Katerina Poladjan «Hier sind Löwen», Gast am Literaare in Thun!

Das 15. Thuner Literaturfestival versucht es noch einmal! Und mit den Organisatorinnen hoffen all die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf eine Durchführung, auf BesucherInnen, Menschen, die sich trotz allem von der Literatur verführen lassen – nicht zum Leichtsinn, aber zum literarischen Hochgenuss!

Am Samstag, den 26. September, um 13.30 Uhr im Rathaus Thun: «Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan:

Helene Mazavian kommt in Jerewan, der armenischen Hauptstadt an. Sie soll dort als Buchrestauratorin im Zentralarchiv für armenische Handschriften eine ganz spezielle Bindetechnik erlernen. Was Helene Mazavian aber wirklich lernt, ist sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Tor zu dieser ist ein Heilevangilar aus dem frühen 18. Jahrhundert. Aber Gewehr und Buch können ganz nah beieinander sein!

Helene Mazavian ist im Stillen entsetzt, als sie durch die Regale mit den Schätzen des Zentralarchivs geführt wird. Ganz anders wie in Deutschland, wo sie sich ausbilden liess, liegen hier die Bücher nicht in Archivboxen geschützt, sondern offen auf den Regalen. Ihre Chefin, die sie dorthin führt, meint: „Wären die Bücher alle umhüllt oder lägen sie in Schachteln, könnten sie nicht miteinander sprechen, nicht atmen. Eine Schachtel ist wie ein Grab, das Buch vereinsamt und stirbt.“

Katarina Poladjan «Hier sind Löwen», S. Fischer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397381-5

So manches ist anders, auch wenn Helene armenische Wurzeln hat, eine Vergangenheit, die mit dem blutigen Genozid zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Die Menschen sprechen eine Sprache, die die ihre sein könnte, die sie aber nicht versteht, das Buch, das sie als erstes restaurieren soll, beginnt mit ihr zu kommunizieren, der Mann, der sie vom Flughafen abholte, bringt sie ins Wanken, sie, die sonst alles unter Kontrolle hat.

Schon Helenes Mutter, eine Künstlerin, die sich im Keller ihres Reihenhauses mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigte und dabei auch nicht davor zurückschreckte die Puppen und Kuscheltiere ihrer Tochter in das nachempfundene Gemetzel jenes Schreckens einzubauen, liess, was damals geschah, nicht wirklich an sich heran. „Hier sind Löwen“ beschreibt, wie Geschichte, die Konfrontation mit ihr oder die Verweigerung einer solchen sich bis in die kommenden Generationen hineinfressen kann.

Die Buchrestauratorin und Schriftstellerin bei der Arbeit, © Katerina Poladjan

Die Familienbibel, an der sich die Buchrestauratorin versuchen soll, ist und war viel mehr als ein Buch. Ein Schatz, der in einer armenischen Familie von Generation zu Generation mitgetragen wurde. Ein Buch mit Wirkung und Geschichte. Ein Buch voller Zeichen, an die Seitenränder gekritzelt. Ein Buch, das zuerst gesäubert werden musste und zu dem ein Plastikbeutel aus dem Archiv gehört mit Haaren, toten Insekten, einer Theaterkarte, einer Zugfahrkarte von Wladiwostok nach Moskau, zwei Miniaturen, die einmal Seiten im Buch waren, einem Foto, einer Schiffsfahrkarte.

Während Helene sich immer tiefer in Land und Menschen begibt, fesselt sie dieses Buch, das ihr eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von den Geschwistern Anahid und Hrant, die vor mehr als hundert Jahren auf der Flucht vor den Gräueln an ihrem Volk in die Berge flüchteten, ihr Zuhause, ihre Familie zurücklassen mussten, mit nichts als den Kleidern, die sie auf dem Leib trugen und diesem einen Buch, das sie beschützen sollte. „Hrant will nicht aufwachen“ steht mit ungelenken Buchstaben auf den Rand einer Seite gekritzelt. 

Und als Helenes Mutter Sara sie auffordert, jetzt wo sie doch dort sei, wo die Familie herkomme, jenes Foto, das sie ihr mitgab, als ersten Hinweis zur Suche nach ihrer Herkunft zu nutzen, begibt sich Helene auf eine Reise, die sie in mehrfacher Hinsicht an und über die Grenzen ihres bisherigen Lebens führt.

Mag sein, dass das Buch etwas kühl erzählt ist. Aber genau das macht den Roman zu dem, was ihn auszeichnet. Er spielt nicht mit den Gefühlen der Leserin, des Lesers. Es öffnet sich Seite um Seite einer Geschichte, eines Lebens, eines Dramas. Katerina Poladjan konstruiert gekonnt, verwebt Geschichten, Stimmen. Und so wie eine Buchrestauratorin mit Vorsicht und Umsicht an die Verletzungen eines Buchschatzes geht, so geht Katerina Poladjan an ihren Stoff.

Von 1915 bis 1917 starben unter der Verantwortung der jungtürkischen, vom Komitee für Einheit und Fortschritt gebildeten Regierung des Osmanischen Reichs mehr als eine Million Armenier, ein Völkermord, ein Genozid, den die türkische Regierung bis heute als «kriegsbedingte Sicherheitsmassnahme» bezeichnet und Regierungen und Persönlichkeiten rügt, die Tatsachen beim Namen nennen oder gar Konsequenzen fordern. Katerina Poladjan klagt nicht an, führt nicht vor. Aber «Hier sind Löwen» rückt ein Verbrechen zurück ins Bewusstsein, dem man angesichts der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen zu gerne aus dem Weg geht.

Ein Interview mit Katerina Poladjan

Sie öffnen mir als Leser die Tür zu einem Kapitel düsterer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit aller Behutsamkeit. Und doch fühlte ich mich während der Lektüre gezwungen, mich mehr mit dem Genozid an den Armeniern zu beschäftigen. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihren Roman mit unerträglicher Dramatik aufzublasen. Ist das auch ein bisschen ihr Kampf gegen den Zeitgeist?

© Katerina Poladjan

Kampf gegen den Zeitgeist klingt mir zu heroisch, vielleicht ist es eine Don-Quixoterie. Es war wirklich mein Anliegen, von einem der großen Menschheitsverbrechen zu erzählen, ohne dem allgemeinen Drang zur Polarisierung zu erliegen, ohne den Schreckensbildern zu erliegen, die mir oft genug bei der Recherche den Atem nahmen. Die Stille des Gedenkens war mir wichtiger, als laute Schreie der Anklage, Trauer und Wut. Und wenn es mir damit gelungen ist, ein kleines Fenster der Erinnerung zu öffnen, freut mich das sehr.

Das Unglück eines ganzen Volkes, das Unglück einer Liebe, die Helene in der Hauptstadt Armeniens loslassen muss, das Unglück einer Familie – das Glück einer Buchrestauratorin, die Auseinandergefallenes, Verwundetes, Zerrissenes, Verlorenes zurückgewinnen kann. Wie sind sie auf die Idee gekommen?

Einen Roman schreibe ich nicht von Anfang bis Ende. Am Anfang meines Schreibens steht ein Gefühl, eine Idee, ein Thema, ein Klang, hier ein Ort, dort die vagen Umrisse einer Figur. Ich skizziere, recherchiere, experimentiere, verwerfe. Mit diesem Material beginnt irgendwann ein Puzzlespiel, das sich beim Zusammensetzen ständig verändert und erweitert. Eines führt zum nächsten, anderes passt vielleicht nicht mehr ins Bild, Lücken entstehen und müssen gefüllt werden. Als ich in der Werkstatt des Handschriftenarchivs in Jerewan den Buchrestauratorinnen bei ihrer Arbeit zusehen durfte, war ich tief beeindruckt und fühlte ich mich ein wenig an meine eigene Anstrengung erinnert, erzählbare Geschichten aus der Unendlichkeit von Geschichte herauszuarbeiten. So ist Helene Buchrestauratorin geworden.

Liegt in ihrem Roman die Sehnsucht nach Spuren in die Vergangenheit? Eine Bibel, die die Zeichen über Generationen in und an sich trägt? Die Sehnsucht, dass sich mit dem Tod nicht alles dem Vergessen und Verschwinden auftut?

Ich würde nicht von Sehnsucht sprechen. Das Wesen menschlichen Denkens und Fühlens fusst doch auf der Fähigkeit zur Erinnerung. Wir können ja gar nicht nicht-erinnern, wir können nur leugnen oder vergessen. Erinnerung kann negativ wirken, traumatisch gar, und zum Durst nach Rache und Vergeltung führen. Viel mehr noch ist die Erinnerung eine Säule der Humanität und des Mitgefühls. Und letzteres ist doch Grund genug für die Spurensicherung.

© Katerina Poladjan

Anahid und Hrant sind jung, sehr jung und auf der Flucht. Hrant, der jüngere der beiden wird krank, fiebert und Anahid ist irgendwann gezwungen, ihren Bruder alleine zurückzulassen, eine Situation, die sich im Laufe der Geschichte noch einmal wiederholt. Darin steckt die Urangst eines jeden, verlassen zu werden. Aber braucht es dieses Verlassen-werden nicht, um autonom zu werden?

Um autonom zu werden, muss man selbst verlassen, ein aktiver Vorgang. Wenn einem das Autonom-werden aus der Zwangssituation des Verlassen-werdens gelingt, ist es ein Glück.

Wie viel will und soll man vom „Geheimnis Familie“ aufreissen, wenn man ahnt, dass es eine Wunde sein könnte, die sich niemals schliesst?

Das vermag ich nicht zu sagen. Nietzsche hat einmal den Satz geschrieben: „‚Wille zur Wahrheit‘ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“

In Ihrem Roman fragt Helene: „Was gibt es Schöneres und Wichtigeres als Bücher?“ Ich stelle die Frage an Sie!

Seit wann gibt es auf rhetorische Fragen eine Antwort? Ach richtig – im Roman lautet sie: „Ein blankgeputztes Gewehr.“

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.

Festivalprogramm 15. Thuner Literaturfestival 2020

Webseite der Autorin

Illustration © Lea Frei / leafrei.com

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Planetenschreiber des Merkur zu werden. Ich wusste kaum etwas über diesen ziemlich abgelegenen Ort des Sonnensystems und hätte auch höflich abwinken können. Aber ich dachte, dass es vielleicht ganz gut wäre, ein halbes Jahr mit festen Bezügen auf der hiesigen Orbitalstation zuzubringen, um mit meinem Roman voranzukommen. Keine Ablenkung, nur die Konzentration auf das Wesentliche. Schreibtisch mit Aussicht auf das Universum. Und der Blick aus dem Panoramafenster meiner Planetenschreiberwohnung ist wirklich beeindruckend. Die Sonne schwebt riesengroß über der Sichel des Merkur. Aber spätestens nach einer Woche kennt man das natürlich und hat sich dran gewöhnt.

Die Station ist klein. Es gibt ein Café und zwei, drei Läden für die alltäglichen Dinge. Einmal in der Woche kommt ein Service-Techniker vorbei und sieht nach dem Rechten. Und jeden Monat dockt ein Versorgungsschiff von der Erde an und bringt alles Notwendige für die Besatzung und die Siedler unten auf dem Planeten. Bei denen hätte ich mich als Planetenschreiber auch einquartieren können, aber sie leben am Boden eines Kraters am nördlichen Merkurpol, der ganzjährig im Schatten liegt. Logisch – im Sonnenlicht herrschen schlappe zwei- bis vierhundert Grad oder noch mehr. Da zieht man sich lieber in den Schatten zurück, auch wenn es dort mit minus zweihundert Grad ziemlich frisch ist.

Ja, so ist das – auf dem Merkur ist es unerträglich heiß, es sei denn, es ist unerträglich kalt. Die Probleme habe ich hier oben nicht. Die Station ist immer bestens temperiert, da kann ich mich nicht beschweren. Nimmt man das beeindruckende Sonne-Merkur-Panorama hinzu, auf das ich von meinem Schreibtisch aus schaue, sollte es mit der Arbeit an meinem Roman also eigentlich gut vorangehen. Aber irgendwie bringe ich nichts Gescheites zu Papier, um diese uralte Redewendung zu benutzen.

Irgendetwas lähmt mich, und allmählich habe ich die Befürchtung, es könnte der Merkur selbst sein. Auf ihm zieht sich alles unsäglich in die Länge. Ein Merkurtag dauert, wie ich inzwischen herausgefunden habe, knapp 176 Erdentage. Klar, dass man da zu nichts kommt. Man denkt immer, ich habe ja noch genug Zeit bis zum Abend, also mache ich erstmal was anderes oder gar nichts. Und eigentlich gibt es in der Station ja auch mehr oder weniger nichts zu tun. Man muss nicht putzen oder lüften oder den Rasen mähen. Und man kann auch nicht vor die Tür gehen, um mal eben frische Luft zu schnappen. Ich denke immer, das mit dem Schreiben kommt schon noch. Du musst dich erstmal akklimatisieren. Und genaugenommen werden von einem Planetenschreiber ja auch keine Wunderdinge erwartet. Der Posten ist hauptsächlich eine Art Belohnung dafür, dass wir Autoren das Fähnchen der Literatur im Universum wacker hochhalten. Gelegentlich ein kleines Stimmungsbild – ein Bericht, wie es in den Preisstatuten heißt –, das reicht schon. Und ab und an soll man sich bei öffentlichen Anlässen blicken lassen. Aber da die Anzahl solcher Anlässe auf dem Merkur sehr überschaubar ist, fällt dieser zweite Punkt kaum ins Gewicht.

Um aber doch ein kleines bisschen am sozialen Merkurleben teilzunehmen, bin ich gestern mit dem Servicetechniker runter auf die Planetenoberfläche geflogen. Ich hatte die Idee, Kontakt mit der Forschungsstation aufzunehmen, die es dort unten seit den fünfziger Jahren gibt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was die Wissenschaftler da eigentlich machen und rauszufinden hoffen. Aber ich brauche Stoff für meinen ersten Bericht, da angesichts des Schneckentempos, mit dem die Sonne über den Merkurhimmel kriecht, mit astronomischen Beobachtungen oder kosmischen Naturbeschreibungen nicht allzu viele Seiten zu füllen sind.

Der Flug hinunter zur Planetenoberfläche war auch wirklich lohnenswert. Der Servicetechniker war nämlich, wie sich herausstellte, ein begeisterter und versierter Hobbypilot und ließ es sich nicht nehmen, mit mir eine Runde über die Nordhemisphäre zu drehen, um mir ein paar der spektakulärsten Landschaftsformationen aus der Nähe zu zeigen. Er ist ein überzeugter Merkurianer, der schon seit zwanzig Jahren hier lebt. Er erklärte mir mit lokalpatriotischem Stolz, dass sämtliche Krater des Merkur nach Künstlern, Musikern, Malern und Schriftstellern benannt seien, ob ich das schon gewusst hätte? Hatte ich nicht. Und ich wunderte mich darüber: ein Planet voller Kulturschaffender – wer hätte das gedacht! Das bedeutete ja sogar, dass ich als Schriftsteller im Prinzip die Chance hatte, zum Namensgeber für einen Merkurkrater zu werden – zumal als amtierender Planetenschreiber! Allerdings mussten die Taufpaten für die Krater seit fünfzig Jahren tot und künstlerisch einhellig anerkannt sein. Ich war mir nicht sicher, ob mir das je gelingen würde. Zu sterben war dabei nicht das Problem, aber vielleicht die künstlerische Reputation, dachte ich und hatte sofort Gewissensbisse, weil ich mit meinem Roman nicht vorankam.

Wir drehten eine Runde über Tschechow, Ibsen, Rilke und Hemmingway. Das waren ziemlich gewaltige Krater von knapp hundert bis zweihundert Kilometern Durchmesser. Die kleineren hatten nicht so prominente Namensgeber. Jedenfalls hatte ich noch nie etwas von dem chinesischen Maler Qi Baishi, der maltesischen Bildhauerin Maria de Dominici oder dem isländischen Dichter Snorri Sturluson gehört. Die hatten Krater im Zehn-Kilometer-Format ergattert. Es gab aber auch solche mit weniger als einem Kilometer Durchmesser oder auch nur hundert oder zehn Metern. Das beruhigte mich etwas. Für so einen Mikrokrater, dachte ich, würde es bei mir ja vielleicht doch reichen.

Zurück zum nördlichen Pol flogen wir zuerst entlang einer enormen Abbruchkante mit einem Höhenunterschied von zwei Kilometern und danach über Caloris Planitia, einer riesigen kreisrunden, von Gebirgswällen umgebenen Ebene. Dahinter begannen die etwas gemäßigteren nördlichen Breiten mit ihren Permaschattengebieten, in denen man herumlaufen kann, ohne dass es ist, als würde man auf glühenden Kohlen wandeln. Dort hatte man die Forschungsstation, die ich besuchen wollte, unter einem großen Dach aus Glaswaben errichtet. Sie lag am Rand von Merkur-City, einer kleineren Ansammlung ganz ähnlicher Habitate, die ein Hotel, Wohnhäuser und Geschäfte, eine Kirche und den Sitz irgendwelcher Lithium- und Rubidiumexportfirmen beherbergten. Der Ort stand hartnäckig in dem Ruf, die langweiligste Planetenmetropole des Sonnensystems zu sein.

Die Wissenschaftler freuten sich über meinen Besuch. Wahrscheinlich hofften sie, dass ich als Planetenschreiber ihre Arbeit gebührend würdigen würde. Sie hatten nämlich gerade, wie sie mir mit diesem typischen kindlichen Wissenschaftlerstolz mitteilten, eine sensationelle Entdeckung gemacht! Sie führten mich in ihr zentrales Labor, das allerdings einen etwas in die Jahre gekommenen, technisch rückständigen Eindruck machte. Man spürte, dass der Merkur als Forschungsstandort nicht gerade der Nabel der wissenschaftlichen Welt war. Allerdings hatte die Entdeckung, die mir die Forscher präsentierten, mit moderner Technik auch nicht besonders viel zu tun. Sie öffneten einen gekühlten Tresor, holten eine Spezialflasche mit einer klaren Flüssigkeit heraus und stellten sie ehrfürchtig auf den Tisch. Ich würde nie darauf kommen, was das sei, meinten sie.
„Wasser?“, überlegte ich. Das enttäuschte sie. Wahrscheinlich hatten sie angenommen, ich würde als Schriftsteller zuerst an irgendeine hochprozentige Innovation denken. Es war aber wirklich Wasser, wie sie schließlich einräumten, doch ist Wasser für Wissenschaftler natürlich nicht gleich Wasser. Dieses hier, meinten sie und machten eine längere Spannungspause, um mir Zeit zu geben, mich auf die nun kommende Sensation einzustellen, dieses hier sei das älteste Wasser des Sonnensystems!
So, so, dachte ich. Und nachdem sie ihre Bombe nun hatten platzen lassen, verrieten sie mir auch die zugehörigen Details: Sie hatten den Merkurboden systematisch angebohrt und in der Tiefe mit Ultraschallsonden nach Eis gesucht. In einem kleinen Permaschattenkrater mit dem seltsamen Namen Lady Gaga waren sie schließlich fündig geworden. Fünfzehn Meter unter der Oberfläche stießen sie auf einen Eisflöz und entnahmen ihm eine Probe. Deren chemische Analyse ergab für den Flöz ein Alter von sagenhaften vier Milliarden Jahren. Damit schlugen sie vergleichbare Eisablagerungen auf dem Mond oder Enceladus um ein paar hundert Millionen Jahre.
Dieses Wasser, gerieten meine Gastgeber ins Schwärmen, stammte aus der absoluten Frühzeit des Sonnensystems, gleichsam aus seiner Embryonalphase, als noch Abermilliarden von Staub-, Fels-, und Eisbrocken um die Sonne schwirrten und durch permanente Kollisionen zu den heutigen Planeten verklumpten.
Und nachdem sie mir das alles erklärt hatten, öffneten sie die Flasche und gossen mir ein Glas von dem uralten Wasser ein. Das vermutlich älteste Getränk, das ich vordem zu mir genommen hatte, war ein ziemlich schwerer Château-Mao, Jahrgang ’84, gewesen, den mein Großvater zu seinem Hundertsten entkorkt hatte. Ich überlegte eine Sekunde, ob vier Milliarden Jahre altes Wasser überhaupt noch genießbar war, aber die Wissenschaftler machten nicht den Eindruck, als wollten sie mich vergiften. Ich trank also artig das Glas aus und nickte. Das Wasser hatte geschmeckt wie – Wasser. Erstaunlich, dachte ich, woran Wissenschaftler so ihre Freude haben.

Auf dem Rückweg zum Landeplatz des Shuttles kam mir Pastor Hsien von den Solaren Unitariern entgegen. Offenbar hatte sich mein Ausflug nach Merkur-City inzwischen herumgesprochen. Hier passiert so wenig, dass sogar ein Schriftsteller Aufmerksamkeit erregt. Pastor Hsien sprach mich an und lud mich ein, am Wochenende zu einem Gottesdienst zu kommen. Mir war nicht wohl dabei, und ich gab zu, nicht allzu viel über die Solaren Unitarier und überhaupt über die verschiedenen Glaubensströmungen im Sonnensystem zu wissen.
Pastor Hsien nickte nachsichtig, er war ein sanftmütiger, freundlicher Mann – ganz alte chinesische Schule. Die Solaren Unitarier, erklärte er mir, kämpften gegen den religiösen Geozentrismus der meisten anderen Konfessionen und Religionen. Es wäre doch purer Zufall, meinte er, dass Jesus auf der Erde erschienen sei. Würde er heutzutage sein Erlösungswerk verrichten, könnte er dies im gesamten Sonnensystem tun. Die bescheidenen Verhältnisse hier auf dem Merkur würden ja viel besser zu dem ärmlichen Stall passen, in dem Jesus einst geboren worden sei, als die Paläste auf dem Mars oder die Ballonbordelle der Venus. Und schon gar nicht könne Gott gewollt haben, dass sich das gesamte Sonnensystem bei den christlichen Festtagen nach dem Rhythmus der Erde zu richten habe. Da ein Merkurjahr nur 88 Erdentage dauerte, könnte man hier also rund alle drei Monate Weihnachten feiern, was Pastor Hsien sehr schön fand. Der Gedanke wurde von den Vertretern der römisch-katholischen Kurie und den meisten protestantischen Strömungen aber regelmäßig als lächerlich abgetan, und das ärgerte Pastor Hsien. Bei Ostern wiederum stellte sich das Problem völlig anders dar. Das irdische Ostern fand stets am Wochenende nach dem ersten Frühlingsvollmond statt. Nun hatten aber weder Merkur noch Venus einen Mond, der Mars hingegen zwei, und bei den äußeren Planeten waren nicht diese selbst, sondern die Monde bewohnt, was die Situation für eine astronomische Berechnung des Osterdatums gleichsam auf den Kopf stellte. Und als wäre das alles nicht schon kompliziert genug (ich verstand es wirklich nicht), gab es ja noch die vielen bewohnten Kleinplaneten im Asteroiden- und dem fernen Kuipergürtel, die man bei der Suche nach ihrer religiösen Identität doch auch nicht allein lassen durfte, fand Pastor Hsien.
Es gab für ihn und die Solaren Unitarier also alle Hände voll zu tun, und ich versprach ihm, mal bei einem Gottesdienst vorbeizuschauen. Besonders beliebt, hatte ich gehört, waren seine gelegentlichen Orbitalgottesdienste, die er freischwebend in einer Umlaufbahn abhielt, um darauf aufmerksam zu machen, dass es in letzter Konsequenz ja nicht nur darum ging, die Planeten in ein religiöses Gesamtsystem zu integrieren, sondern auch den Weltraum, ja das Universum als Ganzes. Das war Pastor Hsiens Mission.

Zurück auf der Orbitalstation nahm ich erstmal ein langes Sonnenbad. Der Ausflug auf die Merkuroberfläche hatte mir gefallen, aber auf Dauer, das hatte ich auch gespürt, wäre ein Leben im Permaschatten dort unten nichts für mich. Vielleicht würden die Pläne für einen im Orbit stationierten Reflektor ja einmal umgesetzt und Merkur-City durch diesen wie von einer künstlichen Sonne beleuchtet. Die merkurianischen Parlamentsabgeordneten auf Europa forderten das immer mal wieder, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Mittel dafür von der ewig zerstrittenen Planetaren Union jemals bewilligt werden würden. Die Sache war einfach zu teuer und Merkur-City zu unbedeutend.

Ein paar Tage später dockte das Versorgungsschiff von der Erde an. Ich hatte es schon längere Zeit im Teleskop wie einen heller werdenden Stern auf die Station zukommen sehen und freute mich auf die Abwechslung. Es würde zwei oder drei Tage dauern, die gesamte Ladung zu löschen und auf die Planetenoberfläche zu transportieren. Die Besatzung würde das Café beleben, und vielleicht, so dachte ich, ergab sich ab und an ein nettes Gespräch bei einem Bier. Insbesondere stellte sich heraus, dass das Schiff eine Co-Pilotin hatte. Sie war Mitte dreißig und sah ziemlich gut aus, wie ich fand. Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob sich Pilotinnen für Planetenschreiber interessieren, aber es sprach ja nichts dagegen, mein Glück bei ihr zu versuchen. Ich stellte mich ihr vor, sie hieß Sequoia. Dass es so etwas wie Planetenschreiber gab, hatte sie noch nie gehört, aber sie fand es ganz interessant.
„Und was schreiben Sie so?“, erkundigte sie sich.
„Hauptsächlich arbeite ich an einem Roman“, behauptete ich, obwohl ich in meinen ersten paar Wochen als Merkurschreiber mit diesem Projekt noch nicht eine einzige Seite weitergekommen war. „Aber eben auch über den Merkur. Was hier so läuft, meine ich, Frachtlieferungen zum Beispiel. Ist doch interessant. Und demnächst mache ich bei einem Orbitalgottesdienst mit. Ach ja, und neulich haben Wissenschaftler auf dem Merkur die ältesten Wasservorkommen des Sonnensystems entdeckt. Also wie Sie sehen, ist hier ne Menge los. Da kommt man aus dem Schreiben gar nicht raus.“
„Und der Roman, worum geht’s da?“
„Nichts Besonderes. Also ich meine, worum kann’s schon gehen heutzutage? Das Leben und so. Alles in allem bin ich da noch mehr in der Findungsphase. Ein Thema muss reifen. Und wenn man es dann hat, dann läuft es auf einmal wie am Schnürchen … Sie kommen sicher viel rum, nehme ich an.“
„Ja, schon“, sagte sie und erzählte mir, dass sie eine Zeit lang sogar auf der berühmten Neptunroute geflogen war, die aber auf Dauer nicht so spektakulär wäre, wie sich das die meisten wohl vorstellten. Klar, es gäbe da schon eine Menge zu sehen, den Asteroidengürtel, die Ringe des Saturns, den einen oder anderen Kometen, aber man sei eben auch Ewigkeiten unterwegs, und zwischen den einzelnen Highlights tue sich nun mal nicht viel. Und dann war man bei Frachtflügen ja auch immer nur kurz vor Ort und musste wegen des Kostendrucks nach dem Löschen der Ladung gleich wieder weiter.
„Das reicht dann gerade mal so eben für eine Stippvisite bei den Kryogeysiren auf Triton“, meinte sie, „und wenn man Pech hat, sind die ausgerechnet dann inaktiv und man verpasst einen Ausbruch.“
Den würde sie bei mir nicht verpassen, dachte ich spontan, aber ich war mir nicht sicher, ob ich bei ihr Chancen hatte und versuchen sollte, mit ihr anzubändeln. Je nachdem, was man von einer Beziehung erwartet, kann das Herumziehen ja Fluch und Segen sein. Ich hielt es aber für möglich, dass sie die Ungebundenheit mochte, sonst wäre sie vielleicht nicht Frachtpilotin geworden. Wir Kinder des Sonnensystems haben wegen der großen Entfernungen einen Lebensstil wiederbelebt, den es auf der Erde schon lange nicht mehr gibt: den des Vagabunden. Jedenfalls sah ich mich so, und vielleicht war sie es ja auch.
Ich hatte die Idee, sie mit den einzigen literarischen Arbeiten zu beeindrucken, die mir in meiner Zeit als Merkurschreiber bisher geglückt waren.
„Ich habe übrigens ein paar Merkurgedichte geschrieben“, sagte ich.
„Merkurgedichte?“
„Limericks, genauer gesagt. Ich bin an sich kein Lyriker, aber Limericks liegen mir. Die flutschen mir immer flott aus der Feder. Und der Merkur hat mich inspiriert. Wussten Sie, dass es dort unten entweder unerträglich heiß ist oder unerträglich kalt?“
Sie nickte neugierig, und ich ließ mich nicht lange bitten: „Erster Merkurlimerick:

War mal ein Mann in der flirrenden Wüste,
der wegen der irren Hitze düste,
auf den Merkur,
doch empfand er da nur,
die heftigsten Rückkehrgelüste.“

Sie lachte, was mich ermutigte, fortzufahren: „Zweiter Merkurlimerick:

Dachte ein Mann in der Arktis,
Ich bekomme hier, was ein Infarkt ist,
Auf dem Merkur werde ich älter,
doch war es da noch viel kälter,
so dass sein Raumschiff wieder am Nordpol geparkt ist.“

„Da kommt der Merkur ja nicht gerade gut weg“, meinte sie.
„Stimmt schon“, gab ich zu. „Dabei mag ich ihn inzwischen ganz gern.“
„Und? Gibt’s dazu auch einen Limerick.“
Ich hatte auf die Frage gehofft, zögerte aber einen Moment. Der Limerick war ein wenig heikel, doch dann nickte ich und fuhr fort: „Dritter Merkurlimerick:

Sehr kalt ist es im Permaschatten,
Doch gibt’s ja gute Wärmematten.
So kommt‘s, dass auch auf dem Merkur
Mit Blick auf die Sterne pur,
Die Pärchen sich gern begatten.“

„Na, dann …“, sagte sie.

Im Feldstecher ist ihr Frachtschiff nur noch ein kleiner heller Punkt. Ihre nächste Station ist der Mars. Da will sie zwei Wochen Urlaub machen und auf dem Olympus Mons rumkraxeln. Ich habe sie nicht gefragt, mit wem. Ich muss hier ja sowieso die Stellung halten. Ich fliege jetzt regelmäßig zur Oberfläche hinunter und spiele mit Pastor Hsien Schach. Er ist ein ausgefuchster Stratege, und ich verliere immer.
Sein Orbitalgottesdienst war ein echtes Erlebnis. Bei einem gleißenden Sonnenaufgang schwebten wir in unseren Raumanzügen über dem Merkur, und durch die Helmlautsprecher spielte Pastor Hsien nach seiner Predigt den Anfang von „Also sprach Zarathustra“. Er hat ein Händchen für dramatische Inszenierungen und besitzt sogar, wie man daran sieht, religiösen Humor. Aber ob ich Mitglied bei den Solaren Unitariern werden möchte, hat er mich noch nicht gefragt. Er ahnt wohl, dass ich bei aller Sympathie soweit nicht gehen würde.

Gestern habe ich bemerkt, dass die Sonne größer geworden ist. Es geschieht so wenig hier oben, dass es mir aufgefallen ist. Es kommt daher, habe ich mir erklären lassen, dass der Abstand zwischen Merkur und Sonne bei einem Umlauf stark schwankt. Ich notiere das, weil ich das Protokollieren solcher Merkurbesonderheiten inzwischen als meine Aufgabe ansehe. Manchmal, wenn auch nicht mehr sehr oft, denke ich noch an meinen Roman, den ich hier eigentlich hatte schreiben wollen. In der römischen Mythologie ist Merkur der Götterbote, und ich hatte irgendwie gehofft, auch mir würde hier eine wichtige Botschaft einfallen – es musste ja nicht gleich eine göttliche sein. Inzwischen finde ich es nicht mehr tragisch, dass ich diese Botschaft noch nicht gefunden habe und wohl auch nicht finden werde. Es ist auch so ganz schön, Planetenschreiber zu sein. Und in drei Wochen, was in Merkurzeit bedeutet: heute Abend, kommt das nächste Frachtschiff.

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, „Freigang“, erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt. Mit seinem Roman «Der Sommer meiner Mutter» steht Ulrich Woelk auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
«Planetenschreiber 1: Merkur» ist im Berliner Hybriden-Verlag als Künstleredition in einer sehr kleinen Auflage mit Zeichnungen von Hartmut Andryczuk erschienen. Wenn Sie neugierig sind, können Sie sich auf der Seite des Hybriden-Verlags umsehen. www.hybriden-verlag.de

literaturblatt.ch über «Der Sommer meiner Mutter» (2019)

literaturblatt.ch über «Nacht der Engel» (2017)

Autorenprotrait © Bettina Keller

Eva Schmidt «Die untalentierte Lügnerin», Jung und Jung

Eva Schmidt erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ständig das Gefühl des Ausgeschlossenseins mit sich herumträgt. Maren ist kaum zwanzig, als sie nach einem gescheiterten Schauspielstudium zurück in ihr Elternhaus kommt und doch nicht in ein altes Leben zurückkehren will, nicht in die Lügen in der Familie, nicht ins feine Netz ihrer eigenen Lügen. 

Als Eva Schmidt mit ihrem letzten Roman «Ein langes Jahr» 2016 nach zwei Jahrzehnten zurück auf der Literaturbühne erschien und sogleich für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, war auch ich begeistert von ihrem neuen Auftritt. Wer von einem Roman beeindruckt war und mit viel Erwartung einen neuen liest, kann leicht enttäuscht oder auf dem falschen Fuss erwischt werden. Nicht so bei Eva Schmidt. Die Vorarlbergerin, die sich als 67jährige auf eindrücklichste in das Leben einer 20jährigen in der Gegenwart versetzen kann, beschreibt fein und ziseliert, verliert sich nicht in psychologischen Deutungen und lässt Leben ganz nah passieren.

Die einen haben mit zwanzig einen Plan. Andere sind ganz offen oder suchen noch. Maren musste ihren Plan aufgeben. Nicht so sehr weil sie als Schauspielerin nicht getaugt hätte, sondern weil sich Probleme einschlichen, die sich auf ihre Gesundheit auswirkten; Essstörungen. «Die untalentierte Lügnerin» ist aber kein Roman über Essstörungen. Maren kommt zurück zu einer Familie, die sich schon seit Jahren im Zustand des Zerfalls befindet; Vater und Mutter zerstritten und trennten sich, der Vater lebt weit weg, die Mutter heiratet wieder, mehr die Sicherheit und das Geld als den Mann, Marens Stiefvater lebt ein Doppelleben, ihr älterer Bruder hat sich nach Finnland abgesetzt und ihr jüngerer Halbbruder studiert in der Ferne den Waldrapp. Obwohl Eva Schmidt das Familiengeflecht bis in Kleinigkeiten schildert, obwohl sie deutlich macht, wie vielschichtig und verknotet dieses Gefüge ist, ist «Die untalentierte Lügnerin» auch kein Familienroman, kein Soziogramm. Einzelne Figuren, wie der Vater und Jazzmusiker in der Hauptstadt, bleiben skizzenhaft. Eva Schmidt bemüht sich viel mehr um die Wirkung dieser Personen in Marens Leben.

Maren ist weder für alles offen noch auf der Suche nach neuen Türen. Marens Leben geschieht. Sie knüpft zum einen an das Leben zuvor, an den DJ Max, der sie einmal hängen liess, der sie aber spüren lässt, etwas zu sein, auch ohne Absicht, ohne Plan. Sie lernt Alex kennen, einen unglücklichen und kranken Schauspieler und Lisa, die in der Bar serviert. Sie geht Vera, ihrer Mutter aus dem Weg, die der ganzen Welt zu verstehen gibt, dass nichts so funktioniert, wie es sein müsste und erfährt in der Wohnung ihres reichen Stiefvaters Robert, dass auch dessen Leben nicht das ist, wonach es aussieht. Maren prallt am Leben ab, findet keinen Tritt, spürt keine Wirkung. Bis sie einen neuen Mann kennenlernt. Bis sie merkt, nichts mehr darstellen zu müssen. Bis sie sich auf einer Reise in die Hauptstadt ihren eigenen Lügen stellt.

Eva Schmidts Bücher sind kein Spektakel. Sie sind ruhig erzählt, von fast unterkühlter Skepsis. Eva Schmidts Erzählton ist der einer Beobachtenden, unaufdringlich und dezent. Hinter dem Geschriebenen weiss ich viel mehr, nämlich das, was sich erschliesst, wenn man über die verschiedenen Lesarten dieses Buches zu diskutieren beginnt.

© Lisa Mathis

Eva Schmidt, geboren 1952, lebt in Bregenz, Österreich, hat neben Erzählungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften drei Bücher veröffentlicht, zuletzt »Zwischen der Zeit« (1997). Diverse Stipendien und Literaturpreise, u.a. Nachwuchspreis zum Bremer Literaturpreis (1986), Rauriser Literaturpreis (1986), Hermann-Hesse-Förderpreis (1988), Nicolas-Born-Preis (1989). »Ein langes Jahr« 82016) war ihr erstes Buch seit fast 20 Jahren.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ulrich Woelk «Der Sommer meiner Mutter», C. H. Beck

Im Juli 1969 stecken die Amerikaner ihre Fahne in den staubigen Sand des Mondes. Die ganze Welt schaut zu. In jenem Sommer, «dem Sommer meiner Mutter» wird der Mond für den elfjährigen Tobias zum Sinnbild totaler Veränderung, denn in jener Nacht implodiert sein Weltbild, wird eine grosse Schuld geboren.

Im Sommer 1969 wankt Deutschland in den Nachbeben der Hippiezeit, der sexuellen Befreiung, mehr oder weniger unterschwelliger Rebellion und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. In diesem wirren Sommer findet der elfjährige Tobias in seinen neuen Nachbarn und der um ein Jahr älteren Rosa, jene erste Liebe, die sich unweigerlich und unauslöschlich ins Bewusstsein eines jeden brennt.

45 Jahre später ist aus Tobias ein Astrophysiker geworden, der an der Rosetta-Mission auf den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko mitarbeitet. Rosa und er hatten sich im Sommer 1969 gefunden und wieder verloren. So wie eine Sonde und ein Komet. Rosa wurde Schriftstellerin. Und der Zufall wollte es, dass Tobias eines Tages bei einer Lesung während der Frankfurter Buchmesse im Publikum der Schriftstellerin sitzt und schlussendlich mit der Bitte um eine Signatur vor ihr steht.

Tobias wäschst in einem beschaulichen Quartier auf, am Stadtrand von Köln. Sein Vater leitender Angestellter, seine Mutter Hausfrau. Zu Beginn des einen Sommers, als die Jeans in Köln landete, ziehen in das leer gewordene Haus gleich in der Nachbarschaft Herr und Frau Leinhard mit ihrer zwölfjährigen Tochter Rosa ein. Er Professor für Philosophie mit langen Haaren, sie Übersetzerin mit Batikhemd und Jeans. Leinhards sind Kommunisten, glauben an die baldige Befreiung des Kapitalismus und aller anderen Fesseln. Rosa trägt ihren Namen nach der Kämpferin Rosa Luxemburg. Tobias Vater glaubt an die Möglichkeiten der Technik und die Wirksamkeit von E605 im Kampf Läuse und anderes Ungeziefer im Garten. Und Tobias Mutter?

Während Apollo 11 sich anschickt den erdnahen Trabanten für die Menschheit zu annektieren, wird aus der Begegnung von Rosa und Tobias eine junge und unsichere Liebe. Rosa, neu in der Stadt und noch nicht sozialisiert, und der eigenbrötlerische Tobias hören zusammen die Schallplatten der Familie Leinhard; Doors, Bob Dylan, Janis Joplin. Eine ganz andere Welt als das, was in der ZDF-Hitparade über die Mattscheibe flimmert. Rosa wird zum Schlüssel in eine andere, fremde Welt. Auch in die Welt der Liebe, der Berührungen, der Entdeckungen eines Sommers, die seine Welt bisher in seinen Grundfesten erschüttert.

Die beiden Familien freunden sich aller Gegensätze zum Trotz an. Man lädt sich gegenseitig ein, besucht die Kirmes, die Mütter mit den Kindern gar eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Während sich die Eltern annähern, gibt es genügend Raum für Rosa und Tobias, dem nahe zu kommen, was Erwachsensein bedeutet; «Es» zu tun. Tobias, gleichermassen angezogen wie verunsichert, sieht die Welt mit andern Augen. Auch das fragile (Un-) Gleichgewicht seiner Eltern, die Fassaden der Erwachsenen. Er verliert mehrfach die Unschuld – und auch seine Familie.

«Der Sommer meiner Mutter» beginnt mit einem Paukenschlag – und der ganze Roman bebt weiter im Aneinandereiben von tektonischen Platten. Scheinbar leicht erzählt beschriebt der Roman die harte Landung auf dem Planet Erde, die historische Bruchkante zwischen dem biederen Nachkriegsdeutschland und dem Aufbrechen in neue Welten.

Ein Mailinterview mit Ulrich Woelk:

Ich erinnere mich gut, an die gestatteten und illegalen Stunden vor dem Fernseher, als sich Apollo 11 auf seine Mission zur Eroberung des Mondes machte. Damals war ich sieben. So wie zwei Jahre später die Niederlage von Muhammed Ali gegen Joe Frazier. So wie viele Erzählungen beginnen mit „Damals, als“. „The Eagle has landed“, meldete Armstrong am 20. Juli 1969. Aber in Tobias Familie riss ein unsichtbares Riff ein nicht wieder zu verschliessendes Loch im Rumpf seiner Familie. Trotzdem schildern sie nicht die Geschichte des Opfers. Aber die Geschichte von Schuld. Ist Schuld unheilbar?

Schuld bleibt. Man kann, wenn man schuldig geworden ist, nur auf Vergebung hoffen, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Was meinen Roman angeht, muss man allerdings hinzufügen, dass sich mein Erzähler schuldig fühlt für etwas, wofür er nicht verantwortlich ist. Er ist ja noch viel zu jung, als die Dinge geschehen, die schließlich so traurig enden. Er ist elf, als sich seine Mutter das Leben nimmt, und dass er in diesem Drama eine so entscheidende Rolle spielt, das ist … ja, was ist es eigentlich? Zufall, Schicksal, ein unglückliches Zusammenspiel verschiedener Umstände? Ich will das gar nicht entscheiden. Als Autor ist es mein Ziel, meine Geschichten zu erzählen, aber nicht zu erklären. Das Leben erklärt uns ja auch nicht, warum dieses oder jenes geschieht. Wir müssen selbst dahinterkommen. 

„Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit“, mahnt Tobias Vater seinen Jungen. Ausgerechnet er, der seinen Jungen immer zur Wahrheit mahnt. „Der Sommer der Mutter“ ist der Roman einer Entzauberung. Ist Schreiben der Kampf um die Rückkehr der Verzauberung?

Nein, das denke ich nicht. Für das Schreiben – mein Schreiben – ist gerade die Erfahrung der Entzauberung fundamental. Aber ich fand es schön, für „Der Sommer meiner Mutter“ in die späten Sechzigerjahre und meine Jugend zurückzukehren. Das war beim Schreiben manchmal eigenartig. Man entwickelt bei einer so intensiven Beschäftigung mit einer Zeit automatisch eine Art von Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der einstigen Kindheit und Jugend. Der Unschuld. Dem Leben ohne Verantwortung. Da denkt man dann schon mal schnell, diese Zeit war unbeschwerter als unsere heutige Welt der Globalisierung mit ihren Flüchtlingsdramen, kulturellen Verwerfungen und terroristischen Bedrohungen. Aber das stimmt nicht. Die Sechziger Jahre waren die Zeit des kalten Krieges und der Angst vor einem neuen heissen oder atomaren Krieg. Damals hat man die politische Lage als genauso undurchschaubar und bedrohlich empfunden wie heute. Und dennoch bildet sich um diese Jahre beim Schreiben manchmal so eine gewisse Patina von temporaler Heimat. Aber wie gesagt: Als Autor weiss ich immer, dass die Rückkehr in dieses „Paradies“ unmöglich ist.

Der Roman beginnt mit dem Satz: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Tobias schreibt die Geschichte seiner Mutter mehr als 45 Jahre später, nachdem er seine erste grosse Liebe Anna wiedersieht. Der Roman ist keine Wiedergutmachung. Aber nebst vielen anderen Facetten auch die Geschichte einer Frau, die an der „Wahrheit“ zerbricht, nicht zuletzt an der Schonungslosigkeit ihres einzigen Kindes. Ist dieses Buch auch ein „Grabstein“?

Aber nein, für wen denn? Zunächst einmal: Es ist nicht autobiographisch. Eine Verbindung zu meiner eigenen Mutter ist aber, dass diese viel zu früh gestorben ist. Da war ich noch zu jung, mich zu fragen, wer ist meine Mutter eigentlich? Solche Fragen stellt man sich erst später, aber da lebte meine Mutter nicht mehr. Was ich sicher glaube, ist, dass sie Fähigkeiten und Begabungen hatte, die sie nie verwirklicht hat, und das ist es, was sie mit meiner Romanheldin verbindet. Einmal hat sie Noten aufs Klavier gestellt und angefangen Mozart zu spielen. Da war ich völlig verblüfft, das hatte sie noch nie getan. Ich wusste gar nicht, dass sie das konnte. Wie es aber wirklich in ihr aussah, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Da kommt dann die Fantasie des Schriftstellers ins Spiel. Als Autor interessieren mich diese Mütter der sechziger Jahre sehr. Sie haben ihre Jugend und Sozialisation in den Fünfzigern erlebt, einer äußerst prüden, konservativen und konfliktscheuen Zeit mit einem ganz engen Rollenverständnis. Für die gesellschaftlichen Veränderungen in den späten sechziger Jahren waren sie im Grunde schon zu alt und zu etabliert. Umso spannender ist es, wie sie damit umgegangen sind. Sie standen ja in einem Konflikt. Es ging bei dem Ruf nach Freiheit ganz zentral auch um die Emanzipation der Frauen, und dem hätten sich diese Mütter und Frauen ja eigentlich sofort anschließen müssen. Das ist aber keineswegs geschehen, weil das ihr bisheriges Leben infrage gestellt hätte. Wie sollten sie sich also verhalten, und was konnten sie wagen?

Liebe als ein Geheimnis mit mehr als sieben Siegeln. Ihr Buch ist vieles, auch eine ganz zarte Liebesgeschichte, bei der sie er meisterlich schaffen, an sprachlichen Untiefen vorbeizusegeln. Wird eine Liebe, wie sie damals sein konnte, heute erst recht entzaubert? 1969 war alles möglich. Heute schlägt die Endlichkeit mit aller Heftigkeit zurück.

Das ist eine sehr schwierige Frage. War denn 1969 in der Liebe wirklich alles möglich? Zum Beispiel erotisch? Die sechziger Jahre waren die Zeit der sogenannten sexuellen Revolution, also dem gesellschaftspolitischen Ruf nach einer freieren Moral. In der Praxis, soviel wissen wir inzwischen, hat das aber meistens nicht besonders gut funktioniert, aber gerade das macht es erzählerisch reizvoll. Der Punkt ist ja: Das, was die sexuelle Befreiung wollte, war grundsätzlich richtig, nur konnten es selbst deren Befürworter damals nicht so ohne weiteres leben. Unsere Einstellung zur Sexualität ist nunmal kein Schalter, den man per Knopfdruck von gehemmt auf frei umstellen kann. Das ist ja viel tiefer in der Persönlichkeit verankert.
So gesehen sind die freiesten Figuren in meinem Roman – und das ja durchaus auch erotisch – die beiden Kinder. Für sie ist die Liebe noch in jeder Hinsicht wirklich geheimnisvoll. Sie nähern sich ihr, ohne zu wissen, wohin sie das führt. Vielleicht setzt Liebe immer ein gewisse Mass an Unwissen voraus – das könnte sein. Und je älter man wird, umso schwieriger wird es, sich darauf einzulassen. Daran hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren wohl nicht so viel geändert. Der Unterschied ist aber, dass wir heute sehr frei darin sind, unterschiedliche Erfahrungen zu machen. Das ging in der engen Welt der Sechziger nicht. Und daran scheitert die Mutter des Erzählers.

Ist Schreiben, ein Roman, ein Gedicht nicht der Start einer Sonde in die Unendlichkeit des Seins?

Das auf jeden Fall. Ich habe gerade eine E-Mail aus Australien bekommen. Ein Deutscher hat dort auf einem Markt für gebrauchte Bücher zwischen all den englischen Thriller-Paperbacks ein Exemplar meines Buches „Sternenklar“ entdeckt und gekauft. Wenn Bücher reden könnten, würde es mich wirklich interessieren, wie das dahin gekommen ist. Auf jeden Fall hat es dem Käufer sehr gut gefallen, und er hat mir diese E-Mail geschrieben. Und es muss ja nicht gleich Australien sein. Im Moment bekomme ich viele – zum Glück sehr erfreuliche – Rückmeldungen von Lesern von „Der Sommer meiner Mutter“. Wie weit und wohin die „Sonde“ dieses Romans noch reisen wird, weiß ich nicht. Ich weiss nur, sie ist unterwegs, und das ist ein gutes Gefühl.

Autorenprotrait © Bettina Keller

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, «Freigang», erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

Buchtrailer

Webseite des Autors

Rezension von «Nacht der Engel» von Ulrich Woelk auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau