Titelfoto: Yvonne Böhler